Die geheimnisvolle Musik
Mutter und Sohn betraten gemeinsam die Höhle. Ein vertrautes Gefühl umspielte die Atmosphäre. Liam kam es so vor, als würde ein alter Freund sie willkommen heißen.
»Dieser Ort hatte schon immer eine besondere Anziehung auf mich«, sagte er und trat in die Schatten.
»Das liegt vermutlich daran, dass wir uns unter dem Gestein am nächsten waren. Ich selbst verbringe sehr viel Zeit hier.«
Mit einer liebevollen Berührung fuhr Nara die Zeichnungen an der Höhlenwand ab. Liam bemerkte, dass die Bilder auf dieser Seite der Welt deutlich zu erkennen waren, wohingegen in seiner Atmosphäre die Striche mittlerweile verblassten.
In der Mitte des Raumes lag seine Gitarre. Unberührt und bereit für die nächsten Töne, die auf ihren Seiten gespielt werden.
Nara trat in das Zentrum und setzte sich auf den Boden.
»Begleitest du uns mit deinem Instrument?«
Liam platzierte sich neben seiner Mutter auf den Stein im Inneren der Höhle. »Sehr gern.«
Er nahm das vertraute Musikinstrument in die Hand und strich liebevoll über die Saiten. Ein sanfter Ton vibrierte durch die Höhle und ließ den Klang von den Wänden widerhallen.
»Dieser Ort verstärkt die Musik«, erklärt Nara. »Ich weiß nicht wieso, aber meine Magie ist hier am kraftvollsten.«
Seine Mutter sah ihm in die Augen und nickte. Liam lächelte ihr entgegen und begann, die Saiten in einem sanften Rhythmus zu spielen. Nach ein paar Tönen fand er den Takt und stimmte die Melodie, die er an diesem Tag bereits gesungen hatte, an.
Seine Mutter wippte mit dem Fuß mit und schloss ihre Augen. Ein dezentes Summen drang an seine Ohren und Liam passte seine Tonfolge an. Nach wenigen Augenblicken erhob Nara ihre Stimme und sang zu seinem Takt.
Zunächst klang ihr Lied traurig und zögerlich. Liam ergriff das Gefühl von tiefer Liebe, das der Gesang seiner Mutter in ihm auslöste. Die Trauer um die Natur war deutlich in ihren Worten zu spüren.
Das Gefühl riss ein Loch in sein Herz und die Melancholie in seinem Inneren wuchs. Aus einem seelischen Drang heraus begann er, die Melodie mitzusingen. Ohne den Text vorher gekannt zu haben, nahm sein Mund die richtigen Wörter auf die Lippen und sprach diese aus. Die Tonfolge erfüllte ihn und riss Liam in einen Strom der Gefühle.
Er schloss seine Augen und wie von selbst flogen seine Finger über die Saiten seiner Gitarre.
Hinter seinen Augenlidern begann die Welt sich zu drehen. Er spürte die Präsenz seiner Mutter neben ihm. Sie griff nach ihm und zog ihn aus seinem Körper hinaus. Liam ließ es geschehen und folgte Nara. Sie führte sein Bewusstsein, getragen von der Musik, in die Tiefen der Erde. Liam begriff, dass sie nach etwas suchte, und half ihr mit seiner Stimme. Sie drangen immer tiefer in das Erdreich ein. Seine Körpertemperatur nahm zu und die Hitze umschloss ihn.
Liam empfand den Temperaturunterschied als unangenehm, doch Nara bahnte sich immer tiefer einen Weg. Liam ließ das Gefühl nicht los, dass sie sich inmitten der brodelnden Lava unterhalb der Erde aufhielten. Seine Mutter hatte ihn an den Herd des Chaos geführt.
Nach einer weiteren Strophe vernahm Liam eine andere Melodie. Sie klang in seinen Ohren verschoben und verstimmt. Ein tiefer Bass drang zu ihnen durch und ließ seinen Körper vibrieren. Ihm schien es, als versuche die fremde Tonfolge, ihren Vorstoß zu verlangsamen und aufzuhalten. Die Singstimme seiner Mutter drang zu ihm. Immer energischer sang Nara und die Traurigkeit aus ihrer Stimme verschwand. Sie stimmte einen neuen Takt an.
Liam kam es so vor, als würde seine Mutter versuchen, mit der anderen Melodie Schritt zu halten. Seine Finger strichen immer schneller über die Saiten seiner Gitarre. Mit seiner kräftigen Stimme unterstützte er Naras Lied so gut, wie es ihm möglich war.
Die fremdartige Musik nahm an Stärke zu und drohte ihn und seine Mutter zu verschlucken. Liams Singstimme brach bei dem Versuch, gegen den tosenden Gesang anzukommen. Die Töne verklangen in seinem Mund und seine Hand stolperte im Takt. Eine innere Unruhe erfasste ihn und Panik stieg in ihm hoch.
Panik, versagt zu haben. Panik, nicht gegen den wütenden Strom des Vulkans zu bestehen. Panik, mit der Katastrophe unterzugehen und alle, die er liebte, im Fluss der Lava zu verlieren.
Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen im heiß die Wangen herunter. Ein Schluchzen durchdrang seinen Körper. Die fremde Melodie nahm zu und verschluckte sein ganzes Wesen.
Er verlor sich in den Tiefen und wandte sich in der Verzweiflung. Kurz bevor sein vollständiges Sein von der Dunkelheit und der Hitze umhüllt wurde, vernahm er einen lauten Schrei. Die Worte drangen deutlich zu ihm durch und vermischten sich mit einer Melodie, die er noch nie zuvor vernommen hatte.
Mit einem Mal erkannte er die Stimme. Seine Mutter versuchte, zu ihm zukommen und ihn aus der Umklammerung des Vulkans zu lösen.
In der Ferne vernahm Liam einen sanften Strahl, der mit jedem weiteren Ton immer heller wurde. Er versuchte, sich auf die Melodie seiner Mutter zu konzentrieren und änderte seinen Gesang. Er passte ihm erneut den von Nara an und stimmte im Takt die Tonlagen mit.
Hoffnung erfüllte ihn und das traurige Gefühl wich. Die Tränen trockneten auf seinen Wagen und die Empfindungen der Fröhlichkeit und der Liebe durchströmten ihn. Seine Mutter half ihm aus der Tiefe und gemeinsam vereinten sie ihre Stimmen.
Ohne Pause sangen sie weiter und richteten ihre Melodie gegen den wütenden Strom des Vulkans. Nach einer gefühlten Unendlichkeit nahm die Präsenz des Feuerbergs ab. Die Stimme wurde leiser.
Nara änderte ihre Stimmlage und stimmte eine fröhlichere Tonfolge an. Sie begann, der Stimme des Vulkans zu schmeicheln, und umhüllte ihn mit schönen Worten. Das fremde Lied fand ihren Takt. Die Töne drangen zögerlich an Liams Ohren. Seine Singstimme untermalte die seiner Mutter im perfekten Ton. Er ließ in seine gesungene Melodie das Gefühl des Zusammenhalts und der Freundschaft hineinfließen. Die Tonlage des Feuerbergs änderte sich erneut, und mit einem Mal ertönte ein tiefer Gesang. Dieser passte sich an den Singsang von Liam und Nara an. Begleitete sie wie eine liebevolle Umarmung.
Ein Lächeln umspielte Liams Lippen. Die Stimme seiner Mutter klang fröhlich und begrüßte den Vulkan als alten Freund. Da wurde ihm bewusst, dass sie die Katastrophe erfolgreich abwenden konnten. Der Feuerberg war besänftigt und hielt seine Lava zurück.
Erleichterung durchflutete Liam, und seine Stimme vermischte sich mit diesem Gefühl.
Seine Mutter umschmeichelte die Singstimme des Vulkans ein letztes Mal und entfernte sich anschließend von ihm. Er folgte ihr, bis die tiefe Melodie verklungen war.
Nara senkte ihre Stimme und die Hitze des Feuerberges wich aus seinen Gliedern. Er kehrte mit seinem Wesen in seinen Körper zurück. Seine rechte Hand strich weiterhin über die Saiten. Der Takt wurde immer langsamer, bis er mit einer letzten Tonlage erlosch.
Stille legte sich über die Höhle. Das Gefühl, etwas Unmögliches geschaffen zu haben, umhüllte Liam. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er öffnete bedächtig seine Augen.
»Danke für deine Hilfe. Vergiss nicht: Ich liebe dich«, ertönte ein leises Flüstern neben ihm. Als er seinen Kopf zu seiner Mutter umdrehte, sah er auf eine leere Stelle. Nara war verschwunden.
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