93. Erste Annäherungen
»Herr Forelli!«, zischte Tuna und zerrte Cyan vom Beistelltisch. Benebelt von Sekt und Wein verlor der junge Mann den Halt und stürzte ihr förmlich in die Arme. Die umstehenden Partygästen reagierten ganz unterschiedlich auf diese Entwicklung. Manche protestierten gegen Tunas Auftauchen, während andere ihr zujubelten und applaudierten. Die Allermeisten verfolgten die Szene jedoch mit einer Mischung aus Sensationsgier und stummem Entsetzen.
»Achtung, Tuna«, warnte Enzia, die sich zuvor redlich bemüht hatte, ihren Bruder wieder zur Vernunft zu bringen. »Er weiß nicht, was er tut.«
»Das scheint inzwischen ein Dauerzustand zu sein«, grollte Tuna, während sie Cyan wieder auf die Beine hievte. Dabei kümmerte sie sich weder um seine schwachen Beschwerden noch um seine bemitleidenswerten Versuche, sich von ihr zu befreien.
»Ich komme schon klar«, lallte Cyan. »Behandel mich gefälligst nicht wie ein Kind.«
»Du verhältst dich aber wie ein Kind«, schimpfte Enzia, deren Gesicht vor Verlegenheit dunkelrot angelaufen war. »Vater würde sich schämen.«
»Dann wäre es zur Abwechslung mal so, dass er sich für uns schämt – statt wir für ihn«, gab Cyan zurück, holte aus und kippte sich dabei aus Versehen den Bodensatz seines Weinglases über die Weste. Mit vernebeltem Blick starrte er auf die rote Flüssigkeit, die den perlmuttfarbenen Stoff tränkte. »Ich werde sterben«, murmelte er.
Tuna legte sich seinen rechten Arm um die Schultern. »Reden Sie nicht so einen Blödsinn.«
»Sie haben schon Iris und Zander geholt«, fuhr Cyan fort, ohne den Blick von dem roten Fleck auf seiner Weste zu lösen. »Sie werden dich auch kriegen.« Er stützte sich schwer auf Tunas Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: »Du solltest dich und Enzia in Sicherheit bringen.«
Iris trat aus der Menge und kam Tuna zu Hilfe, ehe die Dienstmädchen einschreiten konnten. »Ich bin hier, Herr Forelli.« Sie rang sich zu einem Lächeln durch. »Und es geht mir gut.«
Cyan blinzelte verwirrt. »Fräulein Dan de Lion?«
Iris legte sich seinen anderen Arm um die Schultern und ignorierte den Schmerz, der dabei durch ihr Bein schoss. »Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo nicht so viele Menschen sind, ja?« Sie wartete nicht auf Cyans Antwort, sondern gab Tuna mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie bereit war.
»Kommen Sie«, drängte Tuna und setzte sich in Bewegung.
Die Menge wich vor ihnen zurück, als hätten sie es mit Aussätzigen zu tun oder als befürchteten sie, irgendwie in die Reichweite von Tunas Säbel zu gelangen.
Während sie sich zum Ausgang der Halle bewegten, stimmten die Musikanten ein ruhigeres Stück an. Godinde op de Diepmere, nannte sich das Lied, das sogar in Myr Paluda bekannt war. Dort wurde es jedoch nur gespielt, um die Göttin Lacuna zu verhöhnen.
»Wo... wo ist Zander?«, nuschelte Cyan. Iris' Auftauchen schien ihn zutiefst verunsichert zu haben. »Geht es ihm auch gut?«
Iris ignorierte nicht nur Cyans flehende Blicke, sondern auch die Aufmerksamkeit der versammelten Menge. Obwohl sie in der Vergangenheit schon der einen oder anderen Freundin beim Verlassen einer Party behilflich gewesen war, kam sie sich in diesem Moment wie eine einfache Dienstbotin vor, die ihrem Herrn zu Hilfe eilte. Ein ganz und gar ungewohntes Gefühl. »Ja, ja, geht es«, antwortete sie. »Er hat noch etwas zu erledigen und wird später nachkommen.«
»Hat er die Attentäter gefunden?«, fragte Cyan hoffnungsvoll.
»Er ist ihnen dicht auf den Fersen«, erwiderte Iris und versuchte, optimistisch zu klingen. Dabei machte sie sich weniger Sorgen um die Richtigkeit von Zanders Schlussfolgerungen als um seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Pike. Sie hielt es durchaus für möglich, dass sich die beiden noch vor Erreichen ihres Ziels gegenseitig an die Gurgel gingen. Aber vielleicht schätzte sie die Situation auch völlig falsch ein. Immerhin ging es um die Ergreifung von Kindermördern. Vor diesem Hintergrund waren persönliche Animositäten vorerst zurückzustellen.
Tuna und Iris schleppten Cyan aus der Tür ins Treppenhaus. Enzia folgte ihnen. »Kann ich irgendetwas tun?«, fragte sie und fuhr sich sichtlich nervös mit den Händen durch die Haare. Zu Beginn der Feierlichkeiten musste ihre Hochsteckfrisur noch Form und Halt gehabt haben, doch inzwischen fielen ihr die hellroten Strähnen lose ins Gesicht. »Bitte sagt mir, dass ich irgendwas tun kann. Ich ertrage es nicht, einfach nur zuzusehen.«
»Ja, du kannst etwas tun«, meinte Tuna, während sie sich nach ihrer Geliebten umdrehte und dabei Cyan und Iris mit sich zerrte. Sie verstummte jedoch, als einige junge Frauen in kirschroten Abendkleidern an ihnen vorbeizogen, Cyan und seine weiblichen Helfer musterten und in Gekicher ausbrachen.
Iris fragte sich, ob sie auch mal ein so albernes Ding gewesen war. Ihre Abscheu vertiefte sich noch, als sie die abwertenden Blicke realisierte, welche die Frauen Fräulein Enzia und ihrem metallischen Stuhl zuwarfen. »Hey!«, fuhr sie die tuschelnden Weiber an. »Wenn ihr euch das Fischmaul zerreißen wollt, dann gerne so laut, dass wir es auch hören können.«
Die Frauen betrachteten sie verwundert, als wüssten sie nicht, wovon Iris sprach oder warum sie sich in ihre Angelegenheiten einmischte.
»Lass es gut sein«, mahnte Tuna. »Das bringt gar nichts.«
Iris warf den Frauen böse Blicke zu, die jedoch nur verhaltenes Gelächter hervorriefen. Erst als Tuna die Hand auf ihren Säbelgriff legte, flohen die Weiber gackernd in den Königssaal.
»Danke, Iris«, meinte Enzia und kratzte sich am Unterarm. »Aber ich habe mich an die Blicke längst gewöhnt.« Unsicher sah sie den Frauen nach. »Das waren Limanda, Tilapia und Orata. Als Kinder haben wir zusammen gespielt.«
»Vergiss sie«, sagte Tuna streng. »Sie sind es nicht wert, dass du auch nur einen Gedanken an sie verschwendest.«
Enzia nickte zustimmend, doch in ihrem Blick lag der Anflug einer Sehnsucht, die Iris nur zu gut verstehen konnte. Gleichzeitig schämte sie sich, weil sie in der Vergangenheit auch manchmal ein dummes Weibsbild gewesen war, das sich nur für Klatsch und nicht für die Gefühle der Betroffenen interessiert hatte. Diese Phase ihres Lebens, am Königshof von Myr Paluda, schien Ewigkeiten zurückzuliegen.
»Ich glaube, ich muss kotzen«, ächzte Cyan.
Tuna stöhnte. »Nicht jetzt, Herr Forelli. Reißen Sie sich gefälligst zusammen!« Sie schlang den Arm um seine Taille, packte ihn fester und schleppte ihn die Treppe hinauf.
Iris wandte sich an Enzia: »Sie müssen für uns die Stellung halten. Wenn Sie jemand Verdächtiges entdecken, sagen Sie uns Bescheid. Wir sorgen derweil dafür, dass Cyan keinen Kontakt zu den Gästen hat – falls jemand den Zauber bei sich tragen sollte.« Sie raffte ihren Rock zusammen und rannte die Treppe hinauf. Über ihre Schulter rief sie Enzia zu: »Und achten Sie auf Rogner!«
Am oberen Ende der Treppe folgte sie dem Flur, der zu den Büroräumen, zum Trandafir-Salon und schließlich zu Cyans und Enzias Gemächern führte. Im Salon holte sie Tuna und Cyan ein. Der junge Herr Forelli lehnte aus dem Fenster, das zum See hinauszeigte. Gequälte Geräusche deuteten an, dass sein Magen soeben dabei war, sich schwallartig zu entleeren. Tuna wartete in einigen Metern Abstand, als fürchtete sie, irgendwie in Kontakt mit seinem Mageninhalt zu geraten. Angeekelt ließ sie ihren Blick über die opalblauen Tapeten und die gerahmten Wandgemälde wandern. Die Geräusche der Party drangen nur noch gedämpft an ihre Ohren und die Petroleumlampen an den Wänden spendeten ein beruhigendes, weiches Licht.
»Geht es Ihnen gut, Herr Forelli?«, fragte Iris vorsichtig.
Cyan sah sich nach ihr um. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Augen matt, aber er wirkte nicht mehr aufgebracht oder verzweifelt. Eher resigniert. »Ich bin müde«, meinte er und sank an der Wand unter dem Fenster zu Boden. Sichtlich erschöpft wickelte er sich den Vorhang um die Schultern, wischte sich mit dem gerüschten Ärmel über den Mund und schloss die Augen. »Wenn ich schon sterben muss, dann soll es bitte schnell gehen.«
»Haben Sie denn nicht zugehört?«, fuhr Tuna ihn an. »Zander ist den Attentätern auf den Fersen. Sie werden nicht sterben.«
Iris nickte zustimmend. »Alles, was sie tun müssen, ist, sich von anderen Menschen und den Dingen, die sie mitbringen, fernzuhalten.«
»Den Rest erledigen wir«, ergänzte Tuna.
Cyan lächelte schwach. Noch immer schien er gänzlich davon überzeugt zu sein, in dieser Nacht sterben zu müssen.
Iris durchquerte den Raum und ging vor ihm in die Hocke. Er stank schlimmer nach Alkohol als jede Hafenkneipe. Sie mochte sich nicht einmal vorstellen, wie viel er in den vergangenen Stunden getrunken haben musste. »Hören Sie, Cyan«, sagte sie und wartete, bis er die rotbraunen Augen aufschlug, um sie anzusehen. »Sie beherrschen Magie und haben Fader und seine Bande fast im Alleingang erledigt. Und Kanto Dan de Nowy ist nicht allmächtig. Ganz im Gegenteil. Er macht Fehler. Zum Beispiel wollte er Ihren Vater töten, aber Sie haben seinen Plan zunichtegemacht. Er wollte verhindern, dass die Forelli-Familie Verhandlungen mit den Wodlanden aufnimmt und ist gescheitert.« Iris verlieh ihrer Stimme einen drängenden Tonfall. »Sie haben ihn schon zwei Mal besiegt. Und Sie schaffen das auch noch ein drittes Mal.«
Cyans Blick wurde glasig und Feuchtigkeit sammelte sich in seinen Augen. Er presste die Lippen zusammen und die Hände aneinander. »Ich wünschte, ich hätte Ihren Optimismus«, sagte er mit belegter Stimme.
»Ich vertraue Zander«, erwiderte Iris. »So wie ich auch Tuna vertraue. Und mir selbst.«
»Sie Glückliche«, murmelte Cyan.
Ein Rumpeln, das aus einem der angrenzenden Zimmer drang, ließ Iris aufhorchen. »Wer ist da?«, fragte sie verwundert. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass sich alle Angestellten und Gäste der Forellis im Erdgeschoss aufhalten würden.
Tuna zog ihren Säbel.
Im gleichen Moment erschien Hauki am Eingang des Salons. Trotz seiner Körpermaße bewegte er sich flink und geschmeidig. Er musste das Rumpeln ebenfalls gehört haben, denn er glitt zielsicher zu der halb geöffneten Tür, die in eines der Arbeitszimmer führen musste. Zanders Arbeitszimmer, wenn sich Iris richtig erinnerte.
Während Tuna und Hauki die Tür öffneten, zog Iris einen der Beistelltische zu sich heran und bewaffnete sich mit der darauf abgestellten Blumenvase. Sie würde Cyan verteidigen – auch gegen Aciarische Attentäter, wenn es sein musste.
»Die beiden... gehören... zu mir«, stammelte Bradan. Der angesehene Ingenieur schien unter den bohrenden Blicken der Wächter förmlich zu zerfließen. Er war einer der schlechtesten Lügner, die Zander je untergekommen waren.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte der Größere der beiden Wächter, die den Landesteg der Seeteufel bewachten, misstrauisch. Sein massiger Schädel sprengte fast die Pickelhaube, die seinen Kopf vor Schlägen und Stürzen bewahren sollte. Auf seinem Brustharnisch, der ihm ebenfalls viel zu eng zu sein schien, prangte die goldene Krone Myr Paludas.
»Mir geht es bestens«, platzte Bradan mit einem nervösen Kichern heraus.
Die beiden Wächter tauschten Blicke. Unter ihnen schwappte dunkles Wasser gegen den Schiffsrumpf und das Dock. Rhythmisch. Beinahe einschläfernd. Zander fragte sich, wie es den Wächtern unter diesen Bedingungen gelang, aufmerksam zu bleiben.
»Hören Sie«, setzte Bradan nach, als Pike den Druck seiner Waffe auf die Nierenregion des Ingenieurs verstärkte. »Ich weiß, es ist schon spät. Aber per königlichem Dekret wurde mir aufgetragen, einen Novomagica-Antrieb für dieses Schiff zu entwickeln.« Seine Stimme wurde lauter, sein Tonfall selbstsicherer. »Die meisten Reedereien in Myr Ryba konzentrieren sich derzeit auf Dampfantriebe, aber ich vermute, dass sich dieses Verfahren in Zukunft als unzuverlässig und unwirtschaftlich herausstellen wird. Außerdem nehmen die verwendeten Schaufelräder Platz weg, der für die Bewaffnung benötigt wird. Wir müssten die Geschütze auf dem Batteriedeck stark reduzieren.« Nachdenklich ergänzte er: »Wobei es theoretisch möglich wäre, ein paar großkalibrige Geschütze auf dem Oberdeck vorn und achtern zu platzieren.« Ehe einer der Wächter das Wort ergreifen konnte, fuhr er fort: »Jedoch würde die Verwendung von Dampfantrieben den königlichen Wünschen im Weg stehen. Und Sie wollen doch nicht den königlichen Wünschen im Weg stehen, oder?«
Erneut tauschten die Wächter unruhige Blicke. »Nein. Das wollen wir nicht«, antwortete der Große mit der Pickelhaube. »Aber warum sind Ihre Begleiter so nass?«
Bradan bewegte den Mund, doch kein Ton kam über seine Lippen.
»Wir haben den Tiefgang überprüft«, sprang Zander ein. »Ab und zu ist es nötig, die Tiefgangmarken und die Freibordmarken zu überprüfen.« Er deutete zu den Angaben, die am Rumpf der Seeteufel angebracht waren. »Damit uns die Gutachter der Hafenmeisterei keine Probleme machen «, ergänzte er. Die angesprochenen Schiffsmaße waren wichtig, weil sich daraus ablesen ließ, welche Überwasserhöhe das Schiff besaß und wie tief es im beladenen Zustand ins Wasser eintauchen durfte, ohne instabil zu werden. Die Hafenmeisterei führte regelmäßige, strenge Kontrollen durch, um ganz sicherzugehen, dass sich alle Reedereien an die gängigen Konventionen hielten. Das war nicht nur von großer Wichtigkeit für die Sicherheit in der Bucht, sondern auch für die Berechnung der Kosten für Anlegeplätze und Leuchtfeuer.
»Den Tiefgang überprüft?«, fragte der Wächter skeptisch.
»Wir sind Gusaren«, antwortete Pike scharf. »Wir können länger die Luft anhalten als ihr zwei Paluder Buckelwale zusammen.«
»Na gut«, meinte der kleinere Wächter versöhnlich, bevor es zu einem Streit und Handgreiflichkeiten kommen konnte. »Sie können kurz an Bord gehen.« Er fasste seine Hellebarde fester. »Aber machen Sie schnell und reden Sie kein Wort mit den Passagieren. Sonst können wir für nichts garantieren.«
»Passagiere?«, fragte Zander. »Heißt das, jemand ist in diesem Moment an Bord?«
Der Wächter bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Halten Sie sich einfach von diesen Männern fern, wenn Ihnen was an Ihrem Leben liegen sollte.«
Der vage Verdacht, den Zander schon seit Tagen mit sich herumtrug, verfestigte sich zu einer schwelenden Gewissheit. Er musste nur mit dem Stock in die Glut stechen, um den Brand wieder aufflammen zu lassen und alles niederzubrennen. Endlich ist es soweit, sagte er zu sich selbst. In wenigen Minuten würde er den Aciarischen Attentätern Auge in Auge gegenüberstehen.
Das Fieber der Jagd brannte heiß in seinen Adern, als er Bradan und Pike über den Landungssteg an Deck der Seeteufel folgte.
Das Schiff war eine dreimastige Fregatte mit zwei Decks und einem ungewöhnlichen langen Kiel im Verhältnis zur Breite des Rumpfs. Das untere Deck lag knapp oberhalb der Wasserlinie, besaß aber keine verschließbaren Öffnungen für die Kanonen und war daher unbewaffnet. Das hohe Achterdeck erinnerte ihn an die Rybala Korunaroga, die auf ähnliche Weise konstruiert worden war. Allerdings war bei der Seeteufel die Kuhl, der Bereich zwischen Vor- und Achterdeck, wo bei den meisten Schiffen die Beiboote lagerten, geschlossen, sodass ein durchgängiges Deck über dem Hauptdeck entstand. Eine solche Konstruktion war Zander bislang noch nicht untergekommen.
Hinter dem Großmast, am Übergang zum Achterdeck, stiegen sie eine Treppe in den Unterbau des Schiffes hinunter. Es war nicht das erste Mal, dass Zander ein großes Segelschiff betrat, aber die Dunkelheit und die Enge beeindruckten ihn immer wieder. Gleichzeitig erfüllte ihn der Gedanke an ein freies und unabhängiges Leben auf dem Meer mit einer drückenden Sehnsucht, die wohl jeder Gusar im Herzen trug.
Pike stützte sich an einem der Holzbalken ab, die das Achterdeck trugen. »Also, Herr Ingenieur, wo finden wir diese Attentäter?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Bradan und ließ sich auf die glänzenden, mit Walrosswachs behandelten Stufen sinken. Nervös rückte er seine Brille zurecht. »Ich wusste gar nicht, dass es sich bei ihnen um Verbrecher handelt. Sie wurden mir als Hilfsarbeiter vorgestellt.«
»Aciarier als Hilfsarbeiter auf einem Schiff?«, brummte Pike.
Bradan seufzte. »Nun, es erschien mir auch kurios.«
»Der sicherste Ort auf einem Schiff dieser Klasse ist das Orlopdeck«, sagte Zander. »Dort bewahren der Zahlmeister und der Schiffsarzt ihr Handwerkszeug auf.«
Pike musterte ihre Umgebung, die ausgesprochen sauber und aufgeräumt war, prüfend. Vermutlich dachte er das Gleiche wie Zander: Keine Anzeichen von Mäusen, Ratten oder anderem Ungeziefer. Der hölzerne Untergrund bewegte sich leicht im Rhythmus der seichten Wellen, die das Dock streiften. Es roch nach Wachs, Mottenkugeln und Salzwasser.
»Und wie soll diese Kreatur auf Orlopdeck gelangen?«, fragte Pike schließlich.
»Die Kreatur kann überall erscheinen«, erwiderte Zander. Bradans entsetzten und Pikes leicht konsternierten Blick ignorierend, ergänzte er: »Bei ihrem ersten Erscheinen ist sie mitten im Festsaal des Forelli-Anwesens aus dem Boden gebrochen.«
»Na schön«, seufzte Pike, drängte sich an Zander vorbei und näherte sich der nächsten Stiege. »Dann eben das Orlopdeck. Du übernimmst die Kreatur. Ich kümmere mich um die Attentäter.«
Zander sagte ihm nicht, dass er befürchtete, die Kreatur könnte längst das Forelli-Anwesen aufgesucht und Cyan attackiert haben. Er musste sich darauf verlassen, dass Iris, Tuna und Salmon die Situation unter Kontrolle hatten. Trotzdem quälte ihn diese Vorstellung mehr als der Schmerz, der bei jedem Schritt durch sein Bein wanderte.
»Und was ist mit mir?«, rief Bradan ihnen nach.
»Sie warten hier«, antwortete Pike.
»Wenn wir in einer Viertelstunde nicht wieder da sind, verschwinden Sie«, fügte Zander hinzu. »Und kein Wort zu niemandem.« Er wartete nicht auf Bradans Reaktion, sondern folgte Pike tiefer in die Eingeweide der Seeteufel.
Obwohl das Schiff verlassen wirkte, brannten in regelmäßigen Abständen magische Laternen, welche die schmalen Gänge mit einem schwankenden, hellgrünen Licht erfüllten. Der unnatürliche Lichtschein spiegelte sich auf den verschnörkelten Handläufen und auf den Intarsienarbeiten an den Türen der Offizierskabinen.
Das Orlopdeck war das unterste Deck. Dort befanden sich normalerweise die Kajüten besonders wichtiger Crewmitglieder oder Passagiere, wertvolle Ladung, die Waffenkammer und die Kammer des Schiffsarztes.
Als Zander und Pike das Deck erreichten, staunten sie jedoch nicht schlecht. Vor ihnen lag eine langgestreckte, fast vollständig leere Halle. Die räumlichen Dimensionen des Raums waren ausreichend, um darin ein Schlagball-Turnier zu veranstalten. Es war unangenehm düster. Eine Düsternis, die durch das blassgrüne Novomagica-Licht nur noch verstärkt zu werden schien.
»Siehst du das?«, flüsterte Pike und deutete mit seinem Messer auf ein symmetrisches Symbol aus Linien, Kreisen und Buchstaben, das im hinteren Teil der Kammer mit Kreide auf den Boden gemalt worden war. Rundherum waren die Dielenbretter rußgeschwärzt und teilweise angekokelt. Neben dem Kreidezeichen stand eine Art Altar, wie man ihn auch in manchen Tempeln finden konnte – und darauf lagen mehrere dicke Bücher, Pergamente und Schreibutensilien.
»Riechst du das?«, erwiderte Zander und meinte den faden Geruch von Blut, der in der Luft lag.
Pike nickte. »Hier muss es sein.«
Vorsichtig näherten sie sich dem Altar. Dabei entdeckte Zander ein schweres Glasgefäß, das zwischen den Büchern bereitstand. Darin lag ein dunkelroter Klumpen, den er erst auf den zweiten Blick als menschliches Herz identifizierte.
»Sieht aus, als hätten sie schon eine Belohnung für ihren Schoßhund vorbereitet«, bemerkte Pike und zupfte an den goldenen Gitterstäben eines leeren Vogelkäfigs, der neben dem Altar auf dem Boden stand. Dann wandte er sich den dunklen Flecken zu, die das Kreidezeichen sprenkelten. »Eindeutig Blut«, erkannte er fachmännisch. »Vermutlich haben sie die Kinder genau hier getötet. Oder ihnen zumindest das Herz herausgeschnitten.«
Zander steckte die Hand nach einer kleinen Laterne aus, die mit einem schwarzen Tuch abgedeckt war. Als er das Tuch mit spitzen Fingern anhob, wanderte ein Lichtimpuls durch die Kammer, so grell und gleißend, dass sie sich abwenden und die Augen zusammenkneifen mussten.
Im gleichen Moment ertönte hinter ihnen das Quietschen von Türscharnieren.
Noch immer geblendet, wandte Zander den Kopf, doch er sah nur schwarze Flecken. Das helle Licht schien jedoch nicht nur seine Augen, sondern auch noch einen anderen Teil seines Körpers gereizt zu haben – genau den Teil, der sich in der Vergangenheit immer dann geregt hatte, wenn er das Zupfen der Himmelsmotte Tinea oder den Ruf der Rybala Havfruese vernommen hatte. Ein sehr alter Teil seines Körpers, tief verborgen in seiner Brust.
»Sie sind hier, Zander«, raunte Pike. »Ich kann es spüren.«
Zander konnte es ebenfalls spüren. Sie waren nicht länger alleine.
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