Kapitel Neunzehn
Der Tag, an dem sie nach Hamburg fuhren war bewölkt.
Graue Wolken hatten sich unter dem Blau zusammengezogen, versteckten die Sonne hinter sich und ließen nur wenige Strahlen hindurchgleiten.
Aura saß in dem kleinen Auto, hatte sich hinten neben Theodor gesetzt und blickte nun hinaus, während Raik und Florian noch im Haus waren. Sie sprachen miteinander, über was, wusste Aura nicht, wollte sie das vielleicht auch gar nicht wissen. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, dass Raik Florian dazu überreden wollte, Aura und Theodor doch nicht mitfahren zu lassen.
Mit einem leisen Seufzer strich sich das junge Mädchen eine dunkle Strähne hinters Ohr und zwang sich dazu, ihre Aufmerksamkeit dem kleinen Jungen zu schenken, der neben ihr saß.
Er hatte Flappi umarmt, spielte gelangweilt mit dessen linken Ohr und blickte währenddessen aus dem Fenster. Auch ihm entglitt ein leiser Seufzer.
„Warum wollen sie nicht, dass wir mitkommen, Aura?", fragte er vorsichtig. „Sie müssen doch wissen, dass wir hier auch nicht sicher vor Rosa und ihrer Mutter sind."
„Raik will uns beschützen, Theodor. Er will einfach nur das Beste für uns."
„Aber das ist nicht das Beste für uns, hier bleiben und nichts tun."
„Ich weiß. Aber er glaubt es halt nicht."
Der kleine Junge wandte sich seiner Schwester zu. Auch seine goldenen Locken waren länger geworden, hingen ihm vor die Stirn.
Aura hatte sich bereits vor ein paar Tagen vorgenommen, seine Haare ein wenig kürzer zu schneiden, so wie ihre Mutter es getan hatte. Bis jetzt war sie allerdings noch nie dazu gekommen.
„Raik darf sich nicht so viele Sorgen um uns machen, Aura."
.„Ich mache mir auch Sorgen um dich und ihn."
Der kleine Junge biss sich auf die Lippen, wandte sich dann kurz von ihr ab um wieder aus dem Fenster zu sehen. Er betrachtete Raik und Florian, die beide nacheinander aus der Tür kamen, keiner von ihnen schien besonders glücklich zu sein, finster wirkten ihre Minen.
„Ich möchte aber nicht, dass sich jeder um jeden Sorgen macht." Die Stimme des kleinen Jungen war leiser geworden, sodass Aura sich Mühe geben musste, ihn zu verstehen.
„Aber so ist das halt", erwiderte. „Wenn man jemanden liebt, macht man sich immer Sorgen."
Die Fahrt dauerte nicht länger als beim letzten Mal. Auch an diesem Tag waren kaum Autos unterwegs, zwang Aura sich allerdings dazu, auf keinen Fall in die Innenräume der wenigen zu blicken.
Sie mochte andere Menschen nicht, wusste nicht, wie sie auf deren Augen, auf deren Interesse reagieren sollte, auch wenn sie mehrere Meter entfernt und nicht einmal im gleichen Wagen saßen.
Wahrscheinlich, so glaubte sie, würde sie es nie lernen, auch nur ein ganz normales Gespräch mit einem anderen Menschen anzufangen.
„Wir werden heute nur kurz in den Supermarkt fahren", murmelte Raik nach einer Weile, der am Steuer saß und sich bisher nicht auch nur eine Sekunde zu Aura umgedreht hatte. „Und danach werden wir direkt wieder nach Hause fahren."
Sie schluckte kurz, wartete darauf, dass Florian etwas darauf erwiderte, etwas ergänzte.
Aber er hielt nur den Mund und schwieg vor sich hin.
„Hast du mich verstanden, Aura?", fragte Raik.
Bei dem Klang ihres Namens zuckte sie ersichtlich zusammen, bevor die Wut hochkochte. Sie wusste, dass es gefährlich war, in der Stadt zu sein. Sie wusste aber auch, dass es nicht ungefährlicher war, als den Tag in diesem Haus zu verbringen.
Demzufolge sollte Raik sie nicht für etwas hassen, was ihr so schrecklich unsinnig erschien.
„Ich habe dich verstanden, Raik", erwiderte sie kalt.
Diesmal war er es, der kurz zusammenzuckte, als hätte diese Wut, die sie verspürte, ihn doch mehr erschrocken, als sie erwartet hätte.
Den Rest des Weges schwiegen sie.
Der Supermarkt lag nicht weit von der Autobahn entfernt und Aura glaubte nicht, dass sie tatsächlich schon in Hamburg waren. Sie hatte bisher noch keine Wohnviertel gesehen, noch nicht die typischen Wohnblocks, die ihr das letzte Mal als so grau und trist erschienen waren.
Der Parkplatz war voller, als sie erwartet hätten. Von den fünf langen Reihen mussten sie in der dritten parken, bevor sie endlich aussteigen konnten.
Noch war kein anderer Mensch bei seinem Auto, lud ein oder kam an. Noch waren sie allein.
Noch musste Aura keiner Frau, keinem Mann begegnen, mit denen sie nicht umgehen konnte.
Sie blieben kurz vor dem Wagen stehen, Florian holte einen Einkaufswagen, Raik hatte sich von ihnen abgewandt und schien den Parkplatz ganz genau zu betrachten.
Wie ein verstörtes Tier blickte er sich um, suchte nach potenziellen Feinden, die sich hinter Hindernissen verbargen, nur darauf lauerten, sie anzugreifen.
Theodor schien das schlechte Gefühl zu spüren, das in Auras Herz pulsierte und so kam er schließlich auf sie zu und griff nach ihrer Hand.
Sie hoffte, dass er es war, der ihren Halt benötigte, wusste sie aber doch auch gleichzeitig, dass diese Geste ganz anders gemeint war.
Das Scheppern des Einkaufswagens hallte über den Parkplatz, als Florian zu den dreien zurückkehrte, ein falsches Lächeln auf den Lippen, das ihnen Mut machen sollte.
Es verfehlte seinen Zweck, denn schien auch er schrecklich besorgt zu sein, schließlich war es nicht gewohnt, mit drei Personen einkaufen zu gehen, die so gänzlich anders als er waren.
„Lasst uns jetzt endlich reingehen", murmelte er, als sie schließlich auf die große Schiebetür zuliefen, auf dessen Glasscheibe eine riesige Reklame angebracht war.
Aura spürte wie Theodors Griff fester wurde, mit der anderen Hand hatte er Flappi gegen sich gedrückt. Auch er schien mehr Angst zu haben, als sie anfangs bemerkt hatte.
In dem Supermarkt waren Menschen.
Zu viele Menschen.
Und das verstörte sie auf eine ihr unbekannte Art und Weise. Sie hatte keine wirkliche Angst vor ihnen, das war es nicht. Doch sie spürte Theodors Angst, sie spürte die Blicke, die die Leute ihm, ihr und auch Raik zuwarfen und sie wollte einfach nur in der Menge untergehen, verschwinden.
Sie wollte, dass sie nicht die einzigen waren, die auffielen.
Sie wollte, dass das alles aufhörte, dass Theodor das nicht mitmachen musste.
Und doch blieb ihr nichts anderes übrig, als die Lippen fest aufeinander zu drücken, Theodor diesmal Halt zu geben, durch die verschiedenen Gänge zu laufen und der Versuchung standzuhalten, sich direkt bei dem ersten Blick umzudrehen und aus dem Supermarkt zu rennen.
Wenn sie ein neues Leben führen wollte, und das hatte sie sich fest vorgenommen, dann musste sie auch lernen, mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Das Publikum, das in diesem Supermarkt einkaufte, war durchmischt. Reichte von der großen Familie, dessen Eltern mit ihren Zwillingen und dem älteren Bruder völlig überfordert waren, bis hin zu dem alleinstehenden Geschäftsmann, der hektisch und in Anzug nach etwas suchte.
Sie alle hielten in ihrem Treiben kurz inne, als die vier an ihnen vorüberliefen, drehten sich nach ihnen um, verfolgten sie mit ihren Blicken.
Theodor schien mehr Angst vor ihnen zu haben als Aura. Er fürchtete sich geradezu vor ihnen. Seine kleine Hand zitterte, seine Augen waren weit aufgerissen.
„Sie sind alle so böse", hörte sie ihn leise murmeln.
„Sie sind alle so böse." Immer und immer wieder.
Auras Körper verkrampfte sich bei jedem Blick und je länger sie sich in dem Supermarkt aufhielten, desto panischer wurde sie. Es war keine Angst, dass ihr etwas geschehen könnte.
Es war die Sorge um Theodor, die sie in den Wahnsinn trieb.
Die anderen blickten ihn an, als würden sie sich am liebsten auf ihn werfen, ihn hinabreißen, in ihr wegnehmen wollen. Als hätte jeder einzelne Mensch in diesem Supermarkt das alleinige Bedürfnis, Theodor zu besitzen, ab dem Moment, ab dem ihre Augen ihn erblickten.
Der Griff ihrer Hand wurde fester, schützend legte sie eine Hand um ihn.
Eine Hand um den kleinen Jungen, der nicht aufhörte, diese Worte zu murmeln.
„Sie sind alle so böse."
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