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Die Zeit wollte nicht vergehen. Erst drei Tage waren sie auf dem Schiff und Ben wusste dort nichts mehr mit sich anzufangen. Nach dem sie den Hafen verlassen hatten, waren seine Eltern zur Beach-Bar auf Deck 15 gegangen, um dort die kostenlosen Drinks zu genießen und sich von nervtötenden, karibischen Klängen betören zu lassen.
Ben hatte es sich in seiner Kabine gemütlich gemacht und dort das erste Mal in seinem Leben einen Fernseher eingeschaltet. Leider war das Bordprogramm doch eher dürftig. Nachdem er zum fünften Mal eine Wiederholung der Big Bang Theory angesehen hatte, war er eingeschlafen.
Den nächsten Tag verbrachte er auf einem Zwischendeck, das außer einer optisch ansprechenden Einkerbung im Schiff, keinen sonderlichen Zweck hatte. Immerhin war es offenbar kein beliebter Ort bei den Gästen.
Es gab wenige Liegestühle, keine Bar oder andere Aktivitäten.
Einzig ein Mädchen hockte auf einem der Liegestühle, einen Block in der Hand.
"Hallo...", grüßte das Mädchen und musterte ihn mit einigem Desinteresse.
"Ist was?" Ben war schlecht gelaunt. Seine Eltern hatte sich seit dem vorigen Tag nicht mehr bei ihm Blicken lassen und so langsam war er es leid, ihnen hinterherzurennen. Es war ihm auch ziemlich egal, was sie trieben, er war noch immer sauer auf sie.
"Nö!", sagte das Mädchen belustigt. "Ich dachte, ich hätte womöglich mal jemand anderen als diese ganzen Schnösel hier angetroffen, von denen gibt es hier viel zu viele...aber wie es scheint, habe ich mich geirrt."
Sie lächelte. "Welche adelige Familienangelegenheit bringt dich her?"
Ben stutzte. "Was?"
"Meine Güte, du bist aber auch ein bisschen schwer von Begriff, oder? Ich versuche hier gerade, ein Gespräch mit dir anzufangen!" Sie seufzte und knallte den Block auf ihren Schoß.
"Ich fange noch mal neu an, okay?"
Ben nickte irritiert.
"Also...Ziemlich langweilig hier, nicht wahr?" Sie sprach jedes Wort einzeln und überdeutlich aus, als wäre Ben ein begriffsstutziger Vollidiot.
"Findest du?" Er grinste.
Das Mädchen hatte lange braune Haare, braune Augen und ein makelloses Gesicht, abgesehen von einer kleinen Narbe auf ihrer linken Wange.
"Ja, meine Eltern haben mich gezwungen herzukommen, damit ich mich etwas ausruhe!"
"Ausruhen? Du Glückspilz...Meine Eltern wollen jeden einzelnen Winkel dieses verfluchten Schiffes erkunden. Ich hab sie seit gestern nicht gesehen!"
"Naja, es ist nicht so schlimm, wie ich dachte, aber ich darf mich hier kaum bewegen. Kein Pool, keine anderen Decks. Ich hab mich davongeschlichen, bin aber nur bis hier gekommen!"
Das Mädchen wirkte noch immer desinteressiert, zumindest begann sie, in ihrem Block herumzukritzeln.
Erst jetzt fiel Ben der Verband an ihrem Fuß auf. "Was hast du denn da gemacht?", wollte er wissen. "Ach, ich bin ein bisschen balanciert. Den Rest kannste dir ja denken."
Das Mädchen lachte. "Oh..." Auch Ben musste lachen. Das erste Mal seit Tagen. Es fühlte sich überraschend beklemmend an.
"Und du? Siehst müde aus. Warste gestern Abend in der Schiffsdisco?"
"Schiffsdisco? Oh Gott, natürlich nicht!" Ben schüttelte sich.
"Is wahrscheinlich besser so...Scheinst mir nicht der begnadetste Tänzer zu sein!". Wieder lachte sie.
Das war nicht wirklich wahr. Ben war sehr wohl ein begnadeter Tänzer. Mit sechs Jahren hatte er in der Schule einen Steppkurs besucht und er war richtig gut gewesen. Dann kam jedoch der Wachstumsschub, der ihn schlaksig und unbeholfen gemacht hatte. Ben hasste seine Größe. Ständig stieß er sich irgendwo den Kopf. Er war schon oft mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gekommen. Auch sein Rücken würde es ihm danken, wenn er über Nacht eine wenig schrumpfen könnte.
Ben schwieg also auf diese Bemerkung hin. Plötzlich kam eine vornehm gekleidete Dame mit einem großen Sonnenhut und herzförmiger Sonnenbrille auf das Zwischendeck gehastet.
"Ich hab sie! Sie ist hier!", kreischte sie. Das Mädchen rollte mit den Augen. Zwei Anzugträger kamen hinzugestürmt.
"Los, Miss Gambon, wir helfen ihnen!" Einer von ihnen streckte seine Hand aus, die sogleich von dem Mädchen weggeschlagen wurde.
"Ich kann das auch alleine! Sehe ich irgendwie unfähig aus?"
"Nun ja", stammelte der Anzugträger.
Das Mädchen äffte eine Sirene nach, wie man sie aus Quizshows im Radio kannte. "Falsche Antwort!"
Ben kicherte und fing sich daraufhin einen Todesblick der Dame ein, die auf ihren viel zu hohen Schuhen kaum stehen konnte und sich deshalb an einem ihrer Begleiter stützte.
Das Mädchen riss ein Blatt von ihrem Block ab, dann drückte sie ihn einem der Männer in die Hand. Sie erhob sich, humpelte zu Ben und reichte ihm das Blatt.
"Warst echt hardcore inspirierend!", sagte sie. Ben sah auf das zerknitterte Stück Papier. Eine perfekte Zeichnung seiner selbst sah zurück. Er blickte auf, aber das Mädchen war weg.
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