11
Wieder brach ein neuer Morgen an. Und wieder spürte Ben die Hungerkrämpfe in seinem Magen.
Die ganze Nacht hatten Cléo und er geredet. Nun war es hell und die Sonne schien prall auf sie herab. Cléo rümpfte die Nase als Ben sie sanft von sich schob, um aufzustehen. Nach wie vor war der Tunnel verschwunden.
Auf einmal raschelte es in den Farnen zu ihren Füßen. Misstrauisch sah Ben hinunter und atmete erleichtert auf, als er seine Mutter sah. Cléo gähnte und streckte sich. Als sie Mrs. Vessinger erblickte schrie sie auf vor Glück.
"Cheryl!", kreischte sie. "Endlich, Halleluja!" Sie sprang auf.
Bens Mutter lachte. "Wir haben den ganzen Abend nach euch gesucht! Mike, oder wie auch immer du ihn nennst, ist schon ganz hungrig! Wolltet ihr nicht Essen suchen?"
"Ja! Und übrigens heißt er 'Nike', so wie die Marke und-". Cléo brach in einen Schwall aus Gebrabbel aus.
"Schnauze jetzt! Und du, verpiss dich, wenn du uns nicht sofort hier runter hilfst!", hörte Ben sich im selben Moment sagen. Erschrocken schlug er die Hand vor den Mund. Das ist es, ich hab keine Kontrolle mehr über mich selbst, das war's jetzt!
"Bitte was?", kam es von unten. Auch Cléo starrte ihn entsetzt an. "Spinnst du jetzt komplett?"
Sie stieß ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust und bohrte ihn ins Fleisch, bis es weh tat. Ben biss die Zähne zusammen und schluckte. "Ich.."
"Ich, ich, ich, bei dir geht es auch immer nur um dich!"
Cléo schubste ihn gegen die Felswand. Sie krallte sich in sein T-Shirt und zog seinen Kopf nach unten. Bens Rücken gab ein ungesundes Knacken von sich. Da Cléo mit etwa 1,65m Körpergröße viel kleiner als er war, konnte sie ihn nicht auf ihre Augenhöhe bringen, doch ihr Plan ging trotzdem auf. Ben fühlte sich alles andere als wohl. "Entschuldige dich sofort!", zischte sie ihm zu. Ben traten Tränen in die Augen. Er wollte nicht weinen. Er musste auch gar nicht weinen. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis danach. Dennoch waren seine Augen feucht. So feucht, dass er kaum mehr etwas sehen konnte.
"Meine Augen...", stammelte er. "Nicht deine Augen! Du redest schon wieder über dich, entschuldige dich jetzt!", fauchte Cléo, deren Silhouette er nur schwach ausmachen konnte. Er atmete tief durch und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Ben blinzelte heftig, doch es half nichts. Wahrscheinlich nur eine allergische Reaktion! versuchte er sich zu beruhigen.
Er drehte sich in die Richtung, in der er seine Mutter vermutete und sagte:" Mum, es tut mir leid, ich wollte das nicht sagen, es kam einfach raus! Ich schwöre dir; ich hatte nie vor so etwas zu dir zu sagen!"
Er hörte ein Seufzen. "Is gut Benni! Die Frage ist, wie bekomme ich euch da runter?"
Ben zuckte mit den Schultern. Wieder raschelten die Farne. Langsam tastete er sich an der Felswand entlang zu Cléo, um sich an ihr festzuhalten. Schließlich bekam er ihren Arm zu fassen.
"Was denn? Ich überlege!" Ben beugte sich nach unten.
"Guck mal die Büsche...", flüsterte er.
"Die Büsch-" Cléo hielt Inne.
"Was ist?", fragte Ben ängstlich. "Ich sehe nichts, sag mir was da ist!"
"Schhh!", machte sie und trat ihm gegen das Schienenbein. "Ey!"
Er wollte zurücktreten, da bemerkte er eine gigantische, orange flimmernde Silhouette zwischen den Bäumen. Wieder rieb er sich die Augen und diesmal wurde das Bild schärfer.
Ein Tiger? Wirklich? Muss das jetzt sein? Er atmete tief ein. Bestimmt war es kein bösartiges Tier. Dieser Gedanke wollte sich in Bens Kopf zwar nicht so richtig festsetzen, aber er blieb dabei.
Seine Mutter stand stocksteif da, die Augen geschlossen. Der Tiger gab ein grummelndes Geräusch von sich und Cléo zuckte zusammen. Auch Ben erstarrte. Das majestätische Tier schlich mit feinen, bedachten Bewegungen durch das Gras.
Ein echt schönes Tier!
Als es bei Mrs. Vessinger angelangt war, blieb es stehen. Bereit für das Schlimmste kniff Ben die Augen zusammen. Doch der Tiger ging es offenbar langsam an. Er beugte sich zu ihrer Hand und schnupperte daran, stupste sanft dagegen. Ein echt schönes Tier!
Er schlängelte sich elegant um Mrs. Vessinger, die zitternd versuchte sich zu beruhigen. Der Tiger öffnete leicht sein Maul. Ben blinzelte vorsichtig an seinen Fingern vorbei, die vor seinen Augen lagen. Er schielte zu Cléo, die ihre Hände vor dem Mund zusammengelegt hatte, wie für ein Gebet und angstvoll auf das Geschehen starrte.
Der Tiger stupste Mrs. Vessinger noch einmal an, diesmal an der anderen Hand und schlabberte dann mit einer ausgesprochen rosafarbenen Zunge über ihre Finger. Verwundert wagte diese einen Blick zu dem Tier.
Der Tiger machte sich auf und erkundete nun die Umgebung. Er linste in den Teich und stieg dann in aller Gemütsruhe ins Wasser. Es war nicht sehr tief, sein Bauch berührte nicht mal das kühle Nass. Mit seiner Nase stieß er die Oberfläche an. Kleine Wellen bildeten sich und der Tiger hopste erschrocken in die Luft, nur um das Szenario dann nochmal zu wiederholen. Ben musste grinsen.
Wirklich ein sehr schönes Tier! Cléo kicherte leise. Der Tiger schenkte ihnen und Bens Mum keine Beachtung mehr. Er hatte den Piranha entdeckt, der nichtsahnend hin und her schwamm. Verspielt pfotelte der Tiger nach dem Fisch. Es plantschte, Wasser spritzte auf. Belustigt sahen sie alle drei dem Schauspiel zu. Irgendwie schaffte es der Tiger, den Fisch zu fangen. Mit einem stolzen, zufriedenen Gesichtsausdruck marschierte er, den zappelnden Piranha im Maul aus dem Teich in den Wald.
Kaum hatte er das Dickicht betreten, fiel ein Schuss. Sie zuckten zusammen. Geistesgegenwärtig riss Ben Cléo auf den Boden. Er kauerte sich neben sie, die Hände über dem Kopf. Keine Sekunde zu früh. Ein weiterer Schuss löste sich und trennte einen dicken Ast von einem Baum, der direkt auf die Stelle knallte, wo sie eben noch gestanden hatten. Noch ein letzter Knall ertönte und Mrs. Vessinger fiel.
Ben und Cléo harrten eine geschlagene Minute auf dem Boden aus, ehe sie sich vergewisserten, dass es auch wirklich vorbei war. Wieder stiegen Ben Tränen in die Augen, diesmal vor Angst und Trauer. Seine Mutter lag auf dem Bauch im Gras, die braunen langen Haare über die Hände neben ihrem Gesicht. Verzweifelt lief er auf dem Plateau hin und her. Schließlich hängte er sich über den Abgrund.
"Bist du verrückt?", schrie Cléo, den Tränen nahe. Ben antwortete nicht. So hoch konnte es ja nicht sein. Einige Sekunden hing er im Wasserstrahl, dann ließ er sich fallen. Platschnass richtete er sich auf. Er lebte noch, wie er nach einem Augenblick feststellte. Eilig kletterte er aus dem Teich und rannte zu seiner Mutter.
Leblos lag sie da. Er kniete sich neben sie und griff ihre Hand. "Mum!", rief er laut. "MUM!"
Keine Antwort.
Ben strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie klebten auf ihrer Stirn, Schweiß tropfte an ihr herab. Er rüttelte sie vorsichtig. "Mum, komm schon!"
Er hörte einen Platscher im Hintergrund. Kurz darauf hockte Cléo neben ihm. "Cheryl!", sagte sie leise. "Sag doch was!"
Sie rührte sich nicht. Ben drehte sie und augenblicklich wurde ihm schlecht. In ihrem Bauch klaffte eine Wunde, durch die man das Gras sehen konnte. Blut verschmierte ihre Kleidung, den Boden und Bens Hände. Seine Augen weiteten sich. Cléo legte ihm eine Hand auf den Rücken. Noch einmal schüttelte er seine Mutter. Sah in ihr lebloses Gesicht, ihre dreckigen Wangen, ihr leicht geöffneter Mund.
"Cléo du bist doch...ich meine du kannst doch... kannst du nicht?". Sie sah ihn aus traurigen Augen an. "Ben", flüsterte sie dann.
"Sie ist tot!"
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