Kapitel 1
42. Samstag, in der 9. Mondzählung:
„Das kann nicht sein!"
Das Messer in meinen Händen gefror in der Bewegung. Ich legte die Klinge neben die halb geschnittene Tomate.
„Das ist unfassbar!", dröhnte die Männerstimme aus dem Wohnzimmer.
Ich wischte meine Hände an der roten Schürze ab und ging sofort der Ursache nach. Ein flaues Gefühl beschlich meinen Magen. Was konnte Onkel Theo nur so aufgebracht haben? Hoffentlich war nicht doch etwas mit dem Auftrag für morgen schiefgelaufen.
„Das ist unmöglich!"
Mitten im Wohnzimmer stand er, in seinem Griff ein Brief, der unter dem Druck seiner Hände bereits zu knittern begann. Onkel Theo war völlig in seiner eigenen Welt, seine buschigen Augenbrauen nach unten gezogen.
„Was ist los?", fragte ich.
Sein ruheloser Blick zuckte zu mir. Er steckte mir den zerknautschten Brief zu wie eine Schatzkarte.
„Es ist so weit."
Ein Schauer krabbelte über meinen Rücken. Das Abendessen musste wohl warten. Meine Augen hefteten sich an den Brief, ein offizielles Schreiben von Alpha Fenrir:
„Nun steht nichts mehr zwischen uns und dem Silberblutrudel. Sie haben das letzte Land übernommen, das noch zwischen uns stand. Doch wir haben die stärksten Verbündeten: Das Eiskrallenrudel unter Alpha Eros kommt uns in dieser Stunde der Unsicherheit zu Hilfe.
Allen Kriegern, die mit aus dem Norden kommen ist der größte Respekt entgegenzubringen. Ich befehle allen Menschen am Tag des Angriffes das Haus nicht zu verlassen.
Morgen um 9 Uhr findet die Versammlung statt, in der alles weitere besprochen wird.
Alpha Fenrir"
Ein heißer Schock rannte durch meinen Körper. Es würde Krieg geben. Die Rudel würden gegeneinander kämpfen und nur eines würde übrig bleiben. Und noch bedrohlicher war die Ankunft des Eiskrallenwölfe. Kein einziger Mensch lebte dort oben im winterlichen Norden. Legenden rankten sich um das größte Rudel und dessen Herrscher.
Alpha Eros.
Theo raufte sich durch die angegrauten Haare.
„Was sollen wir nur tun?"
„Wir müssen uns vorbereiten", sagte ich und legte den Brief auf den Holztisch. „Silberblut darf nicht gewinnen", flüsterte ich.
Alpha Fenrir war ein guter Anführer. Unter ihm konnten wir friedlich zusammenleben.
Meistens.
Solange man sich an die Regeln hielt. Wir mussten wohl den Wölfen aus dem Norden vertrauen. Und das machte mir Angst.
„Aber zu welchem Preis. Alpha Eros wird seine Hilfe an Bedingungen geknüpft haben."
Daran gab es keine Zweifel. Alpha Eros war gnadenlos. Dass er sich einmischte, zeugte von der Gefahr, der wir bevor standen und von den Konsequenzen, die unweigerlich folgen würden.
Ich sank auf den Stuhl, während Onkel Theo wie eine unruhige Katze im Raum kreiste.
„Alpha Fenrir ist ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen."
Ich blickte auf.
„Er hatte keine Wahl", sagte ich aber ich wusste, dass er recht hatte.
Die Welt fiel gerade auseinander und niemand konnte sagen, wie sie sich in Zukunft wieder zusammensetzen würde. Im Moment wendete sich alles gegen uns. Silberblut hatte den letzten Widerstand der Menschen gewaltsam stillgelegt.
Ich fühlte ich machtlos, unbedeutend im Kampf der Wölfe. Und ich war es auch. So wie fast jeder andere Mensch.
Doch eigentlich war dies etwas Positives.
Onkel Theo musste nicht kämpfen, kein Mensch musste es. Wir hatten andere Aufgaben:
Landwirtschaft, Architektur, Erfindungen; alle Dinge, die nicht in der Natur der Werwölfe lag. Aber wer konnte schon Nein zu einer guten Suppe, einem gemütlichen Haus oder schönen Kleidern sagen.
So lebten wir in einer Symbiose. Die einen verteidigten, die anderen versorgten. Die wenigsten Wölfe lehnten das „verweichlichte", menschliche Leben ab, wie sie es nannten. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich so einer grimmigen Kreatur noch nie begegnet war.
Doch dies könnte sich ändern, sobald die Krieger von Eiskralle hier ankamen. Das Leben im Norden war unbarmherzig und das färbte wohl ab auf die Lebewesen, die ihn bewohnten; so sagte man.
„Ich habe mich schon gefragt, wieso Alpha Fenrir so schnell die Häuser fertig haben wollte", sagte Onkel Theo.
Er war der Bauherr hier in der Stadt, der Beste den es gab. Und ab und zu war ich seine Assistentin.
„Du meinst, sie sind für die Ankunft vom Eiskrallenrudel gedacht? Aber die Häuser stehen noch leer. Wir haben doch noch keine Möbel eingeräumt", sagte ich.
Onkel Theo war der Beste im Bauen. Planen war nicht seine Stärke. Seine Augen sprangen fast aus ihren Höhlen, als er sich an die Stirn fasste.
„Verflucht sei mein Kopf! Was sollen wir tun? Alpha Fenrir wird meinen Kopf verlangen!"
„Hast du etwa noch keine Aufträge geschrieben?", fragte ich verzweifelt.
Wenn ich ihn nicht an alles erinnerte, würde er noch vergessen zu atmen.
„Ich dachte es würden einfach neue Wölfe einziehen, die ihre eigenen Möbel mitbringen oder kaufen. Ich dachte..."
Seine Panik schien auf mich überzuspringen.
„Was machen wir jetzt?", fragte ich.
Der Respekt vor den Wölfen wandelte sich gerade in Angst. Das war kein gutes Zeichen.
„Ich weiß nicht...", erwiderte Onkel Theo.
Er hatte viele Freunde bei den Handwerkern. Doch keiner von ihnen würde es schaffen zwei Häuser über Nacht zu möblieren. Ich sah mich um. Ein lackierter Esstisch aus dunklem Holz mit sechs Stühlen, zwei braun gepolsterte Sitzmöglichkeiten vor dem Kamin und ein großes Regal mit Büchern.
„Wir improvisieren", antwortete ich.
„Was?"
Onkel Theo sah völlig verloren aus, als wären seine Gedanken schon bei der Bestrafung, die ihn morgen ereilen würde. Ich legte meine Kochschürze über die Sessel, an Essen war nicht mehr zu denken.
„Machen wir eine Bestandsaufnahme: Hier in diesem Haus sind zwei große Betten, zwei Kleiderkommoden, mein kleines Bücherregal, dein Schreibtisch mit Stuhl... Unsere Sachen hier sollten ausreichen, um zwei Häuser zu bestücken."
„Das ist Wahnsinn. Wo sollen wir dann schlafen?", fragte Onkel Theo.
„Ein neues Bett lässt sich zimmern, ein neuer Kopf nicht."
Er hing an den Möbeln, das wusste ich. Onkel Theo hatte viele von ihnen nach seinen eigenen Entwürfen anfertigen lassen. Nun war es Zeit, dass sich auch die Wölfe des Nordens an ihnen erfreuen konnten. Er nickte entschlossen.
„Wir müssen sofort anfangen. Ich hole die Lehrlinge, sie sollen alles herüberschaffen. Ich werde sofort neue Aufträge schreiben. Dies ist ein Notfall."
Jetzt hüpfte er wie ein Frosch auf Paarungssuche im Zimmer herum, bevor er meine Schultern packte.
„Ephilia, heute Nacht werden wir wohl sowieso keine Betten mehr brauchen. Du bist meine Assistentin. Unsere Kleider müssen aus den Schränken und die Skizzen und Andenken. Alles weg!"
Ich nickte vehement. Er schien völlig besessen und wer konnte es ihm verübeln.
Was würde ich nur tun, wenn Onkel Theo nicht mehr da war? Eine stille Trauer erwachte in meiner Brust, doch ich schob sie in die Ecke meiner Gedanken. Dafür war jetzt keine Zeit.
Noch war nichts verloren. Weder sein Kopf noch das Rudel.
„Auf geht's!"
42. Sonntag in der 9. Mondzählung:
Meine Augen fühlten sich völlig ausgetrocknet an.
Onkel Theo hatte sich wirklich selbst übertroffen. Er hatte den leeren Gebäuden innerhalb einer Nacht und mit sechs helfenden Händen frisches Leben eingehaucht. Trotzdem war es befremdlich mein eigenes Doppelbett mit frischen Laken dort stehen zu sehen. Irgendwer aus dem Eiskrallenrudel würde bald darin schlafen. Der Gedanke kratzte an meiner Seele.
Es hatte nicht geholfen, dass die Häuser abseits der Stadt nah am Wald standen. Alle Helfer hatten sich verabschiedet, um wenigstens noch einige Minuten Schlaf zu bekommen. Oder sie wollten es nicht riskieren schlecht vor dem Alpha dazustehen.
Ich lehnte meinen Kopf gegen den Besenstiel, mit dem ich jegliche Überreste der nächtlichen Aktion zusammengekehrt hatte. Den Mangel an Schlaf spürte ich deutlich in meinen Knochen und in meinen aufgescheuerten Knien, auf denen ich die Möbel poliert hatte.
Nur eine Sekunde...
„Ephilia!"
Meine Seele zuckte zusammen und ich riss die Augen auf. Der Besenstiel prallte zu Boden.
„Ich bin wach", murmelte ich und strich meine Strähnen aus dem Gesicht, die sich bei der Arbeit aus dem Dutt gelöst hatten.
Onkel Theo stand in der Tür, seine Augen weit aufgerissen. Ihm sah man kein Fünkchen Müdigkeit an.
„Beeil dich. Alpha Fenrir steht unten. Er will das Haus begutachten."
Was? Geschockt blickte ich aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen erhoben sich über dem Horizont und tauchten alles in rotes Licht.
Es war schon morgen?
„Verdammt", murmelte ich.
Meine weiße Bluse hatte sich trotz der Hosenträger aus der mausgrauen Stoffhose gelöst.
Sie eigneten sich besser zum Arbeiten als Kleider, waren aber wohl kaum angemessen für eine Begegnung mit Alpha Fenrir. Ich stopfte sie wieder hinein im kläglichen Versuch präsentabel auszusehen.
Meine Gedanken glitten zu meinem Zimmer zu Hause. Der einzige Inhalt, den ich zurückgelassen hatte, war meine Kiste an persönlichen Sachen und meine Kleider. Ich hatte alle ordentlich gefaltet und zusammengelegt. Vielleicht konnte ich ja darauf schlafen...
„Ephilia! Hör auf zu träumen und komm!"
Ich stieg die Holztreppen hinter Onkel Theo hinunter. Er öffnete die Tür nach draußen und mein Magen drehte sich um.
Nun kam der Moment der Wahrheit.
ΦΦΦ
Und, wie hat euch das erste Kapitel gefallen?
Wo wohnt die Katze?
Im Mietshaus
:)
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