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Ben schlug die Augen auf. Mit einem Mal war er hellwach. Er rappelte sich hastig auf und atmete tief durch. Ein Traum, es war nur ein Traum! Ben versuchte sich zu erinnern.
Und da waren sie wieder: Die schäumenden, beißenden Wellen, die sich auf das riesige Schiff stürzten, auf dem er stand. Er drehte sich um. Hinter ihm standen seine Eltern an der Reling. Ben schluckte. Die grausamen Wellenmonster stiegen höher und höher, bis in den schwarzen Nachthimmel.
"Rennt!"
Es war zwecklos, er verstand sein eigenes Wort kaum. Die Monster kamen näher, immer näher. "Bitte!"
Verzweifelt starrte Ben seine Eltern an. Sie lächelten zurück. Und so, wie sie da lächelnd standen, rissen die Monster sie mit sich und Ben aus den Gedanken.
Angstschweiß lief ihm das Gesicht hinunter. Er sah sich um. Sein Zimmer war noch dunkel. Ben stand auf und ging zum Fenster. Er öffnete es und atmete die kühle Morgenluft ein. Am Himmel zeichneten sich erste rosige Streifen ab, die Vögel kreischten, irgendwo in der Ferne startete jemand sein Auto.
Müde schwankte er ins Wohnzimmer. Das Chaos vom Vorabend war noch immer da. Ben begann kopfschüttelnd die Flyer vom Boden aufzusammeln. Warum liegen die auf dem Boden, ich kann mich nicht erinnern, dass sie runtergefallen sind. Er griff sich ein Blatt und begutachtete es. "Queen of the seas...", murmelte er. Dann zerknüllte Ben den Flyer aus dem Reisebüro und schmetterte ihn in den Kamin.
"Vergesst es! Ihr werdet meine Eltern nicht fressen!", brüllte er, bevor ihm auffiel, wie kindisch diese Aktion war. Sogleich kam sein Vater angerannt und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
"Verdammt Junge, was soll das denn?!" Er klatschte Ben auf den Hinterkopf. "Es ist 5 Uhr Morgens!"
"Tschuldige Dad."
Sein Vater hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Ben wusste es. Seine Mutter wusste es. Die Nachbarn wussten es auch. Mr. Vessinger hatte sich auch nie groß darum geschert, seinen Kummer zu vertuschen.
Dennoch hatte er es immer für praktisch empfunden, zwei Söhne zum Experimentieren zu haben. Und Nein - Mr. Vessinger war kein perverses Schwein, das seine Kinder missbrauchte. Er war bloß sehr interessiert an physikalischen Gesetzen, die er sich selbst ausdachte. Es ist an dieser Stelle wohl nicht nötig zu erwähnen, dass Mr. Vessinger auch anders war.
Vor einigen Jahren hatte er seinen Vornamen ändern lassen. Nun hieß er 'Garry' und nicht mehr 'Athanasius'. Die Zeiten davor hatten Ben und seine Mum sich oft das Gejammer über den zu furchtbaren Namen anhören müssen. Obwohl Ben offengestanden der Ansicht war, dass 'Garry' auch nicht viel besser war.
Garry Vessinger hatte immer ausgeklügelte Ideen. Besonders seit Quentin verschwunden war, machte er Ben gerne zu seinem Testobjekt.
Vor ziemlich genau einer Woche hatte Mr. Vessinger einen echt großen Fisch gefangen. Diesen hatte er 'Charlie' getauft und überall mit hingenommen. Charlie mochte sein neues Zuhause, das alte Planschbecken, jedoch augenscheinlich nicht. Auf dem Weg zum Bäcker hatte er sich Mr. Vessinger entwunden und war auf die Straße gefallen.
Zu gerne hätte dieser ihm geholfen, doch der LKW war ihm zuvorgekommen und hatte Charlie ins Jenseits befördert. Ben hatte dann die ehrenhafte Aufgabe bekommen, Blut- und Schuppenreste von der Straße zu kratzen.
Ein andern Mal hatte Mr. Vessinger Ben mit aufs Dach genommen. Dort wollte er mit einem Käscher Vögel fangen. Als ihm das tatsächlich gelang, konnte er sein, wie er behauptete "unfassbares Talent" überhaupt nicht glauben und schubste vor Freude seinen Sohn von den roten Ziegeln. Ben fiel auf Quentin und beide brachen sich das rechte Bein.
Zwei Monate später hatte Mr. Vessinger sich eine kleine Trittleiter gekauft. Damit wollte er in der Badewanne Kopfsprung üben. Da er sich die Leiter jedoch nicht hatte leisten können, hatte er Ben als Pfand im Laden gelassen. Als Mrs. Vessinger das erfuhr knallte sie ihrem Mann besagte Trittleiter ins Gesicht.
Ja, Mr. Vessinger war definitiv auch anders. An diesem Morgen trug er seinen Pinguinpyjama. Da waren zwar gar keine Pinguine drauf, sondern Elefanten, aber er nannte ihn Pinguinpyjama, weil er der Ansicht war, dass Pinguine die besseren Tiere waren. Ben gähnte.
"Warum gähnst du?", fragte Mr. Vessinger hektisch.
"Weil ich müde bin..?"
"Dann geh wieder schlafen und schrei hier nicht das ganze Haus zusammen!"
Das kleine Bungalow, in dem die Vessingers lebten, als Haus zu bezeichnen war doch sehr gewagt, wie Ben fand.
"Ich mach Frühstück."
Er schlurfte in die Küche. Der schwarze Klumpen im Ofen war noch da und sorgte für einen bitteren Geruch. Ben wollte ihn nicht anfassen also holte er sich eine Gabel. Das Häufchen zerfiel jedoch noch bevor er es überhaupt berührte. Er warf die Gabel missmutig in die Spüle. Kopfschüttelnd stand sein Vater im Türrahmen.
"Wärst du doch nur eine Louise geworden..."
Ben sah seinen Vater finster an. Dieser ging zurück ins Wohnzimmer.
"Warum liegt da ein Flyer im Kamin?", rief er in die Küche.
"Ich weiß nicht!", gab Ben zurück und unterdrückte ein weiteres Gähnen, während er im Kühlschrank nach etwas verwertbarem suchte.
"Heyyy, das wär's doch! 'Ne Kreuzfahrt, scharf!"
Mr. Vessinger kam zurück und setzte sich auf einen Hocker, den er selbst gebaut hatte und der dementsprechend schief stand.
"Weißt du was? Ich glaube, das gönnen wir uns irgendwann auch mal!"
Ben schüttelte den Kopf. "Nein, nein, nein! Niemals, das ist viel zu teuer!"
Sein Vater arbeitete als Putzmann in einem Kindergarten. Das Ironische daran war, dass er Zuhause nicht einmal wusste, wo die Putzlappen aufbewahrt wurden.
Das Handy klingelte. Es war das Smartphone seiner Mutter, das einzige Telefon in der Familie. Bens Mitschüler Dennis Baker hatte ihm einmal erzählt, er besäße drei. Eins zum Telefonieren, eines für Spiele und noch eines mit einer guten Kamera. Ben fand so etwas seltsam, zumal Dennis vier Geschwister hatte und die ebenfalls alle mit drei Handys ausgestattet waren.
Mr. Vessinger griff sich das Gerät. Er wollte den Anruf entgegennehmen, wusste jedoch nicht, wie das ging. Ben nahm das Handy an sich und ging ran.
--Hallo? Vessinger?--
-- Guten Tag, junger Mann--
-- Mit wem spreche ich?--
Ben war schon jetzt genervt von der viel zu fröhlichen Stimme am anderen Ende der Leitung.
--Timothy Johnson von der Reiselotterie Shine!--
-- Wer?--
-- Timothy Johnson!--
Der Mann schien hörbar entrüstet von Bens Unwissenheit zu sein.
--Okay?--
--Ich rufe an, um Ihnen zu gratulieren! Sie sind die 100ste Nummer im Telefonbuch!--
-- Das kann doch gar nicht sein! Man schreibt unseren Namen mit 'V'! Das ist ganz weit unten im Alphabet--
--Wie auch immer, Sie haben eine Vierzehntägige Reise auf der Queen of the seas gewonnen! Drei Tickets!--
Ben stockte der Atem.
-- WAS?--
Alarmiert sah er zu seinem Vater, der gespannt neben ihm saß.
-- Das muss ein Irrtum sein, wirklich!--
--Nein, ich habs hier schwarz auf weiß, soll ich ihnen ein Foto schicken?--
--N..n.. nein Danke!--
-- Na gut, dann nicht! Erwarten sie Post von uns!--
Und mit einem jauchzenden Gluckser legte Timothy Johnson auf.
"Wer war das? Ist was schlimmes passiert? Du bist ganz blass!"
Sein Vater nahm Ben das Handy aus der zitternden Hand.
"Glückwunsch Dad!", sagte der leise. "Wir werden eine kleine Bootstour machen!"
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