Myrax
Der elfte Meister hatte schon viele Gerufene trainiert. Ihnen beigebracht, wie sie mit ihren Kräften umzugehen hatten, ihnen erklärt, wie sie die Energie, die sie ihrem Ruf zur Verfügung stellten, kontrollieren konnten, sodass sie nicht Opfer ihrer Selbst wurden. Und obwohl der elfte Meister, zweifach Gerufener der Kampf- und Heilkunst, schon viele starrköpfige Neunmalkluge ausgebildet hatte, hatte ihn noch niemand so schnell zur Weißglut treiben können wie Arox aus Ljec, der Gerufene des Wassers.
Niemand würde ihm seinen Ärger ansehen. Myrax hatte schon zu viele Kämpfe ausgefochten, als dass er es sich hätte erlauben können, dass sich die Emotionen auf seinem Gesicht wiederspiegelten. Aber für einen kurzen Moment wünschte er sich, dass er seinen Kopf nicht kahlgeschoren hätte, nur damit er sich die Haare raufen konnte.
Als er Arox nach dem Zweikampf einen kleinen Zettel mit Zeit und Ort ins Wams geschoben hatte, war davon ausgegangen, dass sich der Gerufene davor drücken würde und Myrax den Jungen an den Ohren zu seiner Ausbildung schleifen müsste. Erstaunlicherweise war Arox von alleine aufgetaucht. Natürlich mit reichlicher Verspätung; anderenfalls könnte man ja glauben, dass er tatsächlich ein Gerufener werden wollte. Was für eine Schande.
»Konzentriere dich«, befahl er dem Gerufenen. Genauso hätte er Pulz auffordern können, heute in die entgegengesetzte Richtung über das Weite Tal zu ziehen. Dieser Junge hatte die Konzentrationsspanne eines Kleinkindes, das man mit zu viel Zucker fütterte und dann auf einen Jahrmarkt schleifte. Und es dort mit noch mehr Süßkram eindeckte.
»Nimm dir eine gute Erinnerung vor, etwas das dich im Hier und Jetzt verwurzelt, dass dich davon abhält, dich im Rausch des Rufes zu verlieren.«
Eins musste man dem verlorenen Gerufenen lassen: Sein Unterbewusstsein hatte eigenständig gelernt Kraft aus dem Ruf zu schöpfen. Ein durchschnittlicher Gerufener an der Akademie ermüdete schon nach ein paar Minuten – zumindest zu Beginn seiner Ausbildung – während Arox sich schon seit einer geschlagenen Stunde mit Konzentrationsübungen beschäftigte, ohne um eine Pause zu bitten.
Nach einer weiteren Stunde war sich Myrax sicher, dass Arox ungewöhnliche Stärke nichts mit seinem Ruf zu tun hatte. Nein, vermutlich war er einfach nur zu stolz, um einzugestehen, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte. Vermaledeiter Erstling.
Nicht eine Sekunde dachte der Meister daran, Arox eine Pause anzubieten. Der Junge glaubte, dass es von Schwäche zeugte, sich ausruhen zu müssen – Myrax würde ihn weiter üben lassen, bis sein Lehrling seinen Stolz abwarf. Arox war vielleicht ein Sturkopf, aber Myrax Geduld war beinahe unendlich. Zumindest wenn es darum ging, dem Gerufenen des Wassers eine Lektion zu erteilen.
»Deine Erinnerung ist nicht stark genug. Du musst die Bilder ganz klar vor dir sehen. In satten Farben, bis ins letzte Detail, ohne jegliche Ablenkung.«
Die Energie zwischen Arox Händen flackerte auf. Für einen kurzen Augenblick aber nur, bevor sie sich wieder im Nichts verlor. Der Gerufene murrte frustriert vor sich hin. Myrax wusste nicht, ob er seinem Lehrling sagen sollte, dass es einem kleinen Wunder gleichkam, dass er schon jetzt seinen Ruf physisch manifestieren konnte; nicht mal der Meister selbst hatte das am ersten Tag seiner Ausbildung vollbracht, obwohl seine Kräfte außerordentlich waren. Myrax entschied sich dagegen. Ein kleines Kompliment konnte jedoch nicht schaden.
»Nicht übel. Was hast du dir vorgestellt?« Die Erinnerung, die Arox verwendet hatte, musste eine tiefe Bedeutung haben, vermutlich aus seiner Kindheit, eine Erinnerung an seine Familie oder seine erste große Liebe, vielleicht ein kleines Geschwister, das Arox bedingungslos liebte. Eine Erinnerung, so stark, musste tief im Gerufenen verwurzelt sein. Sie war seine Essenz, seine Stärke.
»Brüste«, antwortete Arox. Der elfte Meister wusste nicht, ob er dies für einen Scherz halten sollte. Er hoffte es. Anderenfalls müsste er den Gerufenen bemitleiden, weil seine glücklichsten Erinnerungen derart oberflächlich waren. Und gerade im Moment wollte er Arox lieber Kopf über an einen Baum hängen, als Mitleid für ihn zu empfinden.
»Noch einmal«, wies Myrax an, ohne auf das vorhergehende Thema anzugehen. Er atmete tief ein und formte eine helle Lichtkugel vor seiner Brust.
»Was zum Pulz«, fluchte Arox vor sich hin und starrte auf die Kugel vor seinem Meister. »Ich dachte du bist Heiler und Kämpfer oder so. Keine Fackel.«
»Mit der geeigneten Ausbildung beschränken sich die Fähigkeiten eines Gerufenen nicht nur auf seinen Ruf. Die Grundlagen jeglicher Rufe stehen jedem offen, der Magie in sich trägt und seine Kraft zu formen lernt.«
»Ich kann also auch heilen lernen?«, fragte Arox interessiert und Myrax konnte nur mit großer Mühe die Überraschung von seinem Gesicht verbannen. Er hatte erwartete, dass die Aussicht auf einen anderen Ruf seinen Lehrling freute – immerhin schien er nicht besonders glücklich zu sein, vom Wasser gerufen zu werden – aber er hätte erwartet, dass sich der junge Gerufene für die Kampfkunst interessieren würde. Oder vielleicht die Kunst der Gedankenkontrolle. Aber nicht für die Heilung, die nicht nur als eine der gewöhnlichsten Rufe galt, sondern auch als eine der schwächsten, da man sich mit der Heilkunst allein nicht verteidigen konnte.
»Mit viel Übung, ja.«
Voller Entschlossenheit schloss Arox die Augen und vertiefte sich in seine Erinnerungen, um nach der Quelle seiner Kraft zu tasten. Myrax wusste nicht, was er sagen sollte, als sich zwischen Arox' Händen erneut die Energie sichtbar zeigte und die Kugel kraftvoll an Ort und Stelle verharrte. Myrax selbst hatte fünf Tage gebraucht, um diese Übung zu meistern.
»Und jetzt versuche dasselbe zu erreichen, ohne aber deine Hände als mentale Hilfe vor dich zu halten. Dein Ruf hat nichts mit körperlichen Bewegungen zu tun, sondern ist nichts Weiteres als eine mentale Projektion deines Willens.«
»Viele Gerufene verwenden Bewegungen«, merkte Arox an. »Eigentlich alle, die ich bis jetzt getroffen habe.«
»Du hast schon recht, ein Großteil der Gerufenen verwendet Bewegungen, um aus ihrer Kraft zu schöpfen. Die Bewegungen helfen ihnen, um sich auf ihren Ruf zu konzentrieren und die mentale Barriere zu ihrer Magie zu überwinden. Eine schlechte Angewohnheit, die sich über die Jahre eingeschlichen hat, da sie die Kontrolle über einen Ruf erleichtert. Doch treffen zwei verfeindete Gerufene aufeinander, gewinnt klar der die Oberhand, der seinen Ruf meistern kann, ohne dass seine Bewegungen seinem Gegner verraten, was er vorhat.«
Nachdenklich runzelte Arox seine Stirn. »Ein richtiger Gerufener kann also seine Kräfte nutzen, ohne dass jemand überhaupt wahrnimmt, dass er Magie wirkt?«
»Ja und nein. Es gibt Techniken, die ein Gerufener lernen kann, um in anderen Menschen zu erkennen, ob sie einen Ruf in sich tragen. Diese Technik erlaubt mir nach verlorenen Gerufenen zu suchen, ohne darauf warten zu müssen, dass jemand Gebrauch von seinem Ruf macht. Diese Techniken zu erlernen dauert jedoch Jahre und die meisten Gerufenen halten es nicht für notwendig, diese Fähigkeiten zu erwerben.«
Der Gerufene des Wassers nickte verstehend undfokussierte sich wieder auf seine Übungen. Myrax konnte sich nur darüberwundern, wie plötzlich sich das Verhalten seines Lehrlings verändert hatte.Einerseits freute es ihn, andererseits ängstigte es ihn, wie unberechenbar sichsein Schüler zeigte.
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