Erinnerungen
Es war der Beginn vom Ende.
Ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs, sieben Jahre, stand am Meer. Das Wasser umspielte ihre zarten Knöchel, der Wind zupfte sanft an dem weißen Kleid, das sie an diesem Tag trug. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung, achtete nur auf das graue Wasser, das vor ihr ein Lied zu singen schien. Der Klang weicher Wellen umhüllte sie, das Rauschen des Windes streifte die Strähnen aus ihrem Gesicht.
Sie summte, das junge Mädchen. Sie blickte hinaus zum Horizont, fragte sich, was sich dahinter wohl versteckte, und summte. Ein Lied, was ihre Mutter und ihr Vater ihr jeden Abend vorspielten. Ihr Lieblingslied.
„Aura?" Ein Ruf, der sie verstummen ließ und so drehte sie sich um und blickte zu ihrem Vater, der nicht weit von ihr entfernt war und ihr winkte.
Ein Lächeln erschien in ihrem Gesicht, nahezu ein Lachen, das die Zahnlücke ihres Vorderzahns offenbarte.
Aber ihr Vater erwiderte das Grinsen nicht und so erschien auf dem unschuldigen, jungen Gesicht ein fragender Ausdruck.
„Was ist?", fragte sie, während sie auf ihn zu rannte, erst vor ihm stehen blieb und zu ihm hinaufblickte. Ihre grünen Augen waren groß und fragend.
„Wir müssen gehen."
„Wohin?", fragte sie.
„Zu einer Freundin."
Auch wenn Aura noch sehr jung war, schüttelte sie entschlossen ihren Kopf.
„Nicht ohne Mama."
Aura war ein starker Mensch, hatte einen festen Charakter und ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Sie war eines dieser besonderen Kinder, die Erwachsene meist überforderten, die sie überforderten, weil ihre Worte zu schlau und zu tiefgründig waren. Auch erkannte Aura oft Dinge, die vor ihr verheimlicht wurden.
„Aura, ich bitte dich."
Ihr Vater blickte zu ihr hinab, hielt ihr mit einem gespielten Lächeln die Hand hin, doch schüttelte sie nur energisch ihren Kopf und drehte sich um.
Sie wollte hüpfend zurück zum Meer, doch ihr Vater hielt sie auf, griff eisern nach ihrem Arm und ließ sie nicht los, auch als sie sich lautstark beschwerte.
„Hör auf, Papa!", rief sie, versuchte seine große Hand von ihrem Körper zu lösen.
Der Griff wurde fester.
Aura hatte stets geglaubt, dass sie eine glückliche Familie waren. Sie liebte ihre Eltern, liebte die gemeinsamen Gespräche und auch das Glück, das sie stets verspürten, wenn sie zusammen waren.
Früher hatten sie oft gemeinsam am Strand gesessen und Burgen gebaut. Es änderte sich schlagartig, als ihr Vater den neuen Job annahm.
Er änderte sich und mit ihm Auras ganze Welt: die Wellen waren grauer, die Wolken dunkler und die Geräusche in der Nacht, vor denen sie sich fürchtete, lauter.
Das Meer war der einzige Ort, an dem sie sich noch frei fühlte, denn es waren die Wände des Hauses, die ihr von Zeit zu Zeit immer enger erschienen.
Das kleine Mädchen hatte sich stets an die Vorstellung geklammert, dass alles besser werden würde, schließlich konnte ihre Familie nicht für immer in dieser Schwebe leben.
Jetzt, wie sie so dastand und ihrem Vater in die dunklen, so fremden Augen blickte, wusste sie, dass nun der Augenblick der Veränderung gekommen war.
Aber nicht im positiven Sinne, so wie sie immer gehofft hatte.
„Papa, lass mich doch los", murmelte sie mit leiser, sanfter, gar hoffnungsvoller Stimme. Würde er seinen Griff jetzt lösen, so würde sie es vergessen können.
„Aura, du kommst mit mir mit." Es war nur ein Zischen, das seinen Zähnen entwich.
Mit einem Ruck zog er sie näher zu sich heran, drückte seine Handfläche vor ihre Augen und zerrte sie mit sich.
Das kleine Mädchen wehrte sich. Erst zaghaft, weil es ihr Vater war, später voller Wucht und mit all ihrer Kraft.
Doch sie hatte keinerlei Chance gegen diesen Mann, gegen diesen Hass, der ihr so plötzlich und unerwartet entgegenschlug.
Tränen rannen über ihre zarten Wangen, eine Hand schlug ihr in das junge Gesicht und hinterließ Spuren des Blutes.
Sie schrie auf, ein verzweifelter Schrei. Ein Schrei, der in dem Getöse des Meeres und des Windes unterging.
Niemand würde sie hören, niemand würde ihre Angst sehen.
Heißes Blut rann ihre Haut hinab, an ihren Beinen, an ihren Armen. Färbte ihr weißes Kleid dunkelrot.
Verzweifelt versuchte sie sich ein letztes Mal zu wehren, erblickte den Leuchtturm, der wie ein stummer König am Strand thronte und auf sie hinabzublicken schien.
Langsam verblasste er vor ihren Augen, wurde von Blättern und Stämmen der Bäume überdeckt.
Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, gab sie den Kampf auf.
Wehrte sich nicht mehr gegen ihren Vater.
Wehrte sich nicht gegen die Äste, die spitz über ihre Haut kratzten und die versuchten, ihren Körper gefangen zu nehmen.
Aura hatte Angst, glaubte nicht mehr atmen zu können. Überall diese schwarzen Knospen der Natur, das Rascheln der Büsche, das Lachen der rauschenden Bäume.
Sie schloss ihre Augen.
Und gab sich ganz dem Schmerz in ihrem jungen Herzen hin.
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