Kapitel 1
Es war der fünfte September zweitausendundsechzehn, als ein groß gewachsenes, dürres Mädchen aus dem großen Stockbus stieg, welcher zischend, langsam mit den Reifen knirschend vor einem riesigen Gebäude zu stehen kam. Das Mädchen sah sich um, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und zuckte zusammen, als ihr ein schwarz gekleideter Herr auf die Schulter tippte und ihr ihr Gepäck abnahm. Sie lächelte dankend, dachte nicht weiter darüber nach, denn solche Dinge war sie gewöhnt. Man mochte es ihr nicht ansehen, aber ihre Eltern besaßen einiges an Geld, und das war der Grund, warum sie hier war. Dieses riesige Gebäude, eine erstaunliche Architektur aus moderner Baukunst und altem, protzigen Steinhaus war eine Schule. Genau genommen waren alle Schüler hier reich, viel reicher als das Mädchen. Das erklärte auch, warum sie nur zu zweit, mit einem anderen Mädchen, in dem Bus gesessen waren. Die jungen Damen und Herren, zukünftige Klassenmitglieder von ihr, wurden großteils selbst gebracht, von einem Butler oder den Eltern persönlich. Ihre Eltern waren viel zu beschäftigt, um sie zu bringen, deshalb war sie kurzerhand in diesen Bus gestiegen. Sie rückte ihr lilafarbenes Haarband mit großen weißen Tupfen zurecht und straffte ihr olivgrünes Shirt. Der Name dieses Mädchens war Leigh. Und diese Schule hier, hieß Tragursbach. Genau genommen hieß der Ort so, und deshalb war die Schule auch so benannt. Leigh schritt also dem Butler, der ihr Gepäck schwitzend die steile Marmortreppe hinaufschleppte, nach und stellte fest, dass sie nicht alleine war. Viele Teenager verabschiedeten sich von ihren Eltern. An der Schule gab es ein Internat, denn die meisten Schüler wohnten weit weg, oft sogar außerhalb des Landes.
Leigh schritt durch eine große Glastür und fand sich in einem protzigen großen Raum, der Eingangshalle, wieder. Plötzlich wurde sie aufgeregt und Blut schoss ihr durch den ganzen Körper. Nach und nach folgten weitere Jugendliche und sammelten sich in der Mitte der Halle. Leigh blickte auf ihre ausgetragenen schwarzen Sneakers, die auf dem roten Steinboden standen, und fühlte sich plötzlich ziemlich fehl am Platz. Die meisten Mädchen um sie hatten ein schönes Kleid und dazu passende Schuhe an, deshalb war Leigh verdammt froh sich heute ausnahmsweise nicht für die Jogginghose entschieden zu haben. Eine klein gewachsene Braunhaarige zwängte sich an ihr vorbei und warf ihr einen verächtlichen Blick zu, als Leigh genervt schnaubte. Sie hoffte,nur schnell auf ihr Internatszimmer zu kommen...
Leighs Gedanken wurden unmittelbar unterbrochen, als die große Menschentraube sich langsam in Bewegung setzte. Eine blonde Frau mittleren Alters kam auf sie zu und fragte
nach ihrem Namen. Anschließend bekam Leigh einen Anstecker, die Frau schob sie auf einen Gang zu und befahl ihr der Gruppe zu folgen, denn dann würde sie schon auf ihr Zimmer finden. Den Typen mit ihrem Gepäck hatte Leigh schon längst aus den Augen verloren und sie nahm sich vor, nachher nach ihm zu suchen. Leigh wurde gegen eine blonde Jugendliche mit wässrig blauen Augen geschubst und entschuldigte sich vielmals. „Kein Problem", sagte das Mädchen, „hübsches Tuch." Sie wollte sich bedanken, doch wurde von den lärmenden Schülern weitergedrängt, in einen achteckigen, beeindruckend monströsen Raum, der sich sehr weit nach oben streckte und schon eher wie ein Turm wirkte. Das wird das Internat sein... Ziemlich modern, dachte sie. Nervös griff sie sich an ihr Haarband. In der Mitte der Halle befand sich ein Aufzug und rund um ihn schlängelte sich eine Wendeltreppe in den Turm hoch. Der Boden war aus einem grauen Stein gefertigt, und es zweigten mehrere Glastüren ab. Auch nach unten gab es eine Treppe und Leigh fragte sich, was da sein mochte. Die Gruppe war zum Stehen gekommen, sah sich um und vereinzeltes Murmeln hallte durch den Raum. „Ruhe", rief jemand, um die Jugendlichen zum Verstummen zu bringen. „Ich bin Katharina Lechler, Schulsprecherin der Mädchen, Jahrgang 5a. Die Gepäckstücke wurden schon auf eure Zimmer gebracht. Die Zimmernummer findet ihr auf euren Ansteckern." Katherina war ziemlich groß, rothaarig und hatte eine große Nase. Ihre blauen Augen blitzen freundlich, jedoch hatte sie einen seriösen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Leigh fummelte an ihrem Anstecker. Leigh Lysandra Hondrus – 1c – Stockwerk 6, Zimmer 2. Katharina Lechler ergriff wieder das Wort: „Ihr sollt jetzt alle eure Zimmer aufsuchen. Um 17:40 Uhr gibt es Abendessen, hier im Speisesaal". Sie zeigte auf eine der Glastüren. „Dort werden euch dann noch andere wichtige Infos gegeben." Zustimmendes Murmeln glitt durch die Menge und die Mädchen drängten Auf den Aufzug zu. Ein paar Vereinzelte rannten die Treppe hoch. Ich schaffe es niemals in den Aufzug, dachte Leigh als sich ungefähr zehn kichernde Mädchen in den hineindrängten. Also muss ich wohl oder übel die Treppe hoch...
Außer Atem, mit glühenden Wangen kam sie oben an. Hier war es viel ruhiger und Lampen, die an den Wänden hingen, strahlten ein wunderbares, warmes Licht aus. Das Stockwerk war ebenfalls wie ein Achteck aufgebaut. Sie ging im Gang im Kreis, bis sie Zimmer 2 fand. Insgesamt hatte Leigh acht Zimmer gezählt. Sich fragend, ob ihre Zimmerkollegin schon da war, öffnete Leigh die Tür. Ein angenehmer Geruch, den man auch auf Hotelzimmern finden konnte, schlug ihr entgegen, als sie das große Zimmer betrat. Ihre Sneakers quietschten leicht auf dem Parkettboden. Leigh sah sich um. In der Mitte des Raumes befanden sich eine grüngelbe Couch und ein Glastisch, an der Wand hing ein Fernseher, nicht der allerneueste, jedoch modern. Ein Teppich, dieselbe Farbe wie die Couch, führte zu den Betten. Sie befanden sich auf einer höheren Ebene, die mit zwei Stufen zum Wohnzimmer verbunden war. Es waren zwei Stück. Recht einfach, schlicht, normal. Sie passten nicht wirklich zu dem modernen Wohnzimmer, aber genau das machte sie sehr verlockend, und Leigh war versucht, sich sofort in eines der Betten zu werfen und einzuschlafen. Dann fiel ihr auf, dass das linke Bett bereits bezogen war und eine Person unter der Bettdecke lag. Leigh fragte sich, ob sie schlief und ob sie sie wecken sollte, entschied sich dann dagegen, und öffnete den Schrank neben ihrem Bett. Er war riesig, begehbar, hatte einen Spiegel innen drin und eine Beleuchtung. Ein Rascheln hinter ihr, die Zimmerkollegin schälte sich aus ihrer Bettdecke. Als Leigh sich umdrehte sah sie ein blondes Mädchen mit geschminkten Augenringen und riesigen Spinnen als Ohrringe. Sie rieb sich verschlafen die Augen, wobei sie ihre Fake-Augenringe quer über ihr Gesicht wischte. Sie hatte eindeutig Ähnlichkeit mit einer Mischung aus Fledermaus und Pandabär und versprühte eine düstere Stimmung in dem hellen Zimmer, was in Leigh Unbehagen hochsteigen ließ. Als das Mädchen, das Leigh für ein paar Sekunden nur still gemustert hatte, den Mund öffnete, um ein „Hallo" auszusprechen, kam nur ein Krächzen heraus, welches keine Ähnlichkeit mit einer Begrüßung hatte. Leigh gab sich einen Ruck und sagte: „Hallo, ich bin Leigh. Hustenbonbon gefällig?" Ihre Zimmerkollegin starrte Leigh an, verdrehte genervt die Augen stieg aus dem Bett und in den Wohnbereich herunter. Ups... Wahrscheinlich war ich ihr zu frech. Ich habe eigentlich nicht vor mit einer schlecht gelaunten Zimmerkollegin im Internat zu liegen.
Sie folgte dem Mädchen hinunter und beschloss, ihr Zimmer weiter zu besichtigen. Sie fand heraus, dass sie sich mit einem zweiten Zimmer eine Miniküche teilten, ein Bad besaßen, in dessen Wanne eine Whirlfunktion eingebaut war und Leigh fragte sich, wie viel ihre Eltern für diese Schule bezahlten. Sie fühlte sich nur wenig wohl, aber das kam hoffentlich noch. Dann merkte sie, dass ihr Gepäck offensichtlich neben der Couch stand. Hatte mich der Butler nach meinem Namen gefragt? Sie dachte nicht weiter nach und ließ sich auf die Couch fallen. Wie sollte sie die Zeit nun totschlagen? Immerhin hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit, bis es Abendessen gab.
Leigh entschied ihren Koffer auszuräumen und ihren Eltern eine SMS zu senden und bemerkte, dass sie sich das riesige Gerät von Schrank mit der Fledermaus teilte. Die Fledermaus hatte bereits eine Hälfte beschlagnahmt, sie überquoll regelrecht von schwarzen Klamotten über, doch ganz unten fand Leigh einen kleinen Stapel mit bunten, hellen Sachen, die die Fledermaus nicht allzu oft zu benutzen schien. Während sie weiter über die Kleidungsgewohnheiten ihrer Zimmerkollegin nachdachte, wurde sie von einer Fliege belästigt und Leigh sah es als gutes Zeichen, dass so eine Spezies in diesem Lebensraum überleben konnte. Es war nicht so, dass Leigh es nicht gemütlich fand, nein. Sie kannte nur etwas anderes. Ihr Zimmer war ganz auf sie abgestimmt, von ihr dekoriert und an den Wänden reihten sich Poster von Charakteren aus ihren Lieblingsbüchern und Filmen. Jetzt wusste Leigh, was sie an dem Internatszimmer störte: Nirgends war ein Hinweis darauf, dass hier jemand wohnen könnte. Keine stehen gebliebene Teetasse, keine herumliegenden Zettel, keine verstreuten Klamotten, keine Haftnotiz, die flüchtig auf eine Tür geklebt worden war, keine Dekoration, obwohl Leigh es liebte, zu dekorieren. Sie bezweifelte, dass die Fledermaus sie ließ. Wahrscheinlich würde es ihr im wahrsten Sinne des Wortes zu bunt werden. Sie beschloss sich umzuziehen, um keinen schlechten Eindruck zu machen. In ihrem Schrank hingen bereits ihre selbstgenähten Sachen, (Leigh nähte für ihr Leben gern) inklusive eines Kleides. Es war lila gepunktet und passte gut zu ihrem Haarband. Sie beschloss, es anzuziehen. Leigh fand, dass es ihr sehr gut stand und perfekt passte. Eine Woche hatte sie daran gesessen, vom Schnittmuster bis zum fertigen Werk, und sie war sehr stolz darauf. Es war ein merkwürdig befriedigendes und erfüllendes Gefühl, etwas fertig zu bringen, an dem man hart gearbeitet hatte und man es dann verwenden oder ansehen konnte und sich die Brust mit Stolz füllte. Leigh tat nichts lieber als sich im Spiegel zu betrachten. Das mochte selbstverliebt klingen. Sie sah sich nicht etwa an, weil sie besonders schön war oder weil sie sich bewunderte. Sie mochte einfach ihren Stil, ihre Kleidung, die Art, wie sie sich die Haare zu einem Dutt band, und die riesigen, kreisrunden goldenen Ohrringe, die an ihren Ohren runter hingen und gegen ihren Hals baumelten. Sie wirkten geheimnisvoll und hatten etwas an sich, das Leigh nicht beschreiben konnte. Anders als die meisten Mädchen in ihrem Alter hasste Leigh offene Haare. Wie sie in ihr Gesicht hingen, sie unangenehm im Nacken kitzelten, wo sich die Hitze staute, wenn sie nicht auslüftete und die Haare schwungvoll nach oben warf. Einmal hatte sie überlegt, sich eine Jungenfrisur schneiden zu lassen, hatte es dann aber doch sein lassen, da sie sich erstens nicht getraut hatte und zweitens Angst hatte, es würde ihrem typischen Stil schaden. Sich fragend, wo ihre Zimmerkollegin hin verschwunden war, schob sie sich aus dem Kleiderschrank und stellte fest, dass es schön langsam Zeit war, sich nach unten zu bewegen.
Der Speisesaal war riesig. Kronleuchter, die Leigh selbst für Tragursbach übertrieben fand, hingen von der Decke und ein riesiges Glasfenster ersetze die linke Speisesaalwand, durch die man auf den angrenzenden Nadelwald einen Blick erhaschen konnte. Die Tische waren halbwegs klein, kreisrund und aus einem dunkeln Holz. Als die Schüler aufgefordert wurden sich zu setzten, quetschte sich Leigh zu den nächstbesten, nicht zu alt aussehenden Schülern, die ziemlich verwirrt schienen. An einem Tisch hatten sechs Leute Platz, darunter ein rothaariger abwesender Junge, ein Mädchen, das auf sein Handy starrte und dabei eine grau gefärbte Haarsträhne um ihren Finger wickelte, ein hyperaktiv wirkendes braunhaariges Mädchen, das die Leute um sich aufgeregt anstarrte, sodass ihre Glubschaugen fast hervorquollen, ein edel wirkender Junge mit schwarzen Haaren und Anzug mit rosafarbener Krawatte, der gelangweilt auf seine teure Uhr aus Gold starrte, Leighs Zimmerkollegin, die seltsamerweise neben ihr Platz genommen hatte, und schließlich sie. Ein bunter, zusammengewürfelter Haufen, wie man meinen könne, aber sie hatten ja alle eine Gemeinsamkeit.
Als schließlich das Dinner serviert wurde (Leigh erfuhr, dass nur bei Erstklässlern zur Begrüßung serviert wurde und selbst diese Schule Grenzen hatte), stieg Katherina Lechler auf ein Podest und begann Informationen bekannt zu geben. Unter anderem erfuhren die Neuankömmlinge, dass der Unterricht um acht Uhr begann und jeden Tag anders endete. Die Fledermaus redete kein Wort und starrte nur nach vorne zu der Schulsprecherin, im Gegensatz zu Hara, dem hyperaktiven Mädchen, das ununterbrochen redete und Fragen stellte und Leigh gar nicht mehr aus den Fängen lassen wollte. Jetzt war Leigh also da: in dem Speisesaal des Internats dieser Schule, in die nur Kids mit reichen Eltern gingen; diese Schule, die Leigh an Schulen aus ihren Lieblingsromanen erinnerten, obwohl sie nie recht scharf darauf gewesen war, von zuhause weg zu sein. Mit vollgeschlagenem Bauch ließ sich Leigh schließlich in ihren Stuhl sinken.
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