Kapitel Acht
Raik betrachtete das Mädchen neben sich.
Ihr Kopf lag an der dunklen Scheibe, ihre blutverkrusteten Lippen waren leicht geöffnet und die braunen Locken fielen ihr strähnig ins Gesicht. Sie hatte Theodor eng an sich gezogen, ihre Arme lagen um seinen kleinen Körper.
Die beiden atmeten gleichmäßig.
Raik wandte seinen Blick wieder von ihnen ab, konzentrierte sich auf die schwarze Straße vor ihm. Nur vereinzelt waren die Lichter anderer Autos zu sehen.
Seine Augen wirkten glasig, fast traurig, schmerzerfüllt. Die Ringe unter ihnen waren noch dunkler geworden, ein schrecklicher Kontrast zu dem Blutrot, das sein Gesicht und seine Arme bedeckte. Er drückte seine Finger noch fester um das Lenkrad, zwang sich, nicht nachzudenken.
Nicht nachzudenken, über dieses Mädchen, das so friedlich neben ihm saß. Wie konnte sie sich in seiner Umgebung entspannen, wo sie doch wusste, wo sie doch am eigenen Leib erfahren hatte, wozu er fähig war?
Wie hatte er sie überreden können, mit einem blutrünstigen Monster mitzugehen?
Noch immer hallten ihre Schreie in seinem Inneren wieder. Das Blut, ihr Blut, rann seine Hände hinab.
Die Bilder waren in sein Gehirn eingebrannt und doch konnte er sie keiner Geschichte zuordnen. Wusste er doch nicht, was geschehen war, wusste er doch nicht, ob diese Erinnerung der Realität entsprach oder ob sie nur Einbildung war.
Was war, wenn sie zwei Geschehnisse zu einem verbanden?
Woher wusste er, was er tatsächlich getan hatte?
Sie regte sich, nur eine leichte Bewegung, ihre Lippen, die ein kleines Wort stammelten.
Sie war nicht wach, sie sprach im Schlaf.
Diese Tatsache versetzte ihm einen Stich im Herzen und weil er sie nicht ihrer Privatsphäre berauben wollte, zwang er sich dazu, nur auf die Motorengeräusche zu achten.
„Raik." Er schüttelte den Kopf, durfte er doch nicht einmal jetzt zuhören.
Ihr zuliebe.
„Raik." Seine Finger verkrampften, der Schweiß stand auf seiner Stirn.
„Raik. Raik. Er heißt Theodor. Ich... Er sollte Theodor heißen."
Er schloss die Augen und bereute es im nächsten Moment.
Ihr Gesicht tauchte auf, ihre grünen Augen vor Erschöpfung aufgerissen. Ein Lächeln auf ihren rosigen Lippen.
Ein Gefühl in seinem Herzen, nur ein Nachklang. Glück. Glück und Erleichterung.
Ein Lachen, das von seinen Lippen glitt. Ein Lachen, das sie erwiderte.
Raik riss seine Augen auf, konzentrierte sich nur auf die Straße vor ihm, schüttelte seinen Kopf.
„Hast du gehört, was sie gesagt hat?"
Er zuckte zusammen, drehte sich zu dem kleinen Jungen, der die verschlafenen Augen geöffnet hatte.
„Nein", log er.
„Schade. Ich glaube, es war wichtig, Raik."
„Versuch wieder zu schlafen, Theodor."
Der kleine Junge nickte und schloss die Augen.
Aura erwachte, als das Auto anhielt.
Sie standen auf einem tristen Parkplatz, Nieselregen benetzte die Scheibe, prasselte sanft auf das Glas.
Raik neben ihr saß verspannt auf seinem Platz, seine Finger waren so stark um das Lenkrad gelegt, dass die Knochen hervortraten. Die Ringe unter seinen braunen Augen waren noch dunkler geworden, die Pupillen waren geweitet und er blickte eisern geradeaus.
Aura betrachtete ihn in dem Wissen, dass er nicht auf sie achtete. Betrachtete das viele Blut, betrachtete seine aufgeplatzten Lippen, die zu einem schmalen Strich zusammengepresst waren.
„Wir sind da."
Sie zuckte bei seinen Worten zusammen. Seine Stimme hart und neutral, ohne jegliches Gefühl.
Er drehte sich zu ihr um, begegnete ihrem Blick, schaute nicht weg, blinzelte nicht.
Seine Kieferknochen waren fest aufeinandergepresst, sein Kinn kantig, ein Kratzer erstreckte sich von seinem rechten, markanten Wangenknochen hinab zu seiner Mundecke.
Brauner Dreck vermischt mit braunem Blut.
„Wir müssen die Wunden säubern." Sie hob sachte ihre Hand, wollte seine aufgeplatzte Haut berühren, doch er zuckte zurück, wandte den Blick von ihr ab.
„Aura", murmelte er leise. „Wir können das nicht tun."
„Was können wir nicht tun?" Ihre Stimme brach.
„Das hier. Das, was wir füreinander empfinden. Das ist falsch, Aura."
„Nein." Sie schüttelte ihren Kopf, nahm die Hand wieder zurück, legte sie um den schlafenden Theodor.
„Ich bin der Böse, Aura. Du das Opfer, ich der Täter."
„Nein, Raik. nein, sag das nicht."
„Aber es die Wahrheit, verdammt! Ich habe versucht, dich umzubringen, Aura!" Sein Burstkorb bebte bei jedem Wort.
„Du hast mich nicht umgebracht." Nur ein leises, verschrecktes Flüstern.
Ein verbittertes Lachen drang aus seiner Kehle. „Noch nicht."
„Du wirst mir nichts tun."
Ein Knurren drang aus seiner Kehle, das Leder des Lenkrads platzte unter dem starken Griff seiner Hände.
„Ich höre deine Schreie, Aura. Ich spüre dein Blut an meinen Händen."
„Du wirst mir nichts tun", wiederholte sie.
„Ich habe dich bereits verletzt! Ich habe dich versucht zu töten, Aura! Ich werde es wieder tun!" Ein gefährliches Brüllen. „Du musst gehen, Aura. So lange du noch kannst." Ein kontrolliertes Flüstern.
Ein Zittern ergriff ihren Körper. Sie packte ihn am Kinn, presste ihre Finger in seine Haut, zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken, sich zu ihr zu drehen.
„Ich werde nicht gehen, Raik", zischte sie. „Und du wirst Theodor und mich nicht verlassen, hast du verstanden? Du bist jetzt für uns verantwortlich, Raik. Wir haben niemanden mehr. Wir haben nur noch uns."
Er erwiderte nichts, blickte sie nur an.
Und sie schwiegen, während sie in dieser Position verweilten.
Und sie erinnerten sich an das Gefühl, die Lippen des anderen auf den eigenen zu spüren.
Sie bewegten sich nicht.
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