Kapitel Zehn
Seine Muskeln verkrampften, seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengedrückt. Angstschweiß rann seine Stirn hinab.
Aura saß neben ihm, hielt seine Hand, berührte ganz leicht seine nackte Schulter.
„Raik", murmelte sie schon zum wiederholten Male. „Raik, wach auf."
Er antwortete nicht, warf sich im Bett hin und her, sog gierig nach Luft. Seine Nasenflügel bebten, ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, das nicht mehr menschlich wirkte.
Der Raum lag dunkel da, nur der Mond schien herein, beleuchtete sein braunes Haar, ließ es dunkel wirken, hob die Schatten zwischen den Strähnen noch hervor.
Die Wunden seiner Arme öffneten sich, Blut benetzte Auras Finger, doch war ihr das egal.
Ihre Aufmerksamkeit galt nur dem jungen Mann vor ihren Augen.
„Raik", flüsterte sie. „Raik, wach auf. Bitte."
Ein Laut drang von seinen Lippen. Ein Wort, ein zweites.
Ein Satz, der wiederhallen zu schien.
„Oh liebste Mutter." Eine Pause. Stille. Nur der Herzschlag von Aura, der laut in ihrer Brust pochte. „Warum bist du nur so klein?"
Sie erstarrte. Ein Gesicht tauchte in ihrem Inneren auf. Eine Frau, braunes, gerades Haar. Blaue Augen, umrahmt von einem schwarzen Strich.
Perfekte Lippen. Perfekte Nase.
Kleiner als Aura, obwohl sie hohe Schuhe trug.
Das Gesicht verschwand und mit ihm die Erinnerung.
Raik riss seine Augen auf, setzte sich kerzengerade hin. Atmete. Seine Brust hob und senkte sich, ein Schweißtropfen rann seine Haut hinab.
Aura ließ von ihm los, rückte ein wenig von ihm ab und beobachtete ihn.
Sie hatte ihre Knie eng an den Körper gezogen, schien sich dahinter zu verstecken.
Ihre grünen Augen weit aufgerissen um alles zu erkennen.
Er drehte sich langsam zu ihr um, erwiderte ihren Blick. Seine Atmung beruhigte sich nicht.
Sie wollte fragen, was er geträumt hatte, wollte ihm helfen, den Schrecken zu vergessen. Doch kein Wort drang von ihren Lippen.
„Sie ist gefährlich", murmelte er leise. Seine Augen wanderten zu dem kleinen Jungen unter der Decke. Er hatte die Augen geschlossen, war ihnen zugewandt.
Friedlich wirkte er.
„Meine Mutter, Aura. Sie ist gefährlich. Sehr sogar."
Aura nickte nur, betrachtete ihn weiterhin, schien seine Worte nicht zu hören.
„Wir müssen aufpassen."
Ein Nicken.
Keine Antwort.
„Aura, hörst du mich? Wir müssen vorsichtig sein."
Ein weiteres Nicken.
„Erinnerst du dich?"
Ein Achselzucken.
„Aura. Wenn du dich an irgendetwas erinnerst, dann musst du mir das sagen."
„Da ist ein Gesicht", erwiderte sie. „Mehr nicht. Nur ihr Gesicht."
„Wie sieht sie aus?"
„Sie ist kleiner als ich."
Er nickte.
„Warum ist das wichtig? Ihre Größe."
Er schien mit sich zu ringen, schien darüber nachzudenken, ob er es ihr sagen konnte.
Er entschied sich dagegen.
„Wir müssen aufpassen", wiederholte er. „Wenn wir Dinge tun, die nicht von ihr gewollt sind, dann wird sie keine Rücksicht nehmen."
Ein Nicken.
„Was machen wir mit Theodor, Aura? Was sollen wir machen? Mitnehmen können wir ihn nicht, das ist zu gefährlich. Hier lassen? Das geht auch nicht."
Ein ratloses Schweigen, nur der Atem der beiden laut hörbar.
„Aura. Sag etwas."
Was sollte sie sagen? Sie wusste nicht, sie hatte keine Ahnung, was das Richtige war.
Verantwortung hatte sie noch nie übernehmen müssen.
„Ich... ich weiß es nicht."
„Was sollen wir mit Theodor machen?"
Seine braunen Augen funkelten in der Dunkelheit. Sie versuchte etwas zu sagen, sie versuchte es wirklich. Aber kein Wort wich von ihren Lippen.
Dunkle Strähnen waren ihm ins Gesicht gefallen, ließen ihn gefährlicher erscheinen als er war.
„Denk nach Aura."
Sie konnte nicht nachdenken. Nicht, wenn er so vor ihr saß.
Ein nackter Brustkorb, nur bedeckt von kleinen Härchen. Das Herz, das dem ihren so nahe war.
„Aura. Sieh mir in die Augen."
Sie wandte sich von seinem Körper ab, schenkte die Aufmerksamkeit seinem Gesicht.
„Was sollen wir morgen mit Theodor machen?"
„Ich weiß es nicht."
Stille. Herzklopfen. Atmen.
„Ich komme mit." Ein feines Stimmchen, das die beiden aufschrecken ließ.
Aura drehte sich zu ihrem kleinen Bruder, sah ihm in die blauen Augen. Dort war keine Angst, keine Furcht. Dort war Leere. Nichts weiter.
Eine wissende Leere.
„Du kannst nicht mitkommen." Sie streckte seine Hand nach ihm aus, berührte seine Wange.
„Aber wir machen alles zusammen."
Er kroch unter der Decke hervor, setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er zitterte, doch sein Blick blieb hart.
„Ich möchte aber nicht, dass ihr ohne mich geht. Das dürft ihr nicht tun."
Aura schmerzte es, den Jungen so zu sehen. Verzweifelt wirkte er, in dem schrecklichen Wissen, dass er an der kommenden Situation nichts ändern konnte.
„Bitte."
Nur ein Flüstern.
„Theodor. Versuch zu schlafen."
Eine Leere, die sich über sie alle legte.
Es wäre still im Auto gewesen, hätte Florian nicht auf dem Beifahrersitz gesessen.
„Ich freue mich sehr auf Hamburg. Ich bin so lange nicht mehr in die Stadt gefahren. Erinnerst du dich noch an deinen letzten Besuch, Raik? Oder ist das auch schon lange her."
Raik antwortete nicht, allerdings schien Florian das auch nicht zu erwarten.
„Den Hafen? Den Hafen habe ich noch nie gesehen. Erstaunlich, wenn man eine Stunde von Hamburg entfernt lebt, findet ihr nicht? Ward ihr schonmal am Hafen? Theodor?"
Der kleine Junge, der Flappi endlich wieder an seine Brust pressen konnte, achtete nicht auf Florian, blickte hinaus auf die Straße und hinein in die Autos, in denen glückliche Familien miteinander lachten.
„Aber so eine Hafenrundfahrt macht Theodor bestimmt Spaß, das kann ich mir vorstellen. Ich liebe Schiffsfahrten, ich war zwar noch nie bei einer dabei, aber es muss genial sein, nur Wasser unter sich zu spüren."
Er drehte sich zu Aura um, grinste sie mit seinen schlechten Zähnen breit an.
„Freust du dich?"
„Ich werde mir nicht den Hafen ansehen."
„Ach, stimmt meine Liebe, das habe ich fast vergessen. Was macht ihr denn dann in der Zeit? Mein Freund Raik kommt ja leider auch nicht mit. Aber nein, stopp. Eigentlich will ich ja gar nicht wissen, was ihr macht."
Er stellte Fragen, ohne nach Antworten zu verlangen.
Aura fragte sich, wie andere, wie normale Menschen waren.
Bis jetzt hatte sie noch keinen von ihnen kennengelernt.
Sie schaltete ab, ließ die Worte Florians an sich abprallen, blickte hinaus.
Die Autobahn war überfüllt. Nicht überfüllt in dem Sinne, dass die Autos nur kriechend vorankamen, sondern überfüllt im Sinne von Aura. Andere hätten die Straße vielleicht als leer angesehen, sie allerdings hatte noch nie zuvor in ihrem Leben andere Menschen getroffen.
Zumindest erinnerte sie sich nicht daran.
Augen, fremde Augen taxierten sie durch die Scheiben hindurch. Frauen und Männer drehten sich zu ihr um, folgten ihr mit fremden Blicken, sobald sie sich bewegte. Sie öffneten ihre Lippen, redeten mit ihren Fahrtgenossen über sie, lächelten, verzogen ihre Münder zu teilnahmslosen Strichen.
Aura wusste nicht, was sie tun sollte. Es war ihr unangenehm, diese Aufmerksamkeit, dieses Interesse, dass die anderen ihr schenkten. Sie versuchte ihnen auszuweichen, versuchte nicht darauf zu achten, blickte stur hinüber zum dunklen Wald, zwischen die dunklen Stämme der Bäume.
„... schrecklich. Aber das ist mir schon beim letzten Mal aufgefallen. Ja, diese Blicke."
Aura wandte sich wieder nach vorn, blickte zu Florian.
„Die starren so schrecklich, Theodor. Siehst du auch die Blicke der anderen? Das war auch, als Raik und ich ein einziges Mal unter Menschen gegangen sind, alle haben gestarrt. Aber ich weiß bis heute nicht, ob sie mich so interessant fanden oder meinen tollen Freund."
Sie parkten in einer unbelebten Straße und doch fühlte Aura sich ausgeliefert.
Hohe Häuser, die Geräusche von Autos, eine Alarmanlage in der Nähe, zwei Frauen, die sich lachend und viel zu laut miteinander unterhielten, ein Hund, der an der grauen Häuserwand herumschnüffelte.
„Und du weißt wirklich, wie du zum Hafen kommst?", fragte Raik Florian ein weiteres Mal.
„Ja mein Freund, ein paar Straßen weiter und tadaaa. Man hört doch schon die Schiffe."
„Und du hast Geld?"
„Natürlich. Theodor und ich möchten uns doch ein Eis holen."
„Ich mag kein Eis."
Florian riss seine Augen auf, blickte hinab zu dem kleinen Jungen.
„Du magst kein Eis?! Jedes Kind mag Eis!"
„Ich nicht."
„Scheiße. Gruselig."
„Florian. Wir treffen uns in drei Stunden wieder. Hier. Verstanden? Wenn wir in drei Stunden nicht da sind, dann fahrt ihr wieder nach Hause. Und dann sorgst du für Theodor, verstanden?"
Raik blickte dem fremden Freund in die Augen, dieser nickte nur, hielt für einen kleinen Augenblick seinen Mund.
„Aber ihr werdet da sein." Theodor blickte Aura erwartungsvoll an.
Sie kniete sich hinab zu ihrem kleinen Bruder, nickte.
„Natürlich."
In diesem Moment begann der Regen.
Dicke Tropfen nieselten auf sie hinab, ließen ihre Kleidung feucht werden. Der Himmel war dunkel und grau und er weinte. Selbst der Himmel hatte mehr Gefühl als Aura. Sie sah hinauf in die Wolken, ein schöner Anblick, gleichzeitig so traurig, so verzweifelt. Der Regen schien die Stadt zu betäuben, schien Aura Halt zu geben.
Denn geregnet hatte es das letzte Mal in ihrer Welt: als sie am Strand gestanden hatte, hinausblickend aufs Meer, die Tropfen auf ihrer Haut genießend. Theodor hatte ihre Hand genommen, die Worte auf den Lippen, die er jeden Tag aufs Neue wiederholt hatte: „Mama und Papa haben gesagt, ich soll dich holen."
Doch diese Zeiten waren Vergangenheit. Papa und Mama gab es nicht mehr. Hatte es sie je gegeben?
Ihr Vater, ein fremder Verräter.
Ihre Mutter, die jemanden beschützen musste und ihre Kinder dafür verließ.
Ein dreijähriger Junge, ein unfähiges Mädchen.
Ein Mädchen, das nicht in der Lage war, ein normales Leben zu führen.
Das sich an den Regen klammerte, weil er noch immer der gleiche war wie in ihrer alten, vergangenen Welt.
Sie hatte sich seitdem verändert und wusste nicht, wer sie am Ende sein würde.
„Wir werden wiederkommen", versprach sie leise, zog Theodor an sich heran, schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Hoffte, dass sie sich, wenn sie sie jetzt öffnete, wieder am Strand befand.
Aber das tat sie nicht.
Die leere Straße klaffte wie ein graues Loch in ihrer Wahrnehmung.
„Ich wünsche dir viel Spaß auf dem Boot."
„Es regnet."
„Ist der Regen schlimm, Theodor?"
„Nein, er erinnert mich an Zuhause."
Sie nickte, lächelte, erhob sich, drehte sich um.
Blickte Raik an, ihr Lächeln erstarb und das Leben schien aus ihren Fingern zu gleiten. Dieser Mann, sie kannte ihn nicht. Er war ihr fremd, so fremd. Und doch schien er der Schlüssel zu allem zu sein.
Zum Glück. Und auch zum Tod.
Aura hörte Florians Stimme, hörte ihre Schritte, blickte ihnen nicht nach.
„Komm, Theodor. Wir gehen jetzt ein Eis essen."
„Ich möchte kein Eis."
Sekunden verstrichen und wäre der Regen nicht gleichmäßig auf dem Asphalt aufgekommen, hätte man diese Szene als einen Stillstand der Zeit beobachtet.
Sie atmeten nicht einmal. Hielten beide die Luft an.
Ob ihre Herzen in diesen Sekunden der Stille noch pochten, vermochte niemand zu sagen.
„Es regnet." Aura war es, die diesen Moment durchbrach. Mit zwei Worten, die nicht von den Lippen einer so jungen Frau kommen sollten. Bewiesen diese Worte doch nur, in welch schrecklicher Situation sie sich befand.
Keine Gefühle in ihrem Herzen, keine Erinnerungen.
Ein Mann, für den sie etwas empfand, doch hätte es Hass und gleichzeitig Liebe sein können, weil sie nicht vermochte, zu sagen, in welcher Hinsicht die beiden Gefühle sich unterschieden.
Und Regen. Regen, der sie an eine sichere Zeit erinnerte. Und eine Straße, unbekannte Häuser, Geräusche.
Dieses hektische Gefühl in ihrem Inneren, nicht darüber zu entscheiden, was Theodor machte. Nicht zu wissen, was er erlebte, was er nun gerade dachte.
Dieser kleine Junge, er war ihr Anker. War immer da gewesen, jeden Moment ihres so leeren Lebens.
Und jetzt? Jetzt war er fort und sie wusste nicht einmal, wo.
„Ja, Aura, es regnet."
Ihre Situation war erschreckend, das wusste Raik, dass sah er an der Art und Weise, wie sie sich bewegte, wie sie all die neuen Erkenntnisse in sich aufnahm. Doch das, was er empfand, war Gefahr und Kontrollverlust, dem einzigen Menschen, dem er vertrauen konnte, etwas anzutun. Das Feuer, es loderte stetig in ihm. Manchmal, so glaubte er, verschwand es, doch war dies eine Lüge. Hatte er sich doch nur zu sehr daran gewöhnt, dieses knisternde Glühen in seinem Inneren zu spüren. Hin- und hergerissen lebte er in der Vergangenheit, die er noch nicht kannte, und in der Zukunft, in der er ein unbeschwertes Leben mit Aura hätte führen können.
Diese Zukunft schien zu bröckeln, je näher sie der gefährlichen Vergangenheit kamen.
„Meine Schwester wohnt nicht weit von hier", murmelte Raik leise.
„Wir werden mit ihr reden."
„Warum gehen wir nicht direkt zu deiner Mutter?", fragte sie.
„Weil sie uns wieder einsperren will, Aura. Weil sie uns immer und immer wieder verletzen möchte, bis sie das erreicht hat, was ihr Ziel ist."
„Was ist ihr Ziel?"
„Perfektion. Immer nur Perfektion."
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