Kapitel Fünfundzwanzig
Der Friedhof war in vollständige Dunkelheit getaucht, Stille hatte sich über die Gräber gelegt und Nebel waberte über die schwarzen Wege.
Keinerlei Geräusch war zu hören: keine Tiere, kein Rascheln in den Büschen, kein Atmen.
Es schien, als hätten selbst die beiden einzigen lebendigen Wesen an diesem Ort, die Luft angehalten. Mit mechanischen, kaum menschlichen Bewegungen, setzten sie Schritt für Schritt, kamen ihrem dunklen, fast schwarzen Ziel immer und immer näher.
Sie spürten die Angst, die in der Luft lag, sie spürten die Kraft dieses Ortes, der in ihnen nichts als schreckliche Beklemmung hinterließ.
Sie fürchteten sich vor dem, was auf sie zukam, auch wenn sie noch immer nicht wussten, wie schrecklich ihre Vergangenheit und ihre Zukunft miteinander verbunden waren.
Sie fürchteten sich. Sie fürchteten sich so schrecklich vor der Wahrheit.
Schritt für Schritt setzten sie ihren Weg weiter fort.
Auras Innere war leer.
Hitze hatte sich ausgebreitet. Vielleicht war es auch Kälte, die brannte. Sie wusste es nicht. Sie wusste in diesem Moment nicht einmal mehr, wie sie an diesen schrecklichen Ort gelangt war.
Es war ein Friedhof, dem war sie sich bewusst.
Grabsteine waren neben den Wegen in die Erde eingelassen, manche von dem Dreck verhüllt, andere strahlten in schrecklich neuem Glanz.
Der Tod beobachtete Aura, er blickte sie an, während sie schweigend Raik folgte. Der Tod, er verfolgte sie in ihren Gedanken, schnürte ihr die Kehle zu, sodass sie kaum atmen konnte.
Der Tod, er war überall und nirgendwo.
Das junge Mädchen hatte ihre Augen zusammengekniffen, ihre Hände zu Fäusten geballt, ihre Arme eng an ihren Körper gedrückt. Das junge Mädchen hatte Angst und dem jungen Mädchen war bewusst, dass sich nicht nur einen schrecklichen Fehler begangen hatte, sondern in diesem Moment, jetzt gerade, einen weiteren schrecklichen Fehler beging.
Sie wollte etwas sagen, wollte Raik dazu bringen, umzukehren. Zurück zu Theodor. Zurück zu ihrem kleinen Bruder, den sie verlassen hatte. Zurück zu ihrem kleinen Bruder, den sie nicht verlieren durfte.
Kein Wort glitt von ihren Lippen.
Schweigend folgte sie Raik.
Wie in Trance bewegte der junge Mann sich weiter, achtete nicht auf die zweifelnden, fragenden, angsterfüllten Schritte hinter sich.
Er achtete nur auf das, was vor ihm lag.
Seinen Blick hatte er gesenkt, schenkte er seine Aufmerksamkeit doch lange nicht mehr dem Weg, der ihn zu seinem Ziel führte.
Zu oft war er bereits an diesem Ort gewesen, zu oft hatte der schreckliche Schmerz, der ihn in diesen Momenten stets erfasste, Besitz von ihm ergriffen.
Früher hatte er geschrien, geweint, um sich getreten.
Jetzt schwieg er, sperrte all die vergangenen Gefühle aus.
Die Zeit war vorangeschritten, Monate, dann Jahre. Zu lange war es her, dass ihn noch etwas berührt hatte. Zu lange fort der schreckliche Tod, dessen Gesicht ihn nachts heimgesucht hatte.
Die Träume? Sie waren vergangen, sie waren Schwärze und Kälte gewichen.
Leere hatte ihn erfüllt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Aura kennengelernt hatte.
Ein Zeitpunkt, von dem er gehofft hatte, dass sich in seinem Leben etwas ändern könnte, dass sich alles zum Guten wendete, dass seine Familie einen Weg zurück zum Glück fand. Zurück zu der Liebe, zu der Freude. Zurück zu sich selbst.
Er hatte sich geirrt.
Mit dem Kennenlernen Auras war alles noch schlimmer geworden.
Die Liebe zu ihr war gewachsen. Der Hass zu seiner Familie war aufgekeimt. Wie ein schwarzer Fluch hatte er sich über sein Herz gelegt.
Alles war zerbrochen und es gab keine Möglichkeit zu einem Zurück.
Das Grab war das eines von zweien in der Reihe. Moos war den schwarzen Stein heraufgekrochen, Efeu rankte sich um den silbernen Engel, der darauf stand. Er hatte seine Flügel und seine Arme ausgebreitet, seine filigranen Augen waren geschlossen, sein Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Nebel waberte um seine Knöchel, wie ein Schleier lag er über diesem Moment.
Aura und Raik standen vor dem Grab. Raik hatte seine Hände ineinander verschränkt, seine Lippen murmelten wenige Worte, die man in der Dunkelheit nicht verstehen konnte, ein Gebet, vielleicht eine Bitte.
Aura stand nur wenige Meter hinter ihm. Ihre Augen vor Angst weit aufgerissen, ihre Finger suchten nervös nach einer Beschäftigung.
„Raik." Nur ein Flüstern. „Sag etwas." Leise Worte in vollständiger Dunkelheit.
Der junge Mann schien nicht auf ihre Bitte zu reagieren, drehte sich nicht einmal zu ihr um.
„Raik." Ihre Stimme wurde lauter.
„Raik, sag etwas."
Stille.
Stille, die Auras Herz umschnürte.
Verzweifelt drückte sie ihre Hände vor die Augen, schüttelte ihren Kopf.
Sie wollte nicht an diesen Mann denken, der vor ihr in der Erde begraben war. Sie wollte nicht wissen, was er ihr alles angetan hatte.
Schluchzend, ohne dass eine Träne floss, hockte sie sich hin, stützte sich auf dem dunklen, matschigen Boden ab, hielt ihre Augen noch immer geschlossen.
Etwas kämpfte sich durch ihren Kopf. Eine Erinnerung, ein Geschmack, ein Geruch.
Ein Gesicht.
Dunkle Augen, große Hände.
Finger, die sich um ihren schmalen Arm legten.
Finger, die ihr durchs Gesicht strichen.
Tränen.
Sie wusste nicht, ob es ihre eigenen oder die des Mannes waren.
Ein Schrei, der von ihren Lippen wich.
Damals. Jetzt.
Tränen rannen Raiks Wangen hinunter.
Tränen, die er nicht kontrollieren konnte, die er nicht einmal bemerkte.
Er blickte hinab auf das Grab, schüttelte seinen Kopf, murmelte Stoßgebete gen Himmel. Selbst in diesem Moment wusste er nicht, welche Worte von seinen Lippen wichen.
Um ihn herum schien nichts mehr zu existieren.
Nur er und das Grab und die Erinnerungen an seinen schrecklichen Vater.
An seinen Vater und an einen anderen Menschen, dessen Tod all das Grauen herbeigerufen hatte.
Das Grab seines Vaters war nicht das einzige. Es gab ein weiteres, ein unauffälligeres. Das Moos hatte den gesamten Stein umhüllt, verdeckte den goldenen, weiblichen Engel, dessen Flügel sich schützend um den filigranen Körper gelegt hatten.
Traurig wirkte dieses Bild. Traurig dieses Kind, welches dargestellt war.
Raiks Hände ballten sich zu Fäusten. Die Erinnerungen schlugen auf ihn ein. Erinnerungen, von denen er geschworen hatte, sie nie wieder heraufzubeschwören.
Ein Gesicht.
Ein Lächeln, ein Lachen. Sommersprossen auf ihrer Nase, auf ihrer Wange.
Kleine Hände, die schützend nach den seinen griffen.
Aura wankte zur Seite, stürzte auf den matschigen Boden, bewegte sich kriechend nach vorn, immer weiter von Raik weg, fort von diesem schrecklichen Grab.
Ihre Hände berührten feuchte Erde, feiner Nieselregen setzte ein, rann ihre Haut hinab, in ihre Augen, ließ sie ihre Umgebung noch unschärfer wahrnehmen.
Aura war nah der Verzweiflung, nah dem lauten Schrei, der von ihren Lippen weichen wollte. Sie konnte sich nur schleppend voran bewegen. Es schien, als seien ihre Gliedmaßen gelähmt, als würde nur ein schrecklich brennendes Kribbeln ihre Beine durchwandern.
Zentimeterweise kroch sie vorwärts. Ihre Kleidung von dem immer stärker werdenden Regen durchnässt. Ihre Augen weit aufgerissen, voller Angst vor dem Kommenden.
Es war eine Erinnerung, die sich nach oben kämpfte. Eine Erinnerung, von der sie nicht wusste, ob sie der Wahrheit standhalten könnte.
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