17
Seit einiger Zeit saß Ben summend am Strand. Mit seinem Finger malte er kleine Häschen in den Sand. Fröhlich ließ er seinen Blick schweifen. Er fragte sich, wo Nike wohl hin verschwunden war, aber eigentlich kümmerte es ihn nicht. Das Piepen war erträglicher geworden, sobald Ben sich daran gewöhnt hatte. Die Pistole lag neben ihm. Ab und zu griff er sie und hielt sie sich spielerisch an den Kopf. Es war ein lustiges Gefühl.
Hinter ihm raschelte es. Ben drehte sich um. Ein hochgewachsener Mann in einem Kittel stand da und leuchtete ihm mit einer Lampe direkt in die Augen. Ben schrie und sprang auf. Der Mann war verschwunden. Stattdessen tippte ihm jemand auf die Schulter. Er fuhr herum und sah einen Jungen, der vielleicht ein Jahr älter war, als er. Dunkle Haare, sonnengebräuntes Gesicht, strahlende Augen, eine kleine Narbe am linken Auge. "Lang nicht gesehen." murmelte der Junge und grinste schief. Ben erstarrte. "Ich dachte..ich komm dich mal besuchen, jetzt wo Mum und Dad weg sind." Er machte einen Schritt auf ihn zu. Ben starrte wieder einmal. Er musste sich das wirklich abgewöhnen. "Wie in aller Welt kann es sein, dass du hier bist?" Der Junge schwieg. Er sah Ben unentwegt an. "WIE?" schrie Ben. "WIE KANN DAS SEIN?". Er schien ihn nicht zu hören, jedenfalls sah er ihn nur weiterhin an und schwieg. Und dieses Lächeln, es jagte Ben Angst ein.
Dann kam endlich eine Reaktion. Er räusperte sich. Ben schluckte. Das Piepen wurde lauter.
Quentin kam einen Schritt auf ihn zu und ergriff seine Hand. "Ich hab dich echt vermisst!"
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Als Ben wieder zu sich kam, war ihm noch sehr schwindelig. Alles schien in einen rosigen Nebel gewickelt zu sein. Er konnte Gestalten darin ausmachen, die bedrohlich auf ihn zu kamen. Er wollte rennen, konnte aber nicht. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht mehr auf der Insel sein konnte. Stattdessen lag er in einem endlosen Gang, an dessen Wänden Fotos von ihm und seinem Bruder hingen. Langsam rappelte er sich auf. Ben konnte sich nicht erklären, wie er hergekommen war, doch es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu laufen.
Die Gesichter auf den Fotos verfolgten ihn. Er schleppte sich mühsam durch den Gang. Mit jedem Schritt klapperten die Bilderrahmen gegen die stählerne Wand und bereiteten ihm noch stärkere Kopfschmerzen. Der Nebel wurde dichter. Bald konnte er kaum noch etwas erkennen. Die Gestalten waren verschwunden. Lediglich das Piepen hielt an. Es rauschte in seinen Ohren. Er hörte eine Frau weinen. Eine tiefe Stimme wisperte beruhigende Worte, die Ben nicht ganz verstand. "Das wird schon wieder, er ist auf dem Weg der Besserung."
Bens Beine fühlten sich schwer an. Als würde er Tonnen an Gewichten hinter sich herziehen. Vorsichtshalber sah er sich um und dann an sich herunter, aber da war nichts. Überhaupt nichts. Nur Dunkelheit. Er atmete schwer und glitt, auf den Boden, welcher endlos weit weg zu sein schien. Innerlich begann er zu krampfen. Sein gesamter Körper stemmte sich gegen ihn. Ben schrie, er brüllte vor Schmerz. Die Gewichte zerrten an ihm. Das Piepen wurde unerträglich. Das Weinen lauter und klarer.
"BEN! Bleib bei mir! Hallo?"
Ben zitterte. Schweiß tropfte von seiner Stirn.
Dann war alles still. Er war nicht mehr in dem Gang. Er hockte keuchend auf einem Stuhl in einem Klassenzimmer. Die Wände waren mit bunten Kritzeleien vollgehängt. An der Tafel stand ein einziges Wort.
Kämpfen!
Bens Augenlider flatterten. Er konnte sich nicht bewegen, es war ihm unmöglich. Dann öffnete sich die Tür und sein Vater kam herein. Er bewegte sich rasend auf Ben zu. Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. "BEWEG DICH!" Ben versuchte es, wirklich. Alles tat ihm weh.
Mrs. Howardson von Nebenan, stand in einer Ecke des Zimmers und strich sanft einer toten Katze über den Rücken. Seine Augen weiteten sich. Mr. Vessinger verwandelte sich in die griesgrämige Mrs. Renée. Sie klatschte ihm einen Handfeger ins Gesicht. Alles verschwamm. Bens Augen tränten. Er schrie, doch es kam kein Geräusch. "BEN, DU LAHMARSCHIGER HUND! FOKUS, KONZENTRIER DICH!"
Tammy stand vor ihm. Sie war abgemagert und bleich. Die Welt um ihn herum verwackelte, drehte sich. Plötzlich stand er an einem Treppenabsatz. Er krallte sich in das Geländer und schwankte bedrohlich. "DU!" schrie eine vertraute Stimme. "KÄMPFEN!"
Happy Birthday Ben!
Er drehte sich um. Der Raum in dem er stand, hing, um es besser auszudrücken, war vollgekleistert mit Kreuzworträtseln und Prospekten, die für Kreuzfahrten warben. Ben kniff die Augen zusammen. Aus dem nichts tauchte Tammy wieder auf. Sie sah ihn lange an. Dann verzerrte sich ihr Gesicht und wurde zu dem von Cléo. Ben kreischte.
Sie stürmte auf ihn zu, packte ihn und schüttelte ihn. Die Schmerzen wurden unerträglich. Gerade, als er dachte sein Kopf würde explodieren, versetzte sie ihm einen heftigen Stoß. Er taumelte und fiel. Die Treppen waren lang und hart. Jede Stufe bohrte sich in seine Haut. Als er endlich unten ankam, beugte sich jemand über ihn. Es war Mrs. Gambon, Cléos Mum. Sie trug das Outfit der Zimmermädchen auf der Queen of the Seas. Ben schluckte fest. Er hatte Mühe die Augen aufzuhalten. Sie sang ein Lied. Es war sehr leise, aber er konnte es trotzdem hören.
Benny Boy du hast verloren
Dein Ende heraufbeschworen
Ben keuchte auf. Sie kniete sich vor ihn. Tränen rannen sein Gesicht hinab. Er konnte kaum denken.
So jung, so einfach, so betört
Erfolgreich mutwillig zerstört
Langsam schloss er die Augen. Es war vorbei.
Dann bekam er einen Schlag in den Magen. Und einen weiteren in die Brust. Er stöhnte, wagte es nicht, sich zu bewegen. "Steh doch auf du Idiot!", fauchte Quentin. Starke Hände packten ihn. "Steh auf!".
Ben rappelte sich auf. Er wankte auf die Treppe zu. Schritt für Schritt. Stufe für Stufe. Er zog sich keuchend am Geländer hoch.
Du hast verloren
"Nein", flüsterte er.
ZERSTÖRT!
"NEIN!", brüllte er. Er überwand die letzten drei Stufen. Dann hockte er einfach nur da, die Augen geschlossen, verkrampft, kraftlos.
Und dann öffnete er die Augen und wagte einen Blick in das Ungewisse.
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