Kapitel 60
„Wie bitte?", fragte ich, während Lia sich erst wieder fassen musste.
„Ihr habt richtig gehört", sagte Zelos. „Astor wird seinen Onkel hinrichten und das wird das Ende einer Ära."
Seine rubinfarbenen Augen blieben hart und ließen keinen Raum für Diskussion.
„Aber... wieso?", fragte ich.
„Das Rudel muss ihn als seinen Nachfolger akzeptieren. Talons Schuld muss klar werden. Dass er die Verantwortung trägt für den Krieg, die Toten", erwiderte Eros. „Alpha Udyrs Name muss reingewaschen werden, damit sein Sohn Nachfolger werden kann."
„Halt, halt, halt", sagte Lia mit erhobenen Händen. „Verstehe ich das richtig: Ihr wollt am Tag des letzten Jahres, wo übrigens Vollmond ist, Talon hinrichten, Astor zum Alpha machen und danach noch feiern? Ist das nicht ein bisschen viel?"
Ich nickte zustimmend, doch sie war noch nicht fertig.
„Das ist doch schon in ein paar Tagen! Wer soll das denn vorbereiten?"
Ich schlug meine Hand gegen die Stirn. Wenn das ihre größte Sorge war...
„Wird es keinen Aufstand geben?", fragte ich.
„Nicht, solange ich mich zurückhalte", erwiderte Zelos mit ernster Miene. „Das Einzige, wovor die Wölfe Angst haben, ist eine Herrschaft von mir."
Ein kaltes Lachen entkam seinen Lippen, das einen Schauer über meinen Rücken schickte.
„Wie dem auch sei", sagte Eros, „in ein paar Tagen wird der Palast voll sein mit allen möglichen Gästen. Alle Alphas werden dabei sein wollen, wenn ein Rat gegründet wird. Das ist vielleicht unsere einzige Möglichkeit für einen langfristigen Frieden..."
Die blauen Augen des Nordalphas waren stürmisch, so wie die von Zelos. Lia klatschte ihre Hände zusammen, sodass sogar Kerberos aus seinem Schlaf hochschreckte.
„Kommt Johnson auch vorbei? Er hat noch ein Versprechen zu erfüllen", sagte sie mit freudigen Augen. „Er kann sich nicht ewig drücken..."
Eros nickte.
„Er und Demetrius sind bereits auf dem Weg. Und auch einige der Nomaden werden anreisen. Pollux hält zu Hause die Stellung", sagte er.
Lia quiekte aufgeregt.
Kerberos starrte sie mürrisch an, während er seine drei Köpfe streckte und gähnte. Ich streichelte ihn zur Beruhigung von dieser unsanften Weckung.
„Oh mein Gott!", rief sie und packte meinen Arm. „Komm! Wir haben noch so viel zu tun!"
Sie zog mich von dem Sofa und ich stolperte einfach hinterher. Ich warf einen schnellen Blick über meine Schulter zu Zelos.
„Bis später!", rief ich, bevor die Tür aufging und Lia mich in den Korridor hinauszog. „Jetzt warte doch mal, wo wollen wir hin?"
Zu meinem Glück gesellte sich Kerberos zu uns und trappte in gemütlichem Tempo neben uns her.
„Na den Palast erkunden! Dafür hatte ich bis jetzt noch keine Zeit und immer war irgendwer dabei, der aufgepasst hat", sagte sie und wurde langsamer. „Eros ist manchmal echt paranoid..."
„Er macht sich doch nur Sorgen um dich. Berechtigterweise", erwiderte ich.
„Ach papperlapapp. Ich habe den Urwolf getötet. Ich brauche keinen Aufpasser."
Kerberos murrte und sie blickte auf den Riesenhund.
„Na schön, du bist in Ordnung", sagte sie.
Wir zogen weiter durch das Labyrinth aus Gängen. Wir folgten den Bildern an den Wänden und den Treppen nach unten.
Alles hier war von Menschenhand errichtet worden. Jede Statue, jeder Verschnörkelung an den Geländern, der purpurrote Teppich, die Kronleuchter über unseren Köpfen...
„Guck da", sagte Lia und deutete auf eine dunkle Treppe. Doch vor dem Eingang unterhielten sich einige Wachen. Einer von ihnen kam mir bekannt vor. „Ilja!"
Bei seinem Namen fuhr der rothaarige Nomade zu uns herum. Unter seinem Bart kam ein Lächeln zum Vorschein, als er uns und Kerberos erblickte. Er breitete seine Arme aus.
„Meine kleine Königin, ich glaube Ihr werdet die Wette verlieren. Meine Männer werden noch heute ankommen", sagte er.
„Das werden wir ja sehen. Hast du schon von den Plänen gehört?" fragte sie.
Ilja kniff die Augen zusammen.
„Von welchen Plänen?"
„Na das solltest du Eros und Zelos fragen. Die sind oben in der Bibliothek. Aber es wird hier wohl ein großes Spektakel geben", sagte sie.
Ilja strich sich durch den rostroten Bart.
„Na schön. Aber stell keine Dummheiten an, solange ich weg bin", sagte er und blickte auf Kerberos. „Du passt auf die beiden auf, oder?"
Der Riesenhund bellte wie ein Soldat, der einen Befehl entgegennahm. Ich grinste. Der Nomade verschwand mit einem Winken. Wir blieben allein zurück mit den Kriegern vor dem geheimnisvollen Gang nach unten. Doch das schüchterte Lia kaum ein.
„Wohin führt diese Treppe?", fragte sie.
Die Wölfe blickten sich an, bevor einer von ihnen antwortete.
„Ins Verlies."
Ich schüttelte mich. In jedem Rudel hatte ich bis jetzt nur schlechte Erfahrungen mit Gefängnissen gemacht... Meistens jedenfalls.
„Wir würden uns das gerne genauer angucken", sagte Lia mit erhobenem Kinn. Ich zog an ihrem Ärmel.
„Lass uns lieber gehen", erwiderte ich und sie musterte meinen Ausdruck.
„Ach komm schon Lizzy. Nach all der Zeit? Bist du nicht neugierig. Willst du Talon nicht noch einmal sehen, bevor er hingerichtet wird?"
„Eigentlich will ich das um jeden Preis vermeiden", antwortete ich und zuckte mit den Schultern.
„Er hat versucht, dich umzubringen."
Und das war nicht einmal das schlimmste, was er getan hatte. Er hatte Delta Ivan mit seiner Familie erpresst, um an Zelos heranzukommen. Eine dunkle Neugier nagte an meinem Herzen, eine Neugier, der ich so oft widerstanden hatte.
„Komm, nur kurz", sagte Lia. „Wir müssen unseren Feind kennen und wir können jederzeit wieder gehen."
Ob es Delta Ivans Familie gut ging?
Hatte Talon sie töten lassen?
Ich schloss die Augen und seufzte.
„Na schön..."
Lia vergrub ihre Finger in meinem Arm, in dem Versuch ihre Aufregung zu verbergen. Sie drehte sich zurück zu den Wachen.
„Wir möchten den Gefangenen sehen."
„Weiß Alpha Eros, dass Ihr hier seid."
„Eros ist mein Gefährte. Ich bin die Luna des Nordens und möchte in dieses Verlies. Oder soll ich ihn erst holen?"
Wortlos traten die Wächter zur Seite und gaben den Weg frei in die flackernde Dunkelheit des Verlieses von Silberblut.
Ich tat den ersten Schritt.
„Wenn das so weitergeht, habe ich jedes einzelne Gefängnis in jedem Rudeln gesehen", murmelte ich und Lia lachte.
Ihre Schritte hallten hinter mir.
„Das können wahrscheinlich nicht viele von sich behaupten", sagte sie. Die Fackeln an den Wänden halfen wenig gegen die Kälte des Abstiegs.
Wir folgten den grauen Steinwänden bis ganz nach unten. Der modrige Geruch machte das Atmen schwer. In der Ferne plätscherten einzelne Wassertropfen gegen den Stein wie eine Uhr in Zeitlupe.
Lia und Kerberos kamen neben mir zum Stehen. Silberne Zellen umgaben uns. Doch mein Blick lag bereits am Ende des Ganges auf der Gestalt, die in Ketten an der Wand hing. Sein Kopf zeigte in Richtung Steinboden und die blonden Haare verbargen seine sonst so stolzen Augen.
Ich tat einen Schritt näher.
Der Kopf hob sich und die giftgrünen Augen blitzten mich an, sodass mein Herz einen Schlag aussetzte.
„Ah, die Gefährtin des Lycans..."
Seine Stimme klang rau wie Sandpapier als hätte er seit Ewigkeiten nichts getrunken. Lia packte meinen Arm fester. Zusammen kamen wir vor der Zelle des ehemaligen Betas zum Stehen.
„Du hast verloren, Talon", sagte ich mit fester Stimme.
Der Gefangene krächzte vor Lachen, sodass die Ketten um seine Handgelenke zitterten. Das ständige Zischen des Silbers mischte den Gestank von verbrannter Haut in die Luft.
„Du glaubst, ihr habt gewonnen?", fragte er und Verrücktheit tanzte in seinen Augen. „Wenn ich untergehe, werde ich die ganze Welt mit mir reißen."
Die Worte zischten von den Wänden.
„Ihr könnt mir keine Angst mehr machen", sagte ich. „Astor wird für Gerechtigkeit sorgen."
Für einen Moment zuckte sein Auge vor Hass und seine Nasenflügel wölbten sich.
„Freut euch, fühlt euch sicher. Die Menschen werden brennen", sagte er und ein Grinsen entblößte seine Reißzähne. „Und dein Gefährte wird sterben. Denk an meine Worte. Zelos wird sterben..."
Mein Atem blieb mir im Hals stecken. Die offene Drohung brachte mein Herz zum Rasen.
„Du kannst ihr keine Angst machen, du Scheusal", sagte Lia. „Das Rudel wird wissen, was du getan hast und dich dafür bestrafen."
Talon verfiel zurück in sein irres Gelächter, das sich anhörte wie Fingernägel, die über Glas kratzten.
„Hast du das gehört, Solana. Diese zwei Mädchen wollen mir etwas über Bestrafung erzählen", sagte er und blickte in die Zelle neben sich. „Hört sich ein wenig nach dir an... Als du noch Kampfgeist hattest."
Nichts regte sich in der Zelle nebenan.
Ich kniff die Augen zusammen.
Das Fackellicht zeichnete die Umrisse einer Gestalt, die mit hochgezogenen Knien an der Wand in der Ecke hockte. Schwarze Haare verbargen das Gesicht und in der dunklen Kleidung verschmolz sie fast mit dem Stein um sie herum. Die Arme waren so dürr und blass wie ein lebendes Skelett.
Langsam hob sie ihren Kopf.
Die Schatten um ihre Wangen waren tief. Ihre Augenlider waren halb geschlossen. Selbst Beta Talons Lachen, das von den Wänden widerhallte, regte keine Bewegung in ihrem Gesicht. Sie starrte mich an.
Solana.
Ein Mensch.
Ein Mädchen.
„Sei still!", brüllte ich, doch das Zischen der Silberketten paarte sich mit der Schadenfreude des Gefangenen.
„Denk an meine Worte", krächzte er. „Zelos wird sterben und die Welt wird zurück in Chaos gestürzt."
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Wuhh, Kapitel 60 ist da! Und tatsächlich sind wir jetzt bei 899 Followern, danke an euch alle <3
Langsam geht es echt auf das Finale zu und ich bin fast ein bisschen aufgeregt :D
Naja, wir sehen uns am Dienstag mit dem nächsten Kapitel wieder!
Bis dahin, ein Witz für Fußballfans: Was ist der Unterschied zwischen Schalke 04 und einem Bäckergesellen?
Der Bäcker kann Meister werden.
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