20
Jedes Mal, wenn er sich unwohl fühlte, warf er einen prüfenden Blick über seine Schulter. Das Gefühl der Verfolgung ließ ihn nicht los. Dafür holten die Erinnerungen ihn schneller ein, als ihm lieb war.
Seit zwei Wochen saß er inzwischen alle zwei Tage in dem kalten Zimmer und war gezwungen über sich selbst zu reden. Die Frau, die ihn dabei scharf beobachtete konnte er absolut nicht leiden. Dr. Corron trug immer teure Kostüme, die farblich auf ihre Accessoires abgestimmt waren. Sie hatte einen arroganten Blick und ein Diplom in Psychologie an der Wand hängen, was sie nur zu gern unterstrich. Ben vermied es, sie anzusehen, denn sie strahlte eine Macht aus, die ihn kleinlich fühlen ließ. Er war sich im Klaren über den Grund dieser Sitzungen und wünschte sich jedes Mal, wenn er in den Raum kam, gestorben zu sein.
"Guten Morgen Ben." sagte Dr. Corron. Sie saßen sich schon seit einer Minute gegenüber, ohne dass ein Wort gefallen war. "Morgen." nuschelte Ben verschlafen. Man hatte ihn in einen Rollstuhl gesetzt, obwohl er sich sicher war, zu wissen, wie er seine Beine einzusetzen hatte, um vorwärts zu kommen. "Letztes Mal haben wir mit den Albträumen begonnen. Vielleicht erzählst du mir, wie es inzwischen ist?" Durchdringend starrte sie ihn an. Ben nickte, sagte aber nichts. "Ben?". "Ja?". Er sah auf. "Die Träume.." "Sie...sind besser geworden." Dr. Corron nickte langsam.
Das war gelogen. Ben hatte keine ruhige Nacht mehr. Ständig wachte er in einem Rettungsboot auf. Seine Eltern waren dort und jedes Mal warfen sie sich über Bord. Auch Tammy war dort und auch sie ging jedes Mal unter. Dann türmten sich die Wellen um ihn herum auf und verschlangen ihn.
Ben blinzelte. Sein Blick fiel auf Mrs. Corrons Notizen.
Lügt.
Ben runzelte die Stirn. "Und die Erinnerungen, wie sieht es aus?" fragte sie schließlich. "Dunkel." sagte er abrupt. Er kaute nervös auf seiner Lippe herum und warf einen prüfenden Blick über seine Schulter. "Du musst dich nicht unwohl fühlen." sagte Dr. Corron sanft. Ben schluckte. "Es ist ganz normal, dass dein Erinnerungsvermögen nach so einer langen Abwesenheit eingeschränkt ist. Aber dafür bin ich ja da." Sie lächelte. Ihm wurde schlecht. Die Erinnerungen kamen. Jeden Tag hatte er plötzliche Visionen, von denen er sich sicher war, sie schon einmal gesehen zu haben.
Nach einer Stunde durfte er den Raum verlassen. Ein Pfleger schob ihn durch die Gänge des Krankenhauses zu seinem Zimmer. Er hatte die Intensivstation verlassen können und teilte sich nun den Raum 306 im dritten Stockwerk mit einem Jungen in seinem Alter, der nach einer Prügelei eingeliefert worden war. Ben hatte nie nach seinem Namen gefragt. Er interessiert ihn auch nicht unbedingt. Als er endlich wieder in seinem Bett lag und an die Decke starrte, war das Zimmer leer. Nach einer Weile verschwamm alles vor seinen Augen.
Er blinzelte einige Male und fand sich schließlich in einem Auto wieder. Am Steuer saß eine Frau mit braunen Haaren. Mum. Sie lachte und redete viel, doch es war, als wären sie durch eine dicke Glasscheibe getrennt. Ben sah an sich herab. Er saß wieder im Nebel und er trug noch sein Krankenhaushemd. Die Tür wurde aufgerissen und seine Mutter strahlte ihn an. "Komm, wir müssen noch schnell etwas Geld abheben, dann geht es los!" sagte sie fröhlich. Was geht los? Ben runzelte die Stirn und stieg aus. Sie betraten den Bankschalter. Es war nicht viel los. Mrs. Vessinger stellte sich an den Automaten und wischte hektisch auf dem Touchscreen rum. Ben sah sich aufmerksam um. Etwas wird passieren. Eine ältere Dame stand am Empfangstresen. Ein Hund umschlich ihre Beine. Hinter dem Tresen saß eine junge Frau mit braunen Haaren und einer Narbe auf der linken Wange. ihre Blicke trafen sich kurz und sie lächelte ihn an. Ben schüttelte den Kopf. Ein breitgebauter Kerl betrat die Bank und sah sich um.
Dann zog er ein Maschinengewehr unter seiner Lederjacke hervor. Er feuerte einige Schüsse in die Decke ab bevor er sich der Frau hinter dem Schalter zuwandte. Ihre Augen waren leer und kalt als er auf sie zukam, die Waffe auf sie gerichtet. Ihr Gesicht verschwamm vor Bens Augen. Sie kam hinter dem Tresen hervor, einen Schlüssel in der Hand. Sie bewegt sich zitternd auf eine Tür zu und begann sie aufzuschließen. Sie war nur wenige Schritte von Ben entfernt und warf ihm einen stoischen Blick zu. Er sah zur Decke. Putz rieselte herab. Eine Platte löste sich langsam. Instinktiv sprang Ben auf die Frau zu und stieß sie hart zur Seite. Die Deckenplatte fiel auf ihn. Er keuchte auf und krabbelte eilig darunter weg. Es tat weh, aber das Metallrohr, das keine zwei Sekunden darauf zu Boden krachte, hätte den Schmerz wohl noch vertieft. Wasser spritze in den Raum. Der Kerl mit dem Maschinengewehr seufzte entnervt und richtete seine Waffe nun auf Mrs. Vessinger, die die ganze Zeit über wie angewurzelt da gestanden hatte. Er nickte zur Tür. Der Schlüssel steckte noch. Vorsichtig bewegte sich Bens Mutter darauf zu. Ihr Gesicht war tränennass und sie sah verzweifelt zu ihrem Sohn, der neben der Tür auf dem Boden saß, eine kleine Platzwunde auf der Stirn. Ben schluckte.
Die junge Frau zog ihn langsam an sich. Mrs. Vessinger drehte den Schlüssel im Schloss um. Sie blickte auf den Lauf des Gewehres. Der Kerl stieß sie unsanft beiseite und drückte die Klinke runter. Sofort begann eine Sirene zu tönen. Ein grelles anhaltendes Piepen. Ben hielt sich die Ohren zu. Der Mann jedoch riss die Augen auf und hob seine Waffe, zielte und drückte ab. Vier Schüsse fielen. Mit dem ersten verfehlte er Ben. Mit dem zweiten auch, aber nur, weil die junge Frau sich schützend vor ihn geworfen hatte und nun auf seinen Schoss sank. Unwillkürlich schrie Ben auf. Eilig schob er die Leiche von sich.
Mit dem dritten Schuss fiel Mrs. Vessinger.
Mit dem vierten der breitgebaute Kerl. Ben starrte. Schon wieder. "Mum?" flüsterte er zittrig. Die ältere Dame, die hinter ihm am Tresen gestanden hatte, brach keuchend zusammen und fasste sich an die Brust. "Mum?" Sie lag regungslos am Boden.
Ben schreckte auf als jemand ihn sanft an der Schulter packte. Ein Polizeibeamter sah ihn an. "Hey Kleiner, komm mit keine Angst, du brauchst keine Angst zu haben."
"Was?" fragte Ben. "Du musst keine Angst haben." sagte Livia und sah ihn besorgt an. "Albträume sind normal, aber ich dachte ich wecke dich vorsichtshalber." Sie lächelte. "Vier" sagte Ben und sah sie fassungslos an. "Wie bitte?". "Vier Menschen !" keuchte er. "An diesem Tag sind vier Menschen gestorben!". "An welchem Tag? Ben, was ist los mit dir, du glühst förmlich." Sie legt ihm eine Hand auf die Stirn. "Das war kein Traum!" sagte Ben entschieden.
Vier Menschen waren gestorben und er hatte leben dürfen. Aber um welchen Preis?
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