79. Otter und Weinbrand
Zum wiederholten Mal nahm Zander den Stoffbeutel und drehte ihn hin und her, um ihn von allen Seiten zu betrachten, als wäre sein Verstand auf der Suche nach einem doppelten Boden oder einer anderen Trickserei. Er konnte einfach nicht fassen, dass Iris diesen brisanten Fund in Cyans Labor gemacht hatte. Es ergab keinerlei Sinn.
Iris ließ sich auf die Ottomane am Fenster sinken und raufte sich die blonden Locken. »Dieser Renke Rotfeder ist sich ganz sicher, dass er die Aciarier gesehen hat?«
Zander nickte. »Er sagte, sie wären vor zwei Monaten beim Modderhauven aufgetaucht, um sich nach Handlangertätigkeiten für eine der großen Handelsfamilien umzuhören. Danach habe er sie nicht mehr gesehen.«
»Das bedeutet, sie verstecken sich nicht im Modderhauven?«
»Nein«, antwortete Zander seufzend, warf den Stoffbeutel auf den Schreibtisch und ließ sich neben Iris aufs Sofa fallen. »Aber sie existieren.«
Iris legte den Kopf an seine Schulter. »Und was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung«, murmelte Zander. »Herausfinden, wer Herrn Forelli ermorden wollte, nehme ich an.«
»Cyan hatte die Möglichkeit«, sagte Iris, während sie mit den Fingern den Spitzenbesatz ihres Rocks bearbeitete. Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in tiefe, deprimierende Schatten. »Ich weiß noch, in meiner ersten Nacht in Ryba... als ich vor Jeseter und seinen Kumpanen geflüchtet bin, verlor ich meinen Hut. Cyan hat ihn mir wiedergebracht.« Iris zuckte schwach mit den Schultern. »Er könnte diese Gelegenheit genutzt und das Pulver auf die Seidenblume gestreut haben.«
Zander ließ den Kopf weit in den Nacken sinken. Doktor Seebader hatte seine Nase mit allerlei Salben und Tinkturen bestrichen, die ein durchdringendes Kräuteraroma verströmten. Trotzdem bekam er aufgrund der Schwellung nur sehr schwer Luft. »Es war nicht Cyan. Er könnte seinem Vater niemals etwas so Grausames antun. Außerdem wäre das Pulver bei deinem Sturz in den See abgewaschen worden.«
»Mag sein«, erwiderte Iris. »Aber er könnte es ein zweites Mal versucht haben. Vielleicht während er mir das Märchen von Sincope erzählt hat.«
Zander hob fragend eine Augenbraue. »Cyan hat dir das Märchen von Sincope erzählt?«
»Was ist daran so seltsam?«
»Na ja«, meinte Zander zögernd. »Ist eine ziemlich anzügliche Geschichte.«
Iris warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das findest du schon anzüglich?«
Bei dieser Frage hätte Zander am liebsten laut gelacht. Es war ihm absolut unbegreiflich, wie jemand, der bis vor ein paar Stunden noch davor zurückgeschreckt war, seine nackte Haut zu berühren, plötzlich so abgeklärt und überlegen klingen konnte. Dann erinnerte er sich. »Ah, ich vergaß«, erklärte er spöttisch. »Die Dame von Welt liest Fräulein Amanda.«
Iris' Reaktion darauf war unbezahlbar. Sie sog scharf Luft ein und schoss in die Höhe. »Woher weißt du das?«
»Ich habe meine Augen und Ohren überall«, antwortete Zander geheimnisvoll, auch wenn die schlichte Wahrheit darin bestand, dass er gehört hatte, wie die Dienstmädchen getratscht hatten, nachdem sie beim Saubermachen über das verruchte Büchlein gestolpert waren. Natürlich war ihm klar, dass diese Form der Frauen-Lektüre existierte und sich darüber hinaus sogar großer Beliebtheit erfreute. Die Autorin, eine gewisse Fräulein Amanda, beschrieb in ihren Büchern relativ offen und leidenschaftlich den Akt zwischen Mann und Frau - eine Welt, die vielen Frauen verschlossen blieb.
»Das geht dich aber gar nichts an«, zischte Iris, die inzwischen purpurrot angelaufen war. »Ich lese das nur zur Weiterbildung!«
Jetzt konnte Zander sein Lachen nicht mehr zurückhalten, was ihm einen bösartigen Blick einbrachte. »Gut«, konstatierte er schließlich und schwächte sein Lachen zu einem schelmischen Grinsen ab. »Du wirst es noch brauchen können.«
Zufrieden beobachtete er, wie sich Iris' Schamesröte bei diesen Worten vertiefte. Sie wirkte jedoch nicht abgeschreckt, sondern hin- und hergerissen wie ein schutzloses Segel im rotierenden Wind. »In Myr Paluda lesen das alle Frauen«, verteidigte sie sich schwach, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre.
Zander streckte die Hand aus und zog sie wieder zu sich auf die Ottomane. »Ich verurteile dich nicht, Iris. Das werde ich niemals tun.«
»Ich weiß«, seufzte Iris, hielt seine Hand und betrachtete die Narben auf seinem Handrücken. »Und trotzdem habe ich manchmal furchtbare Angst vor dem, was du sehen könntest, wenn du mich ansiehst.«
»Vor dem, was ich sehe, wenn ich dich ansehe, sollten manche Leute Angst haben«, erwiderte Zander ernst. »Denn es ist wunderschön und gefährlich.«
»Wie eine Rose mit Dornen«, murmelte Iris in ihrer unnachahmlichen Selbstverliebtheit.
Zander schmunzelte und strich ihr eine Locke aus der Stirn. »Ich dachte jetzt eher an einen ziemlich hinterlistigen Otter.«
»Du bist wirklich ein Saufisch«, befand Iris.
»Wieso?«, gab Zander zurück. »Ich mag Otter.« Er schloss die Augen und zählte auf, was er noch von den Naturkunde-Büchern, mit denen er lesen und schreiben gelernt hatte, erinnerte: »Sie können sehr gut schwimmen und tauchen, sind äußerst gerissene Jäger und halten sich beim Schlafen gegenseitig an den Pfoten, um nicht auseinander getrieben zu werden.«
Er hatte den Satz kaum vollendet, da spürte er, wie Iris ihr Gewicht verlagerte und sich in seine Richtung beugte. Behutsam drückte sie ihm einen Kuss auf die unverletzte Wange. Dabei legte sie eine Hand an sein Kinn, um seinen Kopf in ihre Richtung zu dirigieren. Zander folgte dem sanften Druck ihrer Finger bis er ihre Lippen auf seinen Lippen spüren konnte. Ihr Kuss war ausgesprochen vorsichtig, als befürchtete Iris, sie könnte ihm mit jeder Berührung unaussprechliche Schmerzen zufügen. Tatsächlich war aber das genaue Gegenteil der Fall. Wenn sie ihn berührte, verschwand der dumpfe Schmerz unter seinem rechten Auge und es besserte sich sogar das Verstopfungsgefühl in seiner Nase.
Um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht zurückhalten musste, griff Zander nach ihrer Taille und zog sie näher zu sich heran. Iris umschlang seine Schulter, schmiegte sich an ihn und öffnete den Mund, um sich ihrer Verbindung hinzugeben. Diese Einladung nahm Zander nur zu gern an, umfasste zärtlich ihr Gesicht und nutzte seine Zunge, um ihren Kuss zu intensivieren. Iris erwiderte seine Bemühungen. Die Verschmelzung ihrer Münder wurde immer sehnsüchtiger. Die Welt um sie herum verlor an Bedeutung. Wenigstens für einige Minuten wollte Zander nicht mehr an Rogner Forelli und das Unglück, das ihn befallen hatte, denken - oder daran, wie er den dafür verantwortlichen Täter entlarven konnte.
Als er die freie Hand über Iris' Körper wandern ließ und sich dabei immer weiter ihren empfindlichen Regionen annäherte, löste sie sich plötzlich von ihm. »Warte«, hauchte sie und streifte seine Hand ab.
»Alles in Ordnung?«, fragte Zander.
Iris lächelte verlegen. »Ich würde wirklich gern... also... du weißt schon, die Nacht mit dir verbringen...« Sie biss sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn aus ihren vorwitzigen grauen Augen als wäre er ein hübsches, perlenbesticktes Abendkleid. »Ausgesprochen gern sogar.«
»Aber?«
»Aber es gibt da noch etwas, das ich erledigen muss«, antwortete Iris.
Zander verbarg seine Enttäuschung hinter einem wohlwollenden Lächeln. »Natürlich. Und du willst mir nicht zufällig verraten, um was es sich dabei handelt?«
Iris rückte ihr Kleid zurecht. »Tut mir leid. Diesmal nicht.« Sie schien seine Gedanken zu erraten und erstickte seine folgenden Worte, indem sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen presste. »Und keine Spielchen diesmal. Keine Fragen. Keine Antworten. Vertrau mir einfach.«
Er küsste ihre Fingerspitze. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich dir nicht vertraue?«
Iris lächelte. Ihr hübsches Gesicht mit dem weichen Kinn und der stolzen Nase glich in diesem Moment dem göttergleichen Antlitz einer echten Verga Arokean. Sie raffte ihr Kleid zusammen und schwebte zur Tür hinaus.
Einige Sekunden lang saß Zander nur da und blickte auf die Tür, durch die sie entschwunden war. Das Blut kochte noch in seinen Adern, als erwartete es, dass Iris jederzeit zurückkehren könnte. Er musste sich ablenken.
Mit einer etwas umständlichen Bewegung, die dem Schmerz in seiner Schulter geschuldet war, kam er auf die Beine und trat an seinen Schreibtisch. Darauf waren seine Recherchen der vergangenen Nacht ausgebreitet: Eine Karte von Myr Ryba und Umgebung, eine Liste aller Großmagier und ein Zeitplan der Hafenmeisterei, auf dem die Bewegungen der Seeteufel in den letzten drei Monaten vermerkt waren. Jetzt, da er wusste, dass die Aciarier vor ungefähr zwei Monaten in die Stadt gekommen waren und nach Arbeit gesucht hatten, musste er sein vorhandenes Wissen aus einem anderen Blickwinkel betrachten.
Er öffnete ein Seitenfach des Schreibtischs und nahm eine Flasche alten Weinbrand heraus, von dem sich Tuna und er manchmal ein Gläschen genehmigten. In Anbetracht der Umstände verzichtete Zander auf das Glas und trank direkt aus der Flasche. Dabei ließ er seinen Gedanken freien Lauf.
Vermutlich hatten die Aciarier bei ihrem Besuch im Modderhauven das Gerücht aufgeschnappt, dass der neue Unterhändler der Karpi-Familie nach Handlangern suchte - und mit Sicherheit hatte Sarko Baboi die Dienste der erfahrenen Attentäter ohne zu zögern angenommen. So war es den Aciariern gelungen, in eine angesehene Stellung zu gelangen, die ihnen freien Zugang zu den meisten Bereichen der Stadt und Zugriff auf allerlei geheime Informationen ermöglichte. Doch wieso hatten sie dann noch über einen Monat gewartet, um Rogner Forelli anzugreifen? Was hatte ihr Handeln ausgelöst? Was war kurz vor dem Anschlag auf Rogner geschehen?
Die Antwort auf diese Fragen war eigentlich ganz simpel: Iris war geschehen. Die Attentäter hatten auf Iris' Auftauchen gewartet. Aber warum? Wieso hatten sie sich solche Mühe gegeben, ihr den Anschlag in die Schuhe zu schieben? Und von wem hatten sie den dafür notwendigen Zauber? Ausgebildete Aciarische Attentäter hätten Rogner Forelli mit Leichtigkeit ohne den Einsatz von Magie töten können. Hatte Gwydion Dan de Potas herausgefunden, was der Grund für dieses Verhalten war? Hatte er deshalb sterben müssen?
Zander nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Der Alkohol brannte in seiner Kehle. Sein Blick wanderte zu einem ordentlich geschriebenen Vermerk auf der Karte von Ryba. Das Angebot stand dort. Diese zwei Worte sollten ihn an eine weitere Ungereimtheit erinnern - und zwar daran, dass das Angebot, das Rogner Forelli dem König der Wodlande unterbreitet hatte, ungewöhnlich zuvorkommend war. Noch immer konnte sich Zander nicht erklären, was es damit auf sich hatte. Und wieso war Morena Dorado urplötzlich nach Erdhav abgereist? Warum reagierte sie nicht auf seine Kontaktversuche? Drei Mal hatte er nun schon eine Taube zur Sommerresidenz der Forellis gesandt. Jedes Mal ohne Ergebnis.
Zander spürte, wie sich Wut in seinen Eingeweiden ansammelte und zwang sich dazu, an etwas Angenehmeres zu denken: Iris. Er wollte ihr nahe sein. Näher noch als bisher. Und er hatte das Gefühl, dass sie das auch wollte. Es hätte alles so harmonisch sein können, wäre da nicht diese dünne Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass er Iris nicht verdient hätte. Dass sie ihn ohnehin wieder verlassen würde, so wie seine Eltern und Sardina es getan hatten. Dass er sich zwischen ihr und den Forellis entscheiden müsste. Dass ein Mann wie er niemals eine Familie haben könnte. Und es stimmte. Für jemanden wie ihn, der seinen Herrschaften loyal diente und sein Leben für sie gegebenen hätte, war es schwer, eine eigene Familie zu haben. Frau und Kinder machten erpressbar. Er wollte nicht in eine Situation gebracht werden, in der er zwischen Enzia und seinem eigenen Kind wählen musste. Vor diesem Hintergrund war jede echte Liebelei ein Problem. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, seinen Lebensplan zu überdenken.
Ein ungläubiges Lächeln trat auf Zanders Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass er in all der Zeit mit Sardina kein einziges Mal ernsthaft daran gedacht hatte, die Forelli-Familie zu verlassen. Doch nur ein paar Tage mit Iris und schon war er bereit, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren. Es kam jedoch nicht in Frage, etwas zu unternehmen, bevor der Anschlag auf Rogner Forelli nicht vollständig und lückenlos aufgeklärt war.
Zander ließ die Flasche sinken und fasste nach dem Bericht der Hafenmeisterei. Seit ungefähr sechs Wochen zeigte die Seeteufel vermehrte Aktivität in der Bucht von Ryba. Sie verließ den Hafen, blieb einige Stunden auf See und kehrte dann wieder zurück. Die offizielle Bezeichnung dieser Ausflüge lautete: Experimental-Fahrten. Sechs Wochen, dachte Zander. Zwei Wochen nachdem die Aciarier nach Myr Ryba gekommen waren. Aciarische Attentäter. Der Mord an Gwydion Dan de Potas. Iris. Ein seltsames Handelsangebot. Eine verschwundene hochschwangere Ehefrau. Die Seeteufel. Ermordete Straßenkinder. Der Geist von Ryba. Cyan. Die königlichen Hofmagier. Wie konnte das alles zusammenhängen?
Zander lehnte sich an den Tisch und schloss die Augen. Ihm war ein wenig schummrig zumute, aber sein Verstand arbeitete dennoch erstaunlich klar.
Vor vier Monaten war Cyan nach Myr Paluda gereist und knapp einen Monat später unvermittelt wieder zurückgekehrt. Kurz darauf waren die Attentäter in Myr Ryba aufgetaucht und zwei Wochen später hatte die Seeteufel ihre seltsamen Experimental-Fahrten begonnen. Etwa zur gleichen Zeit waren die ersten ermordeten Kinder aufgefunden worden. Alles Zufälle? Zander glaubte nicht daran. Während er noch darüber nachgrübelte, vernahm er plötzlich ein durchdringendes Kreischen. Es kam von draußen.
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