Kapitel Fünfzehn
Es war ein Wunder, dass Aura überlebte.
Mit unmenschlicher Kraft hatte Rosa ihre Finger in das unschuldige Fleisch geschlagen, hatte Haut aufgekratzt, hatte manche Rippen gebrochen. Blaue Flecken zogen sich über den gesamten Körper des jungen Mädchens. Schmerzen von unvorstellbarer Hitze drangen durch sie hindurch, schienen ihr Blut zu vergiften, ihr gesamtes Inneres zu verätzen.
Aura war, kurz nachdem sie ihren kleinen Bruder schützend in die Arme hatte nehmen können, zusammengebrochen. Ein Lächeln der Freude auf den Lippen, die Tote stets verspürten, sobald sie der Erlösung immer näher kamen.
Raik war es, der nicht aufgab, der Aura nicht gehen ließ. Er schleppte das junge Mädchen zurück zu Florians Haus, presste seine Finger auf die blutigen Wunden, sorgte dafür, dass Aura stets atmen konnte, auch wenn ihre Lungen die Luft teilweise gar verweigerten.
Rosa hatte unmenschliche Kraft gehabt, vom Hass geleitet, der ihrem Herzen noch mehr Stärke verlieh, ihre Bewegungen noch tödlicher machte. Aber auch Aura schien nicht den menschlichen Eigenschaften angepasst, zu schnell verheilten die Wunden, nachdem Raik sie auf ihr Bett gelegt hatte, schützend an ihrer Seite geblieben war.
Wenige Tage waren seit dem Kampf vergangen, Aura hatte ihre Augen noch immer nicht geöffnet, wie ein Instinkt nahm sie das Wasser und die flüssige Nahrung auf. Ihre Wunden wurden immer kleiner. Der Blutfluss verebbte und die Haut bildete sich neu über den offenen Stellen.
Florian hatte die Polizei, oder wenigstens den Krankenwagen rufen wollen, doch sprach alles Erdenkliche dagegen. Die Auffassung, dass Aura nicht normal war, bestätigte sich, je schneller ihre Wunden verheilten. Würde dieses Mädchen Ärzten ausgesetzt werden, die von ihrer Andersartigkeit erführen, so wäre jegliche Vorstellung eines friedlichen Lebens dahin.
Und Raik wollte ein friedliches Leben, wollte seine Familie vergessen. Wenn er mit der Hitze leben musste, um Aura vor seiner Mutter und vor seiner Schwester zu beschützen, dann würde er die Schmerzen auf sich nehmen.
Frieden und Glück waren das einzige, auf das er zusteuerte. Er hatte sich damit arrangiert, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, hatte erkannt, dass das Gefühl des Verlusts und das Gefühl der Furcht überwiegen würden, je näher sie der Wahrheit kamen.
Und die Wahrheit? War sie etwas, wonach man streben sollte?
Wenn man doch ahnen konnte, welch Schrecken verbreitet wurde?
Ein Mädchen, vom eigenen Vater entführt, von einem fremden Mann gefangen gehalten. Ein Mädchen, das gebrochen wurde. Immer und immer wieder, bis es jegliches Gefühl und jegliche Erinnerung aus ihrem Herzen verbannte.
Tochter und Sohn einer Mutter, beide zu Monstern geworden, die sich nur schwer unter Kontrolle hielten, die, sobald die Hitze sie erreichte, eine Gefahr für jeden darstellten.
Und waren es nicht nur Rosa und Raik, die diese Mordlust verspürten. Auch von Aura hatte das Feuer Besitz ergriffen und sie von innen fast verbrannt, fast ausgelöscht.
Raik wollte nicht aufgeben, er wollte tatsächlich eine Lösung für diesen Todesdrang finden. Doch ein solch großes Opfer, wie Aura oder Theodor zu verlieren, ging er nicht ein.
Manchmal, nicht immer, musste man seinen eigenen Kampf aufgeben, um glücklich zu werden.
Aura öffnete nach vier Tagen und vier Nächten, in denen Raik ununterbrochen an ihrer Seite gesessen hatte, ihre Augen. Sie war dünn geworden, noch dünner. Ihre Wangenknochen waren deutlicher zu erkennen, ihr Gesicht wirkte zarter, feiner, knochiger. Ihr braunes Haar war fahl geworden, hatte den Glanz verloren, war von Resten des Blutes dunkler geworden. Schrammen zogen sich noch immer über ihre gräuliche Haut, doch die meisten Wunden waren geschlossen.
Sie blinzelte, als sie ihre Augen öffnete, kniff sie kurz wieder zusammen, riss sie dann wieder auf. Ihr Atem ging stoßweise, als wäre sie von den Toten erwacht und noch immer von dem Gefühl des Lebens überrascht.
Ihr Blick zeigte zur Decke, dann wendete sie rasch ihren Kopf, sah sich im Raum um, entdeckte Raik, der, so weit es ihm möglich war, von ihr entfernt saß.
Er hatte seinen Kopf auf die Hände gestützt, seine blauunterlaufenen Augen geschlossen. Seine Haare waren wirr und ungeordnet, sein Bart zeugte von der Zeit, die er an dem Bett Auras verbracht hatte, nicht einmal in der Verfassung, sich um sich selbst zu kümmern.
Er sah schlecht aus. Gekrümmt, wie er dasaß. Eingefallen seine Augen, als er sich zu ihr drehte, ihren Blick stumm erwiderte.
Sie sahen sich an, sprachen nicht, zeigten keinerlei Reaktion. Warteten nur darauf, dass sich irgendetwas änderte, dass sie wussten, was sie tun sollten.
Es war Raik, der die Stille unterbrach. Seine Stimme kratzig, zu selten hatte er sie in den letzten Tagen benutzt. Nur die Fragen Theodors, nach dem Zustand seiner Schwester, hatte er beantwortet.
„Wie geht es dir?"
Aura lächelte zaghaft. Sie bemerkte die Versuche Raiks, normal zu sein. Zu vergessen, dass sie eine schreckliche Vergangenheit hatten und anders waren. Ein erster Versuch, eine normale Konversation um später vielleicht auch ein normales Leben zu führen.
„Besser." Sie nickte, streckte vorsichtig ihre Hand nach ihm aus, berührte seinen Arm.
Er wäre zurückgezuckt, hätte sich von ihr abgewandt, wäre sein Wille nicht so groß gewesen, diese Situation, in der sie sich befanden, zu verändern.
„Danke, dass du Theodor und mich beschützt hast", flüsterte sie leise, setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, nur um ihn wenige Zentimeter näher zu sein.
„Es ist meine Aufgabe, euch zu beschützen." Seine Stimme schien sich wieder normalisiert zu haben, wirkte noch immer ein wenig zurückhaltend, dennoch direkter, als sie von ihm erwartet hätte.
„Wir sind Fremde für dich."
„Das ward ihr nie."
„Wir sind aber nicht deine Familie, Raik. Rosa ist es. Rosa ist deine Schwester. Und ich weiß, dass sie dir etwas bedeutet, dass du sie liebst."
Raik schwieg, wandte sich von ihr ab und Aura glaubte schon, etwas Falsches getan zu haben.
Doch seine Abwesenheit war nur von kurzer Dauer, ein leiser Seufzer entglitt seinen Lippen.
„Sie ist ein Monster."
„Sie ist kein größeres Monster, als ich es bin."
Zu klar war noch immer das Gefühl des Todes, als Aura ihre Finger in die Augenhöhlen des Mädchens gerammt hatte. Das Blut schien noch immer an ihren Händen zu kleben.
Raiks Blick wurde intensiver, gleichzeitig fragender. Dann schüttelte er entschieden den Kopf.
„Reden wir nicht über Rosa", murmelte er leise. „Reden wir nicht einmal mehr über die Vergangenheit, Aura. Sie ist zu dunkel, sie würde uns nur noch mehr zerstören."
Das junge Mädchen nickte, wandte ihre Augen nicht von ihm ab. Ganz langsam hob sie ihre Hand, berührte seine Wange.
Vorsichtig, nur der Hauch einer Berührung.
Es war Nacht. Dunkel und schwarz hatte sie sich über den Wald gelegt, ließ die Schatten der Bäume noch finsterer erscheinen.
Raik stand draußen, nicht weit entfernt von dem verborgenen kleinen Haus. Sein Blick war eisern und fest, nur das leichte Leuchten zeugte von den Gefühlen, die sich ganz langsam, dennoch stetig an die Oberfläche zu kämpfen schienen. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt, seine Augen waren weit aufgerissen, noch immer war er nicht zur Ruhe gekommen, noch immer erfüllte eine gewisse Hektik sein Herz, die er nicht einzuschätzen vermochte.
Aura ging es besser. Der Tag, an dem sie ihr Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte ihr Kraft gespendet und der Anblick Theodors schien sie innerlich beruhigt zu haben.
Sie gab sich jegliche erdenkliche Mühe, durchzuhalten. Sie lächelte öfter, auch wenn es noch immer gespielt wirkte. Sie sprach mehr, redete mit Theodor und Florian gar über belanglose Dinge.
Vor allem ihrem kleinen Bruder half die Veränderung, die sie vollzogen hatte. Er konnte sich nun endlich wie ein normaler Junge in seinem Alter verhalten. Zwar war er noch immer anders, intelligenter, weiter, aber das Grinsen, das sich sehr oft auf seine Lippen stahl, zeugte von dem Glück, das sein Herz zu erfüllen schien.
Sie verdrängten alle die Erinnerung an den Kampf im Wald, dachten nicht daran, schoben die damit einhergehenden Schmerzen von sich fort. Und es funktionierte. Auch wenn es schwierig war, gaben sich alle die größte Mühe, normal zu sein.
Florian war ihnen dankbar für die Freundschaft, die sie ihm schenkten. Er war ein einsamer Mann, ein Mann, der den Staat und das Gesetz immer gefürchtet hatte. Aber er war gut. Er war gut zu ihnen und half ihnen, soweit er konnte.
Er war kein guter Koch, das war er wirklich nicht, aber er kümmerte sich trotzdem um das Essen, machte Späße, wenn er ein Gericht versalzen hatte.
Es waren die Versuche, ein normales Leben zu führen, das nie normal werden könnte. Es waren nur Versuche, dem war Raik sich bewusst, und doch klammerte er sich an die Vorstellung, dass es eine wahre Lösung sein würde.
Rosa könnte sie hier nicht finden, vielleicht war Rosa sogar schon tot.
Und die Vergangenheit? Warum sollte man etwas erfahren wollen, was man eh nicht mehr ändern könne? Warum sollte man sich mit solch schlechten Erinnerungen befassen, wenn man in jedem Moment doch einen Funken Glück verspüren könne?
Und es war Glück, dass die Herzen der kleinen, neuen Familie erfüllten. Glück, das vielleicht noch neu war, vielleicht auch noch zu klein, um wirklich Glück zu sein. Aber es gab endlich eine Möglichkeit, Frieden zu schließen. Mit sich selbst und mit der momentanen Situation.
„Raik." Ihre Stimme war fein, leise und friedlich. Nicht von dieser stetigen Unsicherheit erfüllt, die sie viel zu oft in ihrem Herzen verspürte.
Er drehte sich zu ihr um, beobachtete stillschweigend, wie sie mit langsamen, aber immer sicher werdenden Schritten auf ihn zukam. Ihre Wunden waren schnell verheilt, bereiteten ihr kaum noch Probleme.
Als sie ihn erblickte, formten sich ihre feinen Lippen zu einem seichten Lächeln und nur wenige Meter von ihm entfernt blieb sie stehen und betrachtete ihn.
„Aura." Er sprach ihren Namen aus, behutsam, mit dem Gefühl, das er in diesem Moment verspürte. Ein Gefühl, das er noch immer nicht einzuschätzen vermochte.
Und doch war es ein Gefühl, das er mochte. Ein Gefühl, das er mit ihr teilen wollte.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, ganz leicht nur, als sie die letzten Meter zwischen ihnen bewältigte, ihre dünne Hand auf seinen Arm legte.
Die beiden blickten sich in die Augen, konnten sich nicht voneinander abwenden, genossen gemeinsam die Berührung und diesen einfachen, so wunderbaren Moment.
Sie betrachteten einander, betrachteten jedes einzelne Detail.
Raik fielen die kleinen Rückstände der Wunden auf, die sich über ihr Gesicht gezogen hatten. Leichte Narben, die mit der Zeit vergehen würden. Das wenige Braun in ihren grünen Augen, ihre langen und dunklen Wimpern. Die Sommersprossen, die sich über Nase und Wangen zogen.
Das Lächeln, das nicht mehr zu verschwinden schien. Ein wunderbares Lächeln, ein Lächeln, das ihn erfüllte und das ihn auf eine unbekannte Art und Weise stolz machte.
Doch nicht nur er betrachtete Aura. Auch ihr schien jede kleinste Besonderheit aufzufallen. Die dunklen Brauen über den so braunen, intensiven Augen. Die wunderbar geformte Nase, seine Lippen, die sich leicht öffneten, die die Luft aufsogen, schneller, als sonst.
Sie spürte die Veränderung, die in ihm vorgegangen war. Spürte die Hektik, die ihn zwar noch immer ergriffen hatte, die jedoch langsam zu verschwinden schien.
Sein Blick wurde ruhiger, entspannter. Seine Mundwinkel zogen sich nur ganz leicht nach oben. Niemandem wäre dies aufgefallen. Ihr schon.
„Dieses Leben", murmelte sie leise. „Diese letzten wenigen Tage dürfen nie vergehen. Nie."
Das Flüstern hallte in den Bäumen wider, schien sich mit dem Rauschen der dunklen Blätter zu vermischen.
Raik nickte langsam, ganz langsam. Genoss diesen Anblick, genoss ihre Stimme. Sehnte sich danach, ihr noch näher zu sein.
Es war nur ein unbeholfener, ein naiver Versuch seinerseits, als er sie in seine starken Arme zog, als er ihren zerbrechlichen Körper gegen den seinen drückte.
Er sog ihren Geruch ein, diesen leichten Geschmack nach dem vergangenen Kampf und den Geruch der Ruhe, die sich in ihrem gesamten Körper ausgebreitet hatte.
Raik schloss seine Augen, lehnte seinen Kopf gegen ihre Stirn, spürte, wie sie ihre Wange auf seine Schulter drückte. Tränen schienen sich einen Weg über ihr Gesicht zu suchen, schienen sich auf seiner Haut zu sammeln, seinen Arm hinab zu tropfen.
Und so standen sie da, diese beiden so besonderen Menschen. Ein Gefühl hatte nun vollendet Besitz von ihnen ergriffen, ein Gefühl, das mit der Zeit wachsen und sich ausdehnen würde.
Es war die bedingungslose Liebe für den jeweils anderen.
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