Kapitel 1-3
Langsam wurde ihr in ihrem Anzug spürbar warm. Es war Zeit zu Prof zu gehen und sich dann umzuziehen. Die Nacht war anstrengender gewesen, als sie sich zugestehen wollte. Das Labor befand sich weiter hinten in der Basis. Zwar waren des Nachts viel weniger Menschen unterwegs als tagsüber, dennoch war der Weg ähnlich einem Spießrutenlauf für sie. Die Zeit ihrer Kindheit, in der man sie noch gemocht hatte, erschien ihr unendlich fern. Heutzutage sah man sie nur noch mit Widerwillen an. Selbst die ursprünglichen Bewohner Edens hielten nicht allzu viel von ihr, auch wenn sie sich davor hüteten, ihr das offen zu sagen. Der Einzige, der sich mit ihr abgab, war Prof – wie sie ihn nannte. Wobei sie sich zeitweise fragte, ob der alte Mann sie wirklich mochte oder nur wissenschaftlich interessant fand.
Der überschaubare Weg wollte kein Ende nehmen, aber dann sah sie die gewaltigen Stahltüren bereits vor sich. Prof war dafür bekannt, geradezu neurotisch zu sein, wenn es um die Sicherheit seiner Forschungseinrichtung ging. Wahrscheinlich befürchtete er jede Sekunde eine Invasion der Außerirdischen. Darum hatten nur wenige einen vollautorisierten Zugang zu diesem Bereich.
Dieses Mal musste sie länger warten, bis sie weitergehen konnte. Es dauerte mehrere Minuten, bis die schweren Türen sich zögerlich auseinanderschoben. Gefolgt von zwei weiteren derselben Bauart im hinteren Teil des Ganges. Wahrscheinlich war er gerade mit etwas beschäftigt und nicht gerade begeistert, dabei gestört zu werden. Aber für sie hatte er sich gefälligst Zeit zu nehmen.
Im Inneren des Labors war die Luft derart stickig, dass sogar ihr Beatmungsgerät kaum ausreichte, um sie mit der nötigen Luftmischung zu versorgen. Fast automatisch ließ sie sich auf einen der umherstehenden Sattelhocker fallen. Der Geruch von Chemikalien drang ihr beißend in die Nase. Prof musste mal wieder vergessen haben, die Absaugung einzuschalten. Irgendwann würde er hier drinnen noch krepieren.
Der überschaubare Raum war zum Bersten gefüllt mit länglichen Tischen, auf denen die verschiedensten Apparaturen standen. Selbst die Wände bestanden aus Regalen, die unter dem Gewicht unzähliger Phiolen zu brechen drohten. Prof sparte sich eine Begrüßung. Von ihrer Position aus sah sie, dass er gerade auf seinem altmodischen Bildschirm ihren Bericht durchging. Inmitten dessen drehte sich die 3d-Animation der gefundenen Pflanze. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf. Durch das Chaos an Utensilien gelangte sie direkt hinter ihn.
„Was hältst du davon?", fragte sie mit einem Fingerzeig auf den Bildschirm.
„Wenn wir mehr davon finden, müssen wir deine Chloroplasten nicht mehr synthetisch erzeugen. Du könntest sie einfach essen."
„Sehr witzig. Ist meine Ampulle bereit?"
Ohne sich umzudrehen, deutete er auf den Tisch hinter sich, wo bereits eine gläserne Zylinderampulle nebst einer Druckluftinjektionsspritze bereitlag. Gewohntermaßen nahm sie einen Handschuh ab, steckte die Ampulle in die Spritze und schoss die Ladung knapp unterhalb ihres Handgelenks in ihre Blutbahn. Es tat fast nicht weh.
„Du könntest sie dir auch einfach aufs Zimmer liefern lassen", belehrte er sie.
„Ich habe Angst, dass mir einer der Gewöhnlichen hineinuriniert."
Mit einem Seufzer drehte er sich in seinem Laborstuhl um und musterte sie kurz. Er sah müde aus. Das schlohweiße Haar stand ihm in alle Richtungen ab und die Augenringe ließen sein ohnehin dunkles Gesicht fast schwarz wirken. Er schien noch einmal kleiner und gebeugter geworden zu sein. Das hohe Alter ließ sich einfach nicht leugnen.
„Um dieses Grünzeug müssen wir uns zunächst keine Sorgen machen. Die Pflanze hatte keine Wurzel, oder?" Er zog das R derartig lange, dass sie sich fragte, ob er sie aufziehen wollte. Früher hatte sie angenommen, dass er seinen leicht französischen Dialekt unbeabsichtigt hatte. Mittlerweile glaubte sie viel eher, er wolle sie damit absichtlich ärgern.
Sie nahm das Gewächs aus ihrer Tasche und warf einen prüfenden Blick darauf. Tatsächlich hatte sie zwar einen langen Stiel aus der Erde gezogen, aber keine dazugehörigen Wurzeln.
„Es ist anzunehmen, dass diese Pflanzen ihren Ursprung ganz weit unten haben. Vielleicht Überbleibsel einer vergangenen Vegetation. Auf jeden Fall besteht keine Gefahr, dass sie sich ausbreiten. Ihre Anpassung an den Schwefelregen ist unausreichend."
„Wie konnten sie dann überhaupt entstehen?"
„Wahrscheinlich zur Ruhezeit des Vulkanismus. Damals muss ein ausreichender Fluss an Wasser gegeben gewesen sein."
„Und wenn sie unter der Erde wachsen? In irgendwelchen Höhlen?"
Prof schüttelte nachsichtig den Kopf, als würde er mit einem kleinen Mädchen sprechen. „Genügend Licht ist eine Notwendigkeit für ihr Überleben."
„Tun das die Lilim nicht ebenso? Die leben doch auch unter der Erde."
„Nachts – ja, als Schutz vor dem Schwefelregen. Tagsüber wandeln sie über der Erde."
„Warum sind wir dann noch keinen begegnet?"
Prof zuckte die Schultern, ehe er sich wieder dem Computer zuwandte. Er ging scheinbar wahllos einige weitere Missionsbeschreibungen durch.
„Es gab vermehrt Unfälle außerhalb der Basis. Ich denke sie beschnuppern uns zurzeit noch."
„Baut ihr deswegen wie besessen an dem Hauptturm weiter?"
„Lee will auf Nummer sicher gehen. Wir haben keine Meldung von den Truppen der EAU, deren Landung schon lange vor uns stattfand. Davon ausgehend müssen wir damit rechnen, hier auf heftigen Widerstand zu stoßen."
„Das sollte uns doch eigentlich freuen."
„Wilingston vielleicht, aber Lee würde sich sicher über mehr seinesgleichen freuen."
Er schaltete den Bildschirm ab und wandte sich ihr erneut zu. Mit den Händen fuhr er sich durch das Gesicht.
„Apropos, was machen deine Übungen?"
„Ausgeführt werden", antwortete sie monoton.
Er nahm eine kleine Metallkugel von seinem Schreibtisch und warf sie in ihre Richtung. Vor Überraschung wäre sie ihr fast ins Gesicht geprallt. Aber knapp davor blieb sie in der Luft stehen und vibrierte unstet.
„Die Fähigkeiten zur Psychokinese deiner Mutter waren bereits eine Überraschung. Aber das war nichts im Vergleich zu dir. Irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Magnetfeld?"
Sie griff die Kugel aus der Luft und legte sie auf einem der Tische ab.
„Alles in bester Ordnung."
„Du strahlst Unbehaglichkeit aus."
„Ich frage mich, warum ich das hier tue."
„Die Vorzüge deiner Fähigkeiten werden sich dir noch offenbaren."
„Unwahrscheinlich, da ich sie sowieso niemals einsetzen kann."
Er trat näher an sie heran und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Früher oder später wirst du das dürfen. An unseren Feinden und womöglich auch zur Lenkung unserer Verbündeten."
„Irgendwann? Wenn ich so alt bin wie du?!", entgegnete sie unbeherrscht.
„Übe dich in Geduld, Nami."
„Hör auf mich so zu nennen!"
„Das war nicht meine Idee. Aber ich respektiere den Willen deiner Namensgeberin."
„Sie ist tot! Du könntest langsam anfangen, ihre grandiose Idee zu vergessen."
Nami konnte regelrecht sehen, wie sich Profs Körper verkrampfte. Hatte sie einen wunden Punkt getroffen?
„Du verdankst ihr dein Leben – das solltest du zu schätzen wissen." Er begann unruhig durch das Labor zu wandern.
„Sie war ein überholtes Modell", erwiderte sie mit einem Schulterzucken.
„Hör auf damit! Du klingst schon wie ein personifizierter Computer!" Seine Stimme bebte. Er schlug mit der flachen Hand auf einen der Anrichten, was die Glasflaschen darauf zum Klirren brachte.
„Das ist das Vermächtnis der Kinder des Ares!", hielt sie dagegen.
„Es ist in Ordnung nach Idealen zu leben, aber du bist auf dem besten Wege eines zu werden."
„Und du wirst alt und offensichtlich sentimental, Jamie! Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Forschern keinen Chip zu geben. Am Ende gefährdet ihr noch das Projekt mit eurer Gefühlsduselei." Wütend drehte sie sich um und verließ das Labor. So hatte sie ihn selten erlebt. Er war immer die Stimme der Vernunft gewesen. Einen solchen Ausbruch hätte sie nie von ihm erwartet. Was hatte ihn nur so aufgewühlt?
Sie wählte den direkten Weg zu ihrem Zimmer. Der Zorn über den Streit legte sich rasch wieder; ein angenehmer Nebeneffekt des Computerchips. Prof hatte ihr einmal erklärt, dass Gefühle wie Liebe, Hass und Trauer den Menschen nur ineffizienter machten. Er brauchte sie zum Überleben, durfte sich aber nicht von ihnen beherrschen lassen. Darum reagierte der Computer auf zu heftige Schwankungen – zum Wohle des Probanden. Nur bei ihm durfte das nicht passieren, es störe angeblich den kreativen Geist. Ihr Zimmer befand sich in der obersten Etage des Komplexes, neben den anderen ihrer Art. Sie brauchten die Sonne, um effizienter zu funktionieren.
Der gläserne Lift brauchte nicht lange, um sie hinaufzubringen. Das war einerseits schade, da sie nur kurz die Aussicht über den gesamten Komplex genießen konnte, andererseits war sie schon völlig übermüdet. Gähnend verließ sie die Kabine, bog nach rechts ab und wählte den ersten Gang links. Hier herrschte eine völlige bauliche Monotonie. Wüsste sie nicht genau wo ihr Zimmer lag, so hätte sie es wohl kaum von den anderen unterscheiden können. Alles war in demselben Stahlgrau gehalten. Aber sie war in einer derartigen Umgebung aufgewachsen und daran gewöhnt. Ihr Zimmer sah so aus, wie sie es verlassen hatte. Es hätte sie auch gewundert, sollte es jemand unerlaubterweise betreten haben.
Sie überprüfte rasch die Temperatureinstellung und den Sauerstoffgehalt, ehe sie das Beatmungsgerät abnahm. Fast neunundneunzig Prozent. Für sie perfekt und nicht sofort schädlich, sollte jemand Unbedarftes den Raum betreten. Bis auf einen Spiegel, eine kleine Anrichte, das Bett und ihren Kleiderschrank war das kleine Zimmer völlig schmucklos. Sie verbrachte hier ohnehin kaum Zeit. Und Luxus war sie nicht gewohnt. Sie öffnete das Schiebedach per Knopfdruck, wodurch das Sonnenlicht den Raum flutete. Es war Morgen, die Hitze erträglich und erst leichter Nebel in der Luft.
Der Helm hatte ihr Haar wieder einmal völlig zerzaust. Mit einem wehmütigen Blick zum Bett griff sie nach dem magnetischen Kamm. Ihr äußerst dickes Haar war nicht für einen normalen geeignet. Sie strich mit leichtem Abstand darüber, wodurch sich die hornigen Haare, welche mit Spulen durchsetzt waren, ausrichteten. Sie waren ein Spiel der Natur, oder besser gesagt der Genforschung – ein Erbe ihrer Mutter. Das, durch die eingesetzten Spulen erzeugte Magnetfeld, verstärkte ihre psionischen Fähigkeiten immens. Nun war es Zeit, deren Energiereservoir wieder aufzufüllen.
Nami streifte umständlich den schweren Anzug ab und entledigte sich auch ihrer Unterwäsche. Ihre blasse Haut wies einige Schrammen auf, die womöglich von Bibis Fahrstil herrührten. Nachdenklich fuhr sie über ihre Gelenke. Die Oberfläche der grünlichen Schuppenhaut an diesen fühlte sich rau an. Sie erinnerte sie an die Pflanze, die sie diese Nacht gefunden hatte. Profs Reaktion kam ihr nach wie vor seltsam vor. Warum nahm er ihre Bedenken nicht ernst?
Sie setzte sich auf die Bettkante, wobei ihr Blick auf das kleine Puzzle fiel, das sich auf der Anrichte befand. Die Teile lagen verstreut wie immer umher. Ein Übungsspiel aus Kindestagen, das sie hütete wie ihren Augapfel.
Irgendwann wirst du es schon lösen. Das waren ihre Worte. Immer und immer wieder, wenn sie ihr das perfekt zusammengefügte Bild brachte. Auch die Crewmitglieder, die sie beständig damit gequält hatte, was sie nur falsch mache, hatten sie immer bestätigt. Jedenfalls zu der Zeit, als sie noch mit ihnen zu reden pflegte. Bevor man anfing, sie wie eine Aussätzige zu behandeln – ihr aus dem Weg ging. Diese einfachen Geschöpfe konnten sie nicht verstehen, sie waren unterentwickelt. Ihre Kultur und ihr ganzes Sein waren schon lange überholt. Sie drohte wütend zu werden, aber wie immer wurde das Gefühl sofort unter Kontrolle gebracht. Ein Funke von Wehmut überkam sie. Natürlich hätte sie sich trotzdem nicht geärgert, wenn diese Menschen ihr Aufmerksamkeit schenkten. Was war so schlimm an ihr?
Griesgrämig ließ sie sich auf das Bett sinken. Durch das Glasdach konnte sie die hoch aufragende hydroponische Farm sehen, die sie schon bald unabhängig von der Weltraumnahrung machen würden. Sie hatte heute noch nichts gegessen. Die Pilze hingen ihr schon zum Hals heraus. Aber die Photosynthese reichte einfach nicht aus, um sie am Leben zu halten. Der Sonnenschein ließ ihre blasse Haut noch heller wirken und brachte die Chloroplasten an ihren Gelenken zum Leuchten. Sie konnte spüren, wie neue Energie sie immer stärker durchfloss. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihr aus.
Über ihr schwebten die einzelnen Puzzleteile und fügten sich langsam zu dem Bild eines Roboters zusammen. Er hatte leicht angedeutete menschliche Züge, Haare, die an Lametta erinnerten. Ein Bildnis aus der Zeit der Anfänge der Robotik mutmaßte sie. Was war nur falsch daran? Und warum hatte ihre Mutter ihr gerade solch ein Motiv gegeben? Eine längst vergangene Generation, genau wie sie selbst. Das war der Grund, warum sie hatte sterben müssen. Sie war Vergangenheit und Nami war die Gegenwart. Von Tag zu Tag fiel es ihr schwerer, sich überhaupt an sie zu erinnern. Als söge der Chip jegliche freudige Kindheitserinnerung in sich auf. Nami schloss die Augen und ergab sich ihrer Erschöpfung. Die Puzzlesteine fielen auf ihren nackten Körper, wie sanfte Schneeflocken im Winter.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro