XX. Magier, wollt ihr ewig leben?
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Um den Kristallsee erstreckte sich eine Welt, die eher all den Märchen und Sagen ihrer Kindheit entsprungen schien, statt der bitteren Kriegsrealität.
Die pittoresken Fassaden eines echten Palasts schraubten sich in die Höhe, Damen und Herren in Roben aus feinsten Stoffen ruhten oder flanierten am Ufer, versteckt durch die langen Äste der Trauerweiden und doch beobachtet von den leblosen Augen der Marmorstatuen.
Die drei Schicksalschwestern, alte Könige und Reiks, ja, selbst das auf ewig junge Gesicht von Fürst Zepan dem Träumenden.
Doch all das war nich Cäcilies Welt.
Sie stapfte fünf Meter tiefer, in der schummrigen Dunkelheit unter dem See und ließ das bläulich Licht, das ihrer Handfläche entströmte, noch ein wenig heller glimmen.
In dieser erdrückenden Nacht war das Klacken ihres Stocks die einzige Konstante neben dem stetigen Tropfen des Grundwassers, das hallend von den hohen Decken auf Gestein traf.
Der Boden war schwarz und glitschig. Jeder Schritt wurde zu einem Wagnis und jeder Lichtstrahl wurde restlos verschluckt, doch das war kein Vergleich zu den Wänden.
Bei den drei, nicht im Geringsten, denn Schwolent hatte sie direkt in eine Nekropole geschickt.
Bleiche Schädel und Gebeine glommen im wabernden Schein der Magie.
Ihre Fratzen grinsten ihr manisch entgegen, als würden sie Zilli noch im Tode verhöhnen wollen.
Du hättest zu uns kommen sollen, raunten sie ihr zu. Ihre Stimmen ein geisterhafter Singsang. Schwester, wir warten auf dich.
Am liebsten wäre sie umgedreht, hätte die Beine in die Hand genommen und wäre an die Oberfläche gesprintet.
Aber sie konnte nicht.
Was hielt die Welt da draußen mehr für sie bereit als das hier?
Generäle hinter der nächsten Tür entschieden über ihr Leben, nicht diese Skelette.
Trotzdem beeilte sie sich, Schwolents Dienstboten regelrecht an den Fersen zu kleben.
"Was ist das für ein Ort?", hauchte sie, als würde alles Laute die Toten aufwecken. "Das Neue Schloss wurde erst vor knappen zweihundert Jahren erbaut. Das hier aber... Es wirkt älter."
Automatisch zuckte die Magierin zusammen, als der Dienstbote in normaler Lautstärke antwortete:"Spüren Sie keine Magie mehr an den Knochen?"
Sie schüttelte den Kopf. Starb ein Magier, löste sich die Magie. Sie wechselte den Träger. Genau wie die Seele ihres Besitzers.
Vielleicht war beides sogar bedeutungsgleich.
"Man nennt es den Gang der Schande, er ist selbst älter als der Geheimrat Saphir", erklärte er nüchtern. Das hier war reine Routine für ihn. "Die Madame befiehlt mir oft, ihn zu benutzen. Zum Schmuggeln- Informationen, Waren, was auch immer sie im Schloss braucht. Neuerdings findet Sie Freude an Intrigen."
"Das ist ja alles schön und gut", warf sie ein. "Aber das erklärt noch lange nicht, warum man es für gut erachtet hat, ein Schloss auf einem Friedhof zu bauen."
"Ich dachte, Sie wären Historikerin?"
"Und ich dachte, Sie hätten Anstand", schnappte sie zurück, bevor sie einwarf:"Außerdem bin ... war ich Kuratorin. Kunstgeschichte ist ganz anders als das hier."
Der Dienstbote drehte sich nicht zu ihr um, als er erwiderte:"Jedes Kind, das in Neu Berun aufgewachsen ist, kennt die Legende um den Gang der Schande. Als das alte Schloss noch stand und die Reiks der alten Zeit regierten, hatten sie die Geheimgänge zur Flucht gebaut. Später wurde es zur Nekropole, als man dachte, die Knochen der Feinde wären ein gutes Fundament für eine starke Feste."
Ein grausiger Verdacht schlich sich in sie.
"Was heißt später?"
Noch immer war seine Stimme monoton und stumpf, als er antwortete:"Die Große Ausmerzug. Das Werk König Abelards."
Abelard der Magierschlächter.
Zilli musste automatisch schlucken und ihre Hände krampften sich um ihren Stock.
Das hier war ein Massengrab für Magier.
Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, glitt ihre Hand zu dem Flachmann und sie stürzte den gesamten Cognac ihre Kehle herab.
Vor wenigen Wochen noch hätte sie sich unter der herben Schärfe des Alkohols geschüttelt, aber jetzt war da nichts.
Sie sprachen kein Wort mehr.
Aber mit jedem Schritt wickelte sich der Diener tiefer in seinen Mantel, bis sie auf eine Tür stießen, die von Spinnenweben verklebt worden war.
"Ab hier beginnt Ihre alleinige Reise. Seien Sie leise", mahnte der Dienstbote
Als ihre Hand auf der eiskalten Klinke ruhte, fragte sie sich, ob Schwolent sie geradewegs in eine Falle lockte.
Aber was sollten sie schon tun? Sie töten?
Wer weiß, vielleicht würde man sie dieses Mal sogar anständig beerdigen.
Außerdem hatte sie da noch etwas.
Ihre Hand wanderte auf die Brusttaschen mit dem Zettel, auf dem Schwolents Schwanensiegel prangte. Die Geschäftsfrau würde ihr kein Beweismittel in die Hand drücken.
Und wenn, würden sie gemeinsam hängen.
Also biss sie sich auf die Unterlippe, dann drückte sie die Tür auf.
Ein Knarzen schnarrte durch die Korridore, Staub wirbelte auf und brannte in ihren Augen, bevor die Tür sie in einen noch schmälern Flur ausspuckte - der nach wenigen Metern endete. In einer...weiteren Tür?
Gerade wollte sie durch den Gang marschieren, da bemerkte sie zwei Löcher, die in der Wand zu ihrer rechten klafften. Klein, nicht gerade auffällig, aber genug für ihre Augen.
Dann hörte sie die Stimmen.
Alle ihre Muskeln waren angespannt und ihre Glieder zu Alabaster versteift, als sie sich vorbeugte und durch die zwei Gucklöcher starrte. Eine Art dünne Gaze hing davor, wahrscheinlich, um die Entdeckung herauszuzögern, aber das war mehr als genug, um die Szenerie zu erkennen.
Es war eine Schreibstube. Auch wenn dieser Raum mit seinem blitzenden Marmorboden, den großen Rundbogenfenstern und den schweren Goldborten an den Vorhängen den Begriff gar nicht mehr verdiente.
Hätte ihr Herz noch geschlagen, sein Poltern hätte die Aufmerksamkeit jeder Person im Schloss wecken müssen.
Und die des Kaisers in all seiner Pracht.
Da saß er an seinem Tisch aus atamanischem Schwarzholz, mit seinem gezwirbelten Schnurrbart und seiner Meerschaum-Pfeife im Mund, während er unmissverständlich die Dienstbotin anklimperte, die ihm soeben Honigwein eingeschenkt hatte.
Zilli erstarrte.
Das war nicht der Generalstab.
Vor allem nicht das, was Schwolent ihr versprochen hatte.
War sie zu spät?
Waren sie in den Katakomben falsch abgebogen?
Sie hatte keine Zeit umzukehren oder überhaupt nachzudenken, da durchschnitt eine bekannte Stimme die Stille.
"Wie können Sie das nur tun?"
Die schmale Gestalt in der roten Uniform des Prinzbaron platzte in ihr Sichtfeld. Die blonden Locken umrahnten das aufgelöste Gesicht wie einen Heiligenschein.
Herausgeputzt und fesch wie immer.
Doch er sah krank aus, musste sie da feststellen. Bleicher als sonst, die Augen dunkel umrahmt und tief eingefallen.
"Kuno, ich bitte dich!" Rasch wich Guilelmus von der Dame zurück.
"Unsere Soldaten sterben wie Fliegen und Sie sperren die einzige Frau weg, die das ändern möchte!"
Der Monarch paffte eine Rauchwolke aus - und sogleich nutzte die Dienstbotin das Leck seiner Aufmerksamkeit, um hastig dem Raum zu entfliehen.
"Du redest wirr", urteilte der Kaiser bloß. "Wahrscheinlich fieberst du sogar!"
"Ich bin nicht wirr, ich sehe klar! "Seine Stimme war nahezu besorgniserregend dünn. "Vielleicht würden Sie es auch merken, wenn Sie Hospitäler besuchen würden, statt den verdammten Barbier!"
"Mein Bartcoiffeur, wenn ich bitten darf!", kam es entschlossen zurück, doch die Verve verschwand aus seiner Stimme, als der Kaiser ein langgezogenes Seufzen ausstieß.
"Ich hätte dich nie Sanitätsoffizier in diesem Lazarett spielen lassen dürfen. Nichtmal unter falschem Namen." Er schüttelte den Kopf.
"Sieh nur, was diese Bluthexerei dir dort antut, du armes Ding! Du bis verwirrt, blass, krank."
"Dieser Hoftsaat ist es, der mich krank macht", widersprach Kuno, irgendwo zwischen Empörung und Hilflosigkeit. "Aber dort? Wo ich Leuten helfen kann? Ich habe mich nie lebendiger gefühlt."
Sanitätsoffizier? Der hübsche blonde Prinz mit seinem kecken Lächeln und dem Siegelring an den vernarbten Händen opferte sich mit Magie auf, um sich um irgendwelche armen Soldaten zu kümmern?
Sie schluckte.
Und dabei durfte er scheinbar nicht einmal seinen eigenen Namen tragen.
Das war er also.
Der Baron.
Selbst wenn er kein Neumondmagier gewesen wäre und somit in der Lage, andere Zauberer um sich herum zu spüren, statt nur das ständige Schrillen der Magie im Ohr zu haben, so hätte jemand wie er sie in dieser Situation niemals ans Messer geliefert.
Jemand räusperte sich, aber es war nicht der Souverän.
Eine Gestalt am Rand, erkannte Zilli da.
"Mein Prinz", setzte der Unbekannte da an, seine Stimme tief und seltsam weich.
Er war gedrungen, stand mit pflichtschuldig hinter dem Rücken verschränkten Armen da.
Schlohweißes Haar, dunkler Bart.
Feldmarschall von Lukasch. Unmissverständlich.
"Wir haben ein Problem und dieses Problem heißt Palinquas. Das können nicht einmal Sie leugnen."
Zitternd verkrampfte sich Zillis Hand um das Jantar unter ihrer Uniform.
Hilfesuchend wandte Kuno da den Blick an seinen Monarchen.
"Aber-Aber, Herr Papa, sie hat doch nichts verbrochen!"
"Ach, mein Küken", seufzte der nur und bei dem Kosenamen zuckte ein seltsamer Ausdruck über das Gesicht des Prinzen. "Du bist zu jung, zu naiv. Lukasch, machen Sie sich nützlich, erklären Sie es ihm."
Er unterstrich seine Worte mit dem Wedeln seiner Hand.
Der General räusperte sich erneut.
"Palinquas... Ihre Farce hat die Militärstruktur höchtselbst in Frage gestellt. Sie hat damit den Adel beleidigt. Sie hat stellvertretend auf die ganze Herrschaft gespuckt. "
"Sie, eine Bürgerliche!", spie der Souverän da aus. "Eine-"
Eine Magierin. Eine Juffer. Eine Hexe.
Was er auch sagen wollte, es brach mit Blick auf seinen Sohn in einem erstickten Laut ab.
Der war automatisch zusammengezuckt.
"Sie hat das Leben der Soldaten in Valon gerettet! Ein ganzes Luftschiff noch dazu! Zählt das denn nicht?", brachte der trotzdem hervor, doch seine Lippen zitterten bedrohlich.
Der Kaiser riss schon den Mund auf, da vibrierte ein feiner Laut durch den Raum.
"Ihr Sohn hat nicht Unrecht. Nicht vollkommen zumindest, Majestät."
"Was soll das denn jetzt bedeuten? Wollen Sie etwa implizieren, ich wäre im Unrecht?", blaffte Ernst Guilelmus und Kuno blinzelte den Feldmarschall so perplex an, als könne er gar nicht fassen, dass er hier gerade wirklich Recht haben solle.
"Morokew ist eine Knochenmühle", berichtete Lukasch nur stumpf. "Saint-Mitre ein einziges Grabengemetzel. Die Rattenbrigade ist... die Rattenbrigade. Das Atamanische Reich ist brüchig. Und die Handelsblockade durch die Dutvari?" Abschätzig verzog er die Lippen "Ohne die alten Kontakte des Ministerpräsidenten Florestan würden wir aushungern. Wir sind auf Schmuggler angewiesen. Auf Schmuggler!"
Ein Knacken wanderte durch den Raum, als die Pfeife des Souverän in seinem Griff zerbrach.
"Was wollen Sie mir damit sagen?", schnappte Guilelmus. Seine Stimme war schrill. "Dass ich irgendwelchen schlecht gekleideten Kartoffelschmugglern Orden geben soll? Oder gleich mein Testament schreiben?"
Er hätte Angst. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Ernst Guilelmus hatte Angst.
Angst vor der Niederlage.
Angst, dass Arondax ganz nach mitreanischer Mode seinen Kopf aufspießte.
Angst um die Krone.
Angst vor der Angst.
"Ich will sagen", setzte der Marschall erneut an. "Dass wir eine Geschichte haben. Man sollte niemals die Macht einer guten Geschichte missachten."
Kuno begriff.
"Nostreius solis victorys", murmelte er. Worte in Hoch-Tyreu, aber sie brauchte keine Übersetzung. Zilli verstand auch so.
Unser einziger Sieg.
"Stellen Sie es sich doch nur vor", redete da der General auf den Monarchen ein. Verschwörung funkelte in seinem dunklen Blick. "Wie schrecklich demütigend wäre das für Arondax? Wenn öffentlich würde, dass selbst eine Magierin seine Truppen geschlagen hat? Gerade, wo sich die Mitreaner rühmen, dass Zeitalter der Magie durch Auslöschung Ihrer königlichen Magierdynastie beendet zu haben?"
Der Kaiser hob eine Braue.
"Und dann? Was machen wir dann mit Ihr?"
"Wir stellen sie kalt. Schicken sie an irgendeinen unbedeutenden Ort. Die Etappe. Eine Militärakademie vielleicht. Eine langweilige, gemütliche Existenz hinter den Linien."
Der Kaiser räkelte sich zufrieden in seinem Stuhl.
"Ja", meinte Guilelmus. "Ja, damit kann ich mich anfreunden. Ein famoser Gedankengang, nicht?"
Er lachte.
"Wie würde unsere Freundin Schwolent es sagen? Aus allen Geschäften lässt sich Profit schlagen. Und alles ist ein Geschäft."
Beinahe hätten die Knie unter Zilli nachgegeben. Helle Flecken tanzten vor ihren Augen und ihre Finger waren vollkommen taub.
Man brauchte sie.
Die Erkenntnis sickerte langsam in ihre Glieder. Warm und weich wie Teer.
Man brauchte jemanden wie sie!
Jemanden, der Erfolg hatte.
Jemanden, der überhaupt erst einmal gehandelt hatte.
Beinahe hätte sie ein Jauchzen ausgestoßen und wäre vor Glück zusammengebrochen.
Hatte sie sich etwas besseres wünschen können?
Anerkennung?
Sogar... Sicherheit?
Sie würde nicht einmal mehr zur Front zurückkehren müssen. Nie wieder. Sondern in eine Militärakademie.
In eine warme Schreibstube, auf einen weichen Stuhl, auf einen bequemen Posten.
Ihr Schicksal läge in sicheren Tüchern.
Doch als sie sich um die eigene Achse drehen wollte, geriet sie ins Stocken.
Ja, sie wäre in Sicherheit, sie würde möglicherweise an einer Militärakademie lehren.
Aber was war mit den anderen? Božena? Hašek? Selbst dieser jähzornige Kerinsk?
Und erst ihre Schüler dort? Sie selbst würde in Bequemlichkeit sitzen, während sie zukünftige Tote ausbildete. Sie sogar zum Tod ausbildete. Alle würden sie im selben Kriegsgebiet landen, aus dem sie selbst entflohen war, sogar entfliehen wollte.
Somit wäre Zilli zwar aus dem Kreislauf ausgebrochen, warf aber immer mehr hinein.
Egal was geschah, sie war gefangen. Nicht in Fesseln von Gendarmerie oder Staat, sondern vom Krieg. Sklave des grausigsten Herrschers der Menschheit.
Sie blieb eine Spielfigur, egal was sie tat.
Man brauchte nicht sie.
Man brauchte jemanden, den man im Falle eines Scheiterns opfern konnte.
Sie brauchten den potentiellen Sündenbock.
Als wollten die Moiren ihr einen widerlichen Streich spielen, hörte sie jemanden im Nebenraum sprechen:
"Und sollte es misslingen... Nun, es war nie leichter, die Öffentlichkeit gegen eine solche Person aufzubringen. Keine Schuld läge bei uns."
Aber Zilli hörte es nicht.
Sie hörte gar nichts mehr.
Wie fremdgesteuert tastete sie nach ihrem Flachmann, aber er war leer. Leer wie ihre Brust in diesem Moment.
So leer wie diese ganze Welt.
Ruckartig machte sie kehrt.
Weg von dem Generalstab, weg von den Toten, weg von dem Gang der Schande.
Sie taumelte aus einem moosüberwachsenen Gemäuer an das Ufer des Kristallsees, hörte klingelndes Lachen und sah die Schwanenbötchen auf dem schimmernden Wasser und sie war sich sicher, dass sie noch nie etwas so derartig angewidert hatte.
"Mama", hörte sie einen Jungen neben sich trällern. "Mama, guck doch!"
Doch Zillis Blick fand ihn zuerst.
Ihn, den Buben in bunter Uniform und hölzerner Muskete, der lachend durchs Gras tobte und imaginäre Feinde erschoss.
Bevor sie es hatte verhindern können, riss sie ihm das Spielzeug aus der Hand.
Seine Augen weiteten sich.
"Hey, was tun Sie -"
Kalte Funken stoben empor und bevor die letzte Silbe verklung, zerfiel das Spielzeug zwischen ihren Fingern zu Asche.
"Bete, dass das alles für dich nur ein Spiel bleiben wird." Ihre Stimme brach.
Weinen schwoll an - aber lieber hörte sie das, als das Wehklagen einer Mutter, die ihren gefallen Sohn beweinte.
Wortlos drehte sie sich um.
Sie konnte es nicht ertragen.
Konnte die Welt nicht mehr ertragen.
Sie konnte sich selbst nicht mehr ertragen.
Erfasst von einem neuen, unheimlichen Feuer stapfte sie los, das Sichtfeld verschwimmend, aber weiter. Immer weiter. Kein zurück.
Prachtbauten wichen Villen. Villen wichen Bürgerhäusern und Bürgerhäuser wurden von Mietskasernen abgelöst.
Es hätte ihr nicht gleichgültiger sein können.
Weiter.
Immer weiter.
Sie nahm Dreck und Elend in ihren in Tränen schwimmenden Augen nicht einmal mehr war.
Auch nicht, wie schwarze Tinte statt Salzwasser über ihre Wangen tropfte.
Aber irgendwann gaben Stock und Füße nach.
Und auch sie musste bemerken, dass man nicht auf ewig fliehen konnte.
Zumindest nicht physisch, schoss es ihr durch den Kopf, als sich ihr verklärter Blick auf die verwitterte Aufschrift einer Kaschemme fixierte.
Grimmig pfefferte sie ihr Geld auf den Tresen.
"Ihr Härtestes", wies sie den perplexen Wirt nur an. Er gehorchte.
Eine Flasche Schnaps landete vor ihr.
Bald noch eine.
Und noch eine.
Billiges Gesöff floss und floss und floss.
Sie ertrank - und stürzte sich sehnsüchtig in die Wellen.
Stunden verstrichen, leere Gläser häuften sich, Nacht hüllte die Welt in schwarzen Samt.
Doch irgendwann - sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern wie - lag sie auf dem Kopfsteinflaster vor der Kneipe. Alles war feucht, es war kalt, sie zitterte, aber nicht wegen der Kälte.
Dumpf drang das Grölen von Betrunkenen an ihre Ohren und Regen trommelte unablässig vom Himmel.
Der Himmel weinte mit ihr, doch sein Regen traf sie wie Peitschenschläge.
Sie wollte einfach nur, dass es zu Ende ging.
Warum hatte sie damals nur mit dem Tod gefeilscht?
Warum hatte sie sich damals nicht einfach der Kälte ergeben?
Warum hatte sie es beim Sterben nicht ihren Untergebenen gleichgetan?
Es hätte keinen Unterschied zu ihrem jetzigen Zustand gemacht.
Ein Laut zwischen Kichern und Schluchzen entwich ihr. Hierzu hatte sie all das also geführt? Leben, Tod, Untod, Nachleben - und jetzt lag dieses elendige Bündel und erbärmliche Entschuldigung einer Magierin im Delirium?
Sie ergab sich einfach?
Einfach so? Nahm den Kreislauf als unausweichbar war? Ließ das System gewinnen?
"Nein", flüsterte sie leise. Sprechen entzündete ihre Kehle. "Nein."
Der Krieg war nicht vorbei, also war ihr Kampf auch nicht vorbei.
Wie war es, wenn man Zargost spielte? Am Ende landeten die Figuren von Bauern und König im selben Kasten. Nur die Spieler blieben.
Und sie würde ein Spieler sein.
Statt sich in Alkohol und Selbstmitleid zu ersaufen, musste sie handeln. Jetzt.
Dafür brauchte sie aber Kontrolle, damit sie Dinge auch wirklich ändern konnte. Damit sie handeln konnte. Anders als diese dekadenten Aufschneider in ihren teuren Sälen.
Genau wie in Valon.
Nur mehr.
So viel mehr.
Ächzen sprang über ihre Lippen, ihre steifen Knochen protestierten, trotzdem richtete sie sich auf und torkelte mit Kräften, von deren Existenz sie nicht einmal wusste, über die pechschwarzen Straßen. Im ersten Krämerladen machte sie halt und hätte fast ihr Jantar veräußert, aber sie schaffte es nicht, sondern klammerte sich nur darum. Stattdessen landete der silberne Flachmann auf dem Tresen und goldene Dukaten in ihren Händen.
Nicht schlecht staunte man weiter im Zentrum der Stadt, als ein Schatten einer Offizierin ein Buch über Hoch-Tyreu'sche Grammatik verlangte.
Genauso wie Tinte und Feder.
Was hatte sie denn noch zu verlieren?
Sie war eingesperrt in dieser Stadt.
Ihre Liebhaberin musste sie hassen.
Die Generalität wollte sie loswerden.
Ihr Leben war vorbei. Wortwörtlich.
Aber sie konnte alles gewinnen.
Somit tauchte sie die Feder tief in die Tinte und setzte ein Epigramm auf.
Und ihre Freundin Schwolent würde sicherlich dafür sorgen können, dass es sein Ziel fand.
Genau wie sie hoffte, dass die Angst ein Pfeil war, der des Kaisers Herz treffen würde.
An seine allergnädigste Majestät!, verkündete die feine Schnörkelschrift.
Auch wenn ich bedauerlicherweise mitteilen muss, dass die Moiren meine bescheidene Person weder mit großer Schönheit noch verführerischem Charme gesegnet haben, so hoffe ich doch, trotzdem die Aufmerksamkeit der höchstselben Majestät zu bekommen.
So Majestät sicherlich bemerkt haben, befinden wir uns in einem leidlichen Zustand, der sich Krieg schimpft.
Sollte Majestät also weiterhin an Sieg interessiert sein, so würde ich untertänigst empfehlen, nachzudenken, ob es nützlich ist, weiterhin das fähige Personal bei schlechter Gesellschaft in der Hauptstadt festzuhalten oder ob es vielleicht sinnvoll wäre, ihrer Verantwortung die Geschicke der Front zu überlassen. Alternativ empfehle ich einen Mitreanischkurs. Sehr günstig in diesen Zeiten.
Ihre ergebenste Dienerin
C. P. Palinquas
Als sie den Brief verschloss und ihn mit heißem Wachs besiegelte, drückte sie die Goldene Verzierung ihres Gehstock in die zähe Flüssigkeit.
Zurück blieb der Abdruck einer erkalteten Chrysantheme.
Falls sich jemand fragt, was Schwolent während all dem anstellt:
(Material Girl laufe im Hintergrund)
PS: Fast wäre aus Abelard dem Magierschlächter Abelard der Magiermetzger geworden.
Aber das wäre wohl zu cool für die Menschheit gewesen *schnief*
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