Kapitel 4
Bisher war nichts Schlimmes passiert, zumindest nicht schlimmer als das, was ich von meinen Mitschülern gewohnt war. Wovor hatte ich Angst? Meine Fantasie ging eindeutig mit mir durch.
Das Haus ragte unheilvoll über mir auf, kein Mucks rührte sich. Bei näherer Betrachtung sah ich, dass es insgesamt einen ziemlich lädierten Eindruck machte. Nicht nur an der Eingangstür blätterte die Farbe ab, auch an der Fassade und den teilweise schief hängenden Fensterläden. Schindeln lagen überall im Gras herum und waren nicht wieder angebracht worden. Ob es wohl reinregnete? Letzten Endes machte alles einen eher traurigen Eindruck.
Gedankenverloren ließ ich Sand durch meine rechten Hände rieseln, während ich mein Pausenbrot mampfte. „Ok Berenike. Du kannst hier warten bis zum Sanktnimmerleinstag, oder du gehst da rein und sagst der Hexe hallo", dachte ich bei mir und erhob mich langsam, nachdem ich fertig gegessen hatte. Schritt für Schritt ging ich auf die Tür zu, öffnete sie erneut und lief hinein. Dieses Mal passierte ich die Küche und stieg die Treppe hinauf, es gab drei Zimmertüren, aber ich ließ sie in Ruhe und erklomm einen weiteren, kleineren Treppenabsatz. Am Ende war eine Tür, durch die ich leise Musik hörte. Zitternd legte ich die Hand auf die Türklinke und drückte sie langsam nach unten. Ich hielt den Atem an, als ich die Tür öffnete.
„Sie hätte auch klopfen können", vernahm ich Keks Gekrähe. Ein belustigtes Kichern erklang. „Sei froh, dass sie überhaupt endlich auftaucht", antwortete Kittekatt schnurrend.
Die Hexe stand mit dem Rücken zu mir und sah hinaus. Ich trat neben sie und sah zu, wie die Wolken über den Dächern der Stadt weiterzogen und die Dämmerung einsetzte. „Warum?", fragte ich irgendwann. Zeit verstrich, ich dachte schon, sie hätte mich vergessen, da drehte sie sich langsam zu mir und sah mich mit ihren durchdringend grünen Augen musternd an. Schließlich verengten sich ihre Augen und sie meinte scharf: „Ich bin doch nicht Gandalf! Also wirklich nicht. Kann auch niemand von mir verlangen." Dann stürmte sie aus dem Zimmer.
Die Tiere folgten ihr stumm und mieden meinen Blick. Bestürzt und überrascht blieb ich allein zurück. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?Kopfschüttelnd ging ich ihnen nach. Langsam wurde ich wütend. Ich fand die Drei unten in der Küche beim Tee aufgießen. Es gab sogar eine Tasse für mich, die ich stumm entgegennahm.
„Viel reden tust du schon mal nicht", kommentierte sie düster. „Gibt keinen Grund", murmelte ich schnippisch und pustete über das heiße Wasser. Die Frau regte mich auf. Nachdenklich beobachtete sie mich.
„Wusstest du, dass ich deinen Namen ausgesucht habe?", erkundigte sie sich. Erstaunt hob ich den Kopf.
„Am Tag deiner Geburt fand deine Mutter ein grünes Ahornblatt mit deinem Namen. Es war verzaubert und sie konnte nicht anders, als dich Berenike zu nennen. Sie erinnert sich nicht", erklärte sie belustigt.
Ich starrte sie ungläubig an. Sie war das gewesen? Dass ich nicht die Tasse nach ihr schmiss, war nur dem Umstand geschuldet, dass ich nicht die Tiere mit heißem Tee bespritzen wollte. „Arg...gr...arg", kam aus meinem Mund.
Sie kicherte. „Gefällt dir nicht die Siegreiche zu sein?", fragte sie unschuldig, aber ich spürte die Gefahr hinter ihren Worten, wenn ich das Falsche sagen würde, konnte alles Mögliche passieren. Sie war immerhin eine Hexe und bisher waren schon viele unvorhersehbare Dinge geschehen!
Also sagte ich, wie so oft, einfach gar nichts und zuckte mit den Schultern. „Ich bin kein Gandalf, aber du bist ein Neville, hmmm? Etwas einfältig?", fragte sie lauernd. „Neville ist ein Held am Ende", erklärte ich erhaben. Ihre Augen blitzten, aber sie sagte nichts und trank ihren Tee. So als ob ich ihr bestätigt hätte, was sie wissen wollte.„Warum haben sie das Blatt geschickt?", erkundigte ich mich schließlich. „Für dich, Madam Spinnweb", zischte sie.
Ich atmete tief durch und wiederholte brav: „Wa-warum ha-haben sie das Blatt ge-geschickt, Ma-Ma-Madam Spinn-Spinnweb?"
„Das hab ich nicht", erklärte sie. Die Frau regte mich auf, hatte sie nicht gerade noch gesagt, dass sie meinen Namen ausgesucht hatte?
„Wer dann?", fragte ich.
Sie lächelte zum ersten Mal ehrlich. „Die Magie natürlich. Genau am 777 Jahrestag einer Hexe wird die Nachfolgerin", dieses Wort knurrte sie wieder, „ausgesucht. Ich konnte nur einen Namen geben, die Magie bestimmt den Rest."
„Nach- nach-nachfolg-Nachfolgerin? IIIICH?", stammelte ich.
„Ja, du armes Ding, bist meine Nachfolgerin und glaub mir, das wird kein Zuckerschlecken. Kinder entführen, Tiere quälen, Menschen vergiften, da hat man ganz schön zu tun", grinste sie böse. Ihre beiden Begleiter sprangen empört auf und riefen: „Das ist doch Unfug, Spinnweb!" und „Jetzt mach aber mal nen Punkt!"
Ich war ihnen in diesem Moment so dankbar, ich hätte der alten Vettel das sofort geglaubt. „Nicht mal ein kleines bisschen Spaß gönnt ihr mir", schimpfte sie und starrte die Zwei wütend an, dabei verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Nun gut. Um hier heute noch rechtzeitig verschwinden zu können, musst du jedenfalls deinen Weg selber finden. Viel Glück. Ich seh dich dann morgen wieder. Da ist die Tür", sagte sie und zeigte auffordernd auf dieselbe.
„Nicht – nicht ihr ernst", murmelte ich erschrocken, aber sie hatte sich ein Buch gehext und blätterte bereits konzentriert darin. Ich erhob mich und stolperte zur Tür, warf noch mal einen Blick auf die Szene der friedlich miteinander dasitzenden drei seltsamen Gestalten, die mich überhaupt nicht mehr beachteten, und verließ dann das Haus. Die Tür schmiss ich etwas – aber wirklich nur etwas – lauter zu, als was man als normal hätte bezeichnen können. Das war alles, was ich an Ärger hinausließ, noch immer war ich viel zu verängstigt, als die Hexe zu reizen.
Da stand ich wieder im bereits ziemlich düsteren Garten, den ich schon gefühlt tausend Mal versucht hatte zu verlassen. Würde es erneut genauso sein, wie bei meinen letzten Versuchen? Spinnweb hatte gesagt, ich solle selber herausfinden, wie ich nach Hause kam. Das ließ mich stark annehmen, dass ich vergessen konnte das Grundstück zu überwinden, wenn ich nicht irgendetwas anders machte.
Dies war ein magischer Ort, ziemlich runtergekommen – zugegeben – aber trotzdem verzaubert. „Gar-Garten?", fragte ich. Die Zeit blieb stehen, vorher und das war mir bis dahin gar nicht aufgefallen, waren überall Geräusche gewesen: ein Zirpen hier, ein Rascheln da, ein Quietschen hier, ein Rauschen dort. Aber als ich gesprochen hatte, war plötzlich alles mucksmäuschenstill, so als ob man mir zuhörte. „Ehm – wärst – wärst du so freundlich, mich raus-rauzulassen?", erkundigte ich mich und da entstanden im Dämmerlicht Lichtpunkte, denen ich folgte. Ein kleiner Weg breitete sich vor mir aus. Mein Herz klopfte, aber es dauerte nicht lange und ich stand vor dem Gartentor. „Danke!", rief ich glücklich und schaute zurück. Die dunkle Silhouette des Hauses setzte sich nun klar vom Rest des Gartens ab und ich sah deutlich am erleuchteten Dachfenster des Hexenhauses eine Gestalt stehen. Es war ihr also doch nicht gleichgültig gewesen, ob ich ihr Reich verlassen konnte, dachte ich triumphierend und verließ das Grundstück. Im selben Moment war ich wieder im Vorgarten meines eigenen Hauses und lief davon weg. Verblüfft blickte ich zurück und meine Mutter stand in der Tür und winkte mir, bevor sie kurz darauf verschwand und sich die Tür schloss.
Es war Morgen und der Tag hatte noch gar nicht stattgefunden, begriff ich, ohne zu wissen, woher ich das so genau wusste. Allerdings waren die Katze und der Rabe weit und breit nicht zu sehen. Nur meine Nachbarin kam langsam in meine Richtung, um zur Bushaltestelle zu gehen. Fassungslos stand ich da und versuchte herauszufinden, was zu tun war. Dann entschloss ich mich, ebenfalls zum Bus zu schlendern. Immerhin hatte ich mein Ziel, das Hexenhaus zu besuchen, verloren und ich konnte wohl kaum nach Hause.
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