Kapitel Einundzwanzig
Es war Abend geworden. Und noch immer hatten sie kein Wort miteinander gesprochen.
Niemand schien Worte zu finden. Passende Worte, die diesem Schrecken gleichkamen, das sie alle erlebt hatten. Florian saß auf dem Sofa, wie erstarrt sah er Theodor an, schüttelte kurz seinen Kopf, wandte sich dann von dem kleinen Jungen ab.
Raik und Aura wussten nicht, was sie tun sollten. Blickten sich gegenseitig nur in die Augen und hofften, dass sie eine Lösung für diese Situation fanden.
„Es ist schlimmer geworden, schrecklich viel schlimmer", hatte Florian leise gemurmelt, als sie zurück nach Hause gefahren waren. Schließlich war er der einzige gewesen, der mit Theodor bereits einmal in der Öffentlichkeit gewesen war.
„Die haben da schon gestarrt", hatte er schlicht gesagt. „Aber nicht so. Die wollten Theodor ja fast auffressen! Die haben sich ja fast wie Tiere auf ihn gestürzt!"
Als Theodor dann in Tränen ausgebrochen war, war Florian verstummt.
Seitdem hatte er nichts mehr gesagt. Nur seine Blicke zeugten davon, wie unerklärlich diese Situation für ihn gewesen sein mochte.
Auras Bruder stand noch immer unter Schock. Wie erstarrt hatte er seine Hände um Flappi geschlungen, seine Augen weit aufgerissen, die Tränen waren auf seinen Wangen getrocknet.
Sie hatte versucht ihm zu helfen, hatte ihn an sich gedrückt um den größtmöglichen Schmerz von ihm zu nehmen. Vielleicht war es ihr nicht gänzlich gelungen.
Doch zumindest waren seine Tränen versiegt.
„Ich habe Angst, Aura", hatte er nach einer Weile gesagt. „Ich habe so schreckliche Angst."
Seit seinen Worten hatte niemand mehr gewagt, zu sprechen.
Die wunderbaren Momente der vergangenen Wochen schienen vergessen. Die Panik hatte wieder Besitz von ihren Herzen ergriffen.
„Was sollen wir jetzt tun?" Auras Stimme brach und so konnte sie nicht anders, als ihren Blick zu senken und die Hände ineinander zu verschränken. Braune Strähnen fielen ihr ins Gesicht, bedeckten die Angst ihrer Augen.
Sie stellte sich diese Frage bereits zum unzähligen Male in Gedanken, nun sprach sie sie aus. Gab diesen Sorgen eine Stimme, gab ihnen Worte.
Gedanken konnte man leichter vergessen. Etwas Ausgesprochenes nicht.
„Ich weiß es nicht." Raik blickte auf, sah ihr in die Augen, schüttelte seinen Kopf.
„Ich weiß es nicht."
„Ich weiß es nicht."
Er wiederholte diesen Satz, schien kaum zu bemerken, dass er immer wieder die gleichen Worte aneinanderreihte, schien in einer anderen Welt zu verweilen, von der Aura ausgeschlossen war.
Florian schienen all diese Eindrücke, all diese Andersartigkeiten zu viel zu werden und so war er der erste, der sich mit einem undefinierbaren Laut erhob und das Wohnzimmer nach draußen verließ.
Seine Hände zitterten, als er die Tür hinter sich ins Schloss warf.
„Ich weiß es nicht."
Raiks Stimme war leiser geworden, trotz allem verebbten seine Worte nicht.
„Verdammt nochmal!" Aura stützte ihren Kopf in ihre Hände, drückte krampfhaft ihre Stirn gegen die Finger, bis sie knackten.
„Raik, hör auf. Bitte Raik, hör doch einfach auch!" Ihre Stimme wechselte vom leisen Ton in eine etwas lautere Stimmlage, die auch Theodor aus seinen Gedanken zu holen schien.
Er war es, der zuerst zu ihr aufblickte, bevor der junge Mann ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
Und so war sie zurückgekehrt, diese Stille, die niemand traute zu unterbrechen.
Theodor war schließlich der erste, der sich von seiner Starre wieder erholt zu haben schien.
Nach einer ganzen Weile, in der Florian noch immer nicht zurück ins Haus gekommen war, erhob der kleine Junge sich von seinem Platz auf dem Boden und setzte sich zwischen Raik und Aura auf das Sofa. Noch immer hatte er Flappi eng an sich gedrückt, während er zu den beiden hinaufblickte.
„Sie sind alle so böse", wiederholte er leise, während seine Stimme immer leiser und leiser wurde. „Diese Menschen, denen wir im Supermarkt begegnet sind, sie sind so schrecklich böse. Warum haben sie uns alle angeschaut? Sind wir auch so böse wie sie? Oder sind wir gute Menschen?"
Aura konnte seinen Gedanken nicht wirklich folgen, nahm nur die Worte, nicht den Sinn dahinter wahr. Es war ihr unmöglich, sich auf ihren kleinen Bruder zu konzentrieren, noch immer saß der Schrecken tief und es wirkte fast so, als wolle er nicht aus ihren Knochen weichen.
„Du bist nicht böse", war Raik es schließlich, der dem kleinen Jungen antwortete. „Theodor, glaub mir. Sie haben dich nicht beobachtet, weil du böse bist."
„Aber ich bin doch auch nicht gut", erklärte Theodor, dessen Stimme wieder erstaunlich fest geworden war. „Ich bin doch noch so jung. Ich habe noch nie etwas Gutes gemacht."
„Aber auch noch nie etwas Schlechtes, Theodor." Raik sah dem kleinen Jungen in die blauen Augen.
„Aber nur, weil ich noch nie etwas Schlechtes getan habe, heißt das doch noch lange nicht, dass ich ein guter Mensch bin."
Darauf konnte Raik nichts erwidern.
Er verstummte, sank auf dem Sofa nach hinten und schloss für einige Sekunden seine Augen.
„Wenn ich weder gut noch böse bin, warum haben mich die anderen Menschen dann beobachtet?", führte Theodor weiter fort, der nicht zu schweigen schien, bis er eine Antwort erfahren hatte.
„Ich muss doch wissen, was an mir anders ist."
„Das können wir aber doch gar nicht wissen." Bei Auras Stimme öffnete Raik wieder seine Augen, lauschte ihrem feinen Klang, lauschte auf die verborgenen Emotionen, die sich dahinter verbargen.
„Was können wir nicht wissen?", hakte Theodor nach. „Was an mir anders ist?"
Er war so schreckliche rational. Kein Gefühl schien in diesem Moment sein Herz zu besitzen. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt lediglich dieser einen einzigen Antwort, die er finden musste.
„Theodor", wiederholte Aura leise. „Bitte hör auf. Wir wissen es nicht. Wir können es nicht wissen."
„Aber wieso nicht? Es muss doch eine Antwort geben."
„Aber wir finden keine Antwort, nicht hier, nicht jetzt." Raik sprach, seine Stimme so leise, dass die beiden anderen sich Mühe geben mussten, ihn zu verstehen.
„Und wo können wir eine Antwort finden?"
In einem anderen Leben.
Aura schloss bei diesem Gedanken für einen Moment die Augen, schüttelte ihren Kopf. Trauer hatte sich in ihr eingenistet. Trauer, die jeden Millimeter ihres Körpers durchströmte.
Sie hatte sich am allermeisten vor diesem Moment gefürchtet. Vor diesem ganz bestimmten Zeitpunkt, ab dem dieses Leben endete.
Dieses erfüllte Leben, dieses Leben voller Glück und Harmonie.
Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es nicht für immer andauern würde, dass irgendjemand von ihnen drei irgendwann nach Antworten verlangte.
Aber sie hatte gehofft, dass es länger gedauert hätte.
Sie hatte gehofft, dass dieser Augenblick noch meilenweit von ihnen entfernt war.
Ganz vorsichtig, ganz langsam drehte sie sich zu Raik, blickte über ihren kleinen Bruder hinweg in seine braunen, kalten Augen.
Auch ihm war bewusst, was es für sie bedeutet.
Dieses Leben hatte nun sein Ende gefunden.
Theodor schlief.
Sein kleiner Körper hatte sich wie in einem Kokon zusammengerollt, fest an ihn gepresst, Flappi.
Seine Träume schienen noch immer von dem Grauen heimgesucht zu werden: seine Augen bewegten sich unter den Lidern, sein Atem war schwer und unregelmäßig.
Seine Hände zitterten, sein Brustkorb zitterte.
Dort, in diesem Raum, der fast in völlige Dunkelheit gehüllt war, saßen Aura und Raik und blickten hinab auf diesen kleinen Jungen und wussten nicht, was sie machen sollten, um ihn vor all den schrecklichen Gefahren dort draußen zu schützen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie wussten nicht, wie sie aus dieser Situation flüchten konnten, in der sie sich befanden, die sich wie ein Netz um sie gewickelt hatte.
Sie wussten nicht weiter. Und es gab niemanden, den sie um Rat hätten fragen können.
Florian war noch immer fort.
Ihre Eltern ihre größten Feinde.
Es gab nur sie drei.
Sie konnten sich nur aufeinander verlassen.
Die restliche Welt wollte ihnen nichts Gutes.
Dieses Wissen war schockierend und gleichzeitig so fern, dass Aura Probleme hatte, die Realität mit ihrer jetzigen, unwirklichen Situation auseinander zu halten. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt in einer scheinbaren Welt gelebt. In einer Welt, die sich nur auf das Haus am Leuchtturm und auf diesen Ort, hier in diesem Wald, beschränkt hatte.
Menschen waren etwas Fremdes für sie. Es gab nur eine Handvoll, die sie bisher näher kennengelernt hatte. Und nur zwei von diesen Personen hatte sie je geliebt.
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