Die Kleinstadt
Die glimmende Zigarette schickte ihren streng riechenden Rauch in den Himmel. Ein weiterer Zug füllte seine Lungenflügel mit der giftigen Substanz.
Sein Blick wanderte über die kleine Stadt, die sich vor ihm aus der friedlichen Landschaft erstreckte. Um die Kleinstadt zog sich ein großer Wald und ließ die Häuser wie winzige Spielzeughütten erscheinen. Hinter ihm pfiff die Zugpfeife und das lange Gefährt setzte sich wieder in Bewegung.
Ein Bellen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein strenger Gesichtsausdruck zeichnete sich auf seiner Mimik ab, während er seinen Blick nach unten wendete.
»Zen!«, rief er und sein Schäferhund sah bei seinem Namen zu ihm auf. Ein Winseln kam von dem Hund und er bereute sofort die Härte in seiner Stimme.
Um eine Hand für seinen Freund freizubekommen, drückte er die Zigarette in einen nahen Aschenbecher aus. Zen folgte ihm schwanzwedelnd an der Leine. Mit dem freigewordenen Körperteil strich er über den Kopf des großen Hundes.
»Du bist ein braver. Bestimmt wolltest du mich nur vor dem Zug warnen.«
Zen drückte liebevoll sein Haupt in die streichelnden Finger. Mit einem Lächeln auf den Lippen löste er die vertraute Stimmung mit einem sanften Krauler hinter den Ohren.
»Lass uns zu Tante Emma aufbrechen«, sagte er und nahm sein Gepäck in die Hand. Dieses bestand aus einem Koffer aus Leder und einer Tasche, in der eine Gitarre verstaut war. Das Musikinstrument schulterte er auf seinen Rücken. Den Lederkoffer packte er mit der rechten Hand. An dem Griff war ein Schild mit einem Namen vermerkt: Liam Nokado.
Liam klopfte sich den Staub von seinem Mantel und schritt auf den Ausgang des Bahnhofes zu. Das Kleidungsstück schmeichelte seine schlanke Figur und versteckte den gut gebauten Körperbau unter dem grauen Stoff. Die Farbe der Kleidung harmonierte mit seinen grünen Augen und seinen braunen schulterlangen Haaren. Seine Frisur war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Seine Füße trugen ihn wie von selbst durch die Straßen der Kleinstadt. Er kannte sich bestens in der Ortschaft aus. Wehmut erfasste Liam, als ihn die Erinnerungen einholten. Mit seinen Eltern hatte er vor langer Zeit in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt gewohnt. Die Familie seines Vaters kam ursprünglich von hier. Das einzige Familienmitglied, das in der Kleinstadt geblieben war, war seine Tante.
Tante Emma hatte ihm vor ein paar Wochen einen Brief geschickt. Sie bat um einen Besuch ihres Neffen. Liam war erstaunt über die plötzliche Einladung und hatte versucht, so schnell wie möglich ein Zugticket für die Fahrt zu organisieren. Der Zeitpunkt hätte nicht passender sein können.
Auf dem Weg zum Familienhaus seiner Tante stellte er erschrocken fest, wie wenig er die Straßen wiedererkannte. Es war Jahre her, dass er zuletzt seiner Tante einen Besuch abgestattet hatte.
Die sonst so belebte Innenstadt war wie ausgestorben. Viele der Läden hatten geschlossen und waren mit Holzbrettern zugenagelt. Der Anblick dieser Trostlosigkeit stimmte Liam traurig. Als kleines Kind hatte er es geliebt, über die Straßen zu rennen und an jedem Schaufenster die Überraschungen hinter den Scheiben zu erspähen.
Zen folgte ihm brav und verweilte in seiner Nähe. Der Schäferhund scheint zu spüren, dass er in alten Erinnerungen schwelgte. Vor einem bescheidenen Laden blieb Liam abrupt stehen.
Sein Blick wanderte über die ergraute Hauswand. Die Fensterläden in den oberen Stockwerken waren mit Brettern versehen. Ein Schild an der Eingangstüre verriet Liam, dass das Geschäft seit einem Jahr geschlossen war. An einer ausgewaschenen Notiz, die am Fenster klebte, blieben seine Augen hängen. Dort prägte in verschlungener Schrift: »Die Nascherei«
Ein Stich durchfuhr sein Herz und ließ ihm die kostbare Luft aus den Lungen stoßen. Zen sah besorgt zu seinem Herrchen auf und drückte seinen Körper mitfühlend an seine Beine. Nach drei tiefen Atemzügen hatte sich sein Organ wieder beruhigt. Wehmut breitete sich in seinem Leib aus.
»Diesen Laden hat es also ebenfalls erwischt«, flüsterte Liam vor sich hin.
Die Fensterscheibe verschwamm vor seinem inneren Auge und nahm eine fröhlichere Atmosphäre an. In dem Laden stand eine große Theke, gefüllt mit süßen Leckereien. Im Ladenraum waren eine Handvoll Tische, die mit Besuchern besetzt waren. In der Luft hing der Duft von Backwaren und Kaffee. Liam war damals zehn Jahre alt. Er hielt sich im Laden auf und sah begierig auf die Naschereien in der Theke. Sein Vater stand direkt hinter ihm und fragte mit einem sanften Lächeln im Gesicht, welches Gebäckstück er wohl an diesem Tag haben möchte. Seine Wahl fiel auf eine Zimtschnecke.
Die Süßspeise wurde ihm von der Ladenverkäuferin direkt in die Hand gereicht. Kaum hatten Liam und sein Vater den Laden verlassen, war die Backware in seiner Futterluke verschwunden. Liebevoll strich ihm sein Vater über das Haar und wischte ihm mit einem Tuch den verklebten Mund sauber.
»Deine Mutter hatte diese Backware und den Laden ebenfalls geliebt. Du erinnerst mich an sie«, sagte sein Vater zu ihm, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Haus machten.
Liams Gedanken kehrten in die Realität zurück. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Dieser Besuch in »der Nascherei« wird ihm für immer in Erinnerung bleiben. Er hatte seine Mutter nie kennengelernt. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass sie kurz nach seiner Geburt verschwunden war. Die Polizei fand keine Spuren oder Hinweise über ihren Verbleib. Anfänglich gingen die Gesetzeshüter von einem Selbstmord, andernfalls von einer heimlichen Affäre aus. Doch sein Vater glaubte ihnen nicht. Frau Nokado hätte sie nicht ohne ein paar Abschiedsworte verlassen.
Die Suche blieb erfolglos, und nach zehn Jahren der Leere verließ Liams Vater mit ihm die Kleinstadt, um ein neues Leben in New York anzufangen. Um den Neustart und die Einsamkeit ohne seine Mutter besser zu verkraften, kaufte er seinem Sohn einen treuen Begleiter. Seitdem ist Zen an seiner Seite und begleitet ihn durch sein Dasein.
»Komm, wir gehen weiter«, sagte Liam zu seinem Freund. Dankbar für die Erinnerung an seinen Vater schritt er die Straße entlang.
Die Innenstadt wich einer schlichten Wohngegend. Sein Weg führte ihn durch kleine Gassen, bis er an der richtigen Allee ankam. Je weiter er kam, desto bescheidener und abgeschiedener wurden die Häuser. Kurz vor seinem Ziel begab sich Liam auf einen schmalen Weg, die aus der Stadt wieder herausführte.
»Wir sind bald da.«
Die letzten Häuser endeten und der Weg mündete in ein kleines Waldstück. Der Wald bestand überwiegend aus Laubbäumen, die das Sonnenlicht auf ihrem Blätterdach einfingen. Tanzende Schatten huschten über den Boden und ließen den Ort magisch erscheinen. Nach einer Biegung um die ersten Bäume herum war das Haus seiner Tante sichtbar. Das Gebäude hatte seine besten Jahre hinter sich. Von der hellblauen Wandfarbe war nicht viel übrig geblieben, und das strahlende Weiß der Fensterläden war einem tristen Grau gewichen.
Seine Beine hielten in der Bewegung inne. Zen sah sein Herrchen mit schräg gelegtem Kopf an.
»Bevor wir zu Tante Emma gehen, muss ich davor noch etwas erledigen.«
Freude packte den jungen Mann. Er wendete sich vom Haus ab und trat zwischen den Bäumen hindurch. Zen begleitete ihn begeistert und freute sich auf den Spaziergang im Dickicht der Baumriesen.
Liams Schritte führten ihn über den trockenen Waldboden. Unter seinen Füßen knisterte das Laub. In der Luft zwitscherten die Vögel, und der Wind ließ die Blätter rascheln. Der Duft der Natur erfüllte sein Herz mit dem Gefühl der tiefen Verbundenheit zu diesem Ort.
Sein Weg führte über umgefallene Bäume und aus dem Boden ragende Wurzeln. Wie von selbst folgte er seinem Instinkt, der ihm die Richtung wies.
Nach wenigen Momenten blieb Liam vor einer Talsenke stehen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Direkt vor ihm öffnete sich eine große, dunkle Höhle.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro