76. Freunde aus zwei Welten
Vorsichtig lugte Iris über die Türschwelle zu Cyans Zimmer. Als sie vor Jahren nach Myr Paluda gereist war, um die Schule zu beenden und Übersetzerin zu werden, hatte sie sich vorgenommen, nie wieder Angst zu empfinden. Sie hatte es nicht bloß geplant, sondern einen Schwur ausgesprochen – der einzigen Person gegenüber, zu der sie vollkommen ehrlich sein konnte: sich selbst. Doch jetzt, fern der Heimat, empfand sie eine ganz neue Form der Furcht. Eine Angst, die aus den Tiefen ihrer Vergangenheit aufgetaucht war und darauf sann, sich für die vielen Jahre der Ignoranz und Vernachlässigung zu rächen.
»Cyan?«, fragte Iris mit dünner Stimme. Niemand antwortete. Vorsichtig trat sie über die Schwelle und lugte in Cyans Schlafgemach. Das Fenster stand halb offen und die bodenlangen Vorhänge bauschten sich im Sturm, der den Fellmonte umwehte. Die wiederkehrenden Böen verliehen dem Wind einen an- und abschwellenden Rhythmus, der etwas geradezu Musikalisches hatte. Iris lauschte dem Klang, bis ihr Geist auch diese Wahrnehmung so sehr mit Angst durchdrungen hatte, dass sie fremd und bedrohlich wirkte. Fröstelnd wandte sie sich ab und spähte zur Geheimtür hinüber, die nicht ganz geschlossen war, sodass eine Unebenheit in der Holzvertäfelung entstand. Dahinter lag der Ort, an dem ihre letzte Begegnung mit dem Rothaarigen stattgefunden hatte. In einer Vision, die sie sich noch immer nicht vollständig erklären konnte.
Iris sammelte ihren verbliebenen Mut, durchquerte den Raum und öffnete die versteckte Tür. Dahinter lag Cyans Labor. Anders als bei ihrem letzten Besuch herrschte in der Geheimkammer ein ziemliches Chaos. Die alchemistischen Geräte auf dem Kaminziegel-Tisch waren umgeworfen und teilweise zerschlagen worden. Becher, Röhrchen und Destilliergefäße lagen in Scherben. Auch vor den Regalen mit den darin aufgereihten Flaschen und Gläsern hatte der offensichtlich tobsüchtige Übeltäter keinen Halt gemacht. Der Boden vor den Schränken war mit Scherben, bunten Flüssigkeiten und allerlei Pflanzenresten übersät. Es roch brennend scharf nach Alkohol und Pfefferminz. Der Geruch erinnerte Iris an die Salben, die Ärzte auf Wunden schmierten, um sie am Eitern und Schwären zu hindern. Ihr Blick suchte ganz automatisch die magische Glaskugel und fand sie in der Nähe des Kupferofens. Sie war zerbrochen. Eine kleine Last fiel ihr vom Herzen. Wenigstens musste sie nicht damit rechnen, erneut von Visionen geplagt zu werden.
Derart erleichtert wäre sie beinahe über Seestern gestolpert, der ihr beim Betreten der Geheimkammer zuvorkommen wollte. Mit gespitzten Ohren und starren Gliedern verharrte er auf der Schwelle. Seine kurze Nase zuckte, als hätte er Witterung aufgenommen, dann rollte er die hervorquellenden Augen fragend in Iris' Richtung. Seine Anwesenheit gab ihr den emotionalen Ruck, den es brauchte, um sie über die Türschwelle zu befördern.
Beim Betreten des Labors fiel ihr auf, dass der Ofen verschoben und der dahinter verborgene Geheimgang zu sehen war. Sie überlegte, ob sie noch einmal nach Cyan rufen sollte, entschied sich dann aber dagegen und zwängte sich stattdessen in den engen Spalt, der zur Wendeltreppe führte. Seestern blieb am unteren Ende der Treppe zurück, weil er die Stufen mit seinen kurzen Beinchen nicht überwinden konnte.
Schon auf dem Weg zum Dachboden des Forelli-Anwesens wehte Iris ein frischer Wind entgegen. Der ekelerregende Gestank der verwesenden Tierkadaver war weitgehend verflogen und nur noch vereinzelte Nagetiere kreuzten ihren Weg. Es wirkte ganz so, als hätte jemand seit ihrem letzten Besuch für Ordnung gesorgt. Was die Identität dieses Jemands anging, hatte Iris bereits einen Verdacht.
Ihre Vermutung schien sich zu bestätigen, als sie Cyan erblickte, der im Dachzimmer am geöffneten Fenster stand und gedankenverloren auf die Stadt hinunterblickte. Der Boden rund um seine Füße war mit Kreideschmierereien und Pulverspuren versehen. Das dazugehörige Werkzeug befand sich in seinen Händen.
»Sie sollten nicht hier sein«, sagte Cyan als Iris das obere Ende der Treppe erreichte. Dabei sah er sie nicht an, sondern blickte weiterhin starr aus dem Fenster.
Iris verzog das Gesicht und stieg über eine tote Ratte hinweg. »Wem sagen Sie das? Dieses Versteck ist wirklich kein Ort für eine feine Dame.«
Dessen ungeachtet näherte sie sich Cyan, bis die Ketten von Furcht und Ekel enger wurden und sie keinen weiteren Schritt mehr gehen konnte. Etwa zwei Armlängen von ihm entfernt blieb sie schließlich stehen, strich ihren Rock glatt und zwang sich zu einem Lächeln, das vermutlich deutlich nervöser ausfiel als sie beabsichtigt hatte. »Waren Sie die Nacht wieder bei Jasmin?«
Cyan zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon...«
»Mögen Sie sie?«, fragte Iris weiter. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass Cyan vor nicht allzu langer Zeit behauptet hatte, er könne sich in der Rosigen Auster nicht blicken lassen. Doch was Jasmin anging, schien er es mit der Moral plötzlich nicht mehr so genau zu nehmen.
Wieder zuckte Cyan mit den Schultern. »Welche Rolle spielt das?«, meinte er abfällig. »Sie ist eine Hure.«
Bis vor einigen Wochen hatte Iris in dieser Hinsicht ganz ähnlich gedacht. Doch das war, bevor sie dem Rybaler Freudenhaus einen Besuch abgestattet und die Mädchen dort kennengelernt hatte. »Sie sollten nicht so über sie sprechen.«
»Ach ja? Und warum nicht?«, knurrte Cyan und zerbröselte das Kreidestück in seiner Hand.
Iris klappte den zum Protest geöffneten Mund wieder zu. Cyans Übellaunigkeit machte sie zornig, auch wenn sie sich den Grund dafür nicht erklären konnte. »Und was ist mit dem Nuntier?«
»Fräulein Ondine wollte es loswerden«, antwortete Cyan, betrachtete seine mit weißer Kreide beschmutzten Finger und schien kurz den Impuls zu verspüren, sie an seiner Kleidung abzuwischen, doch dann ließ er die Hand wieder sinken. »Weshalb sind Sie wirklich hier, Fräulein Dan de Lion?«
Iris hob das Kinn und schluckte ihre immer noch leise köchelnde Angst herunter, um seine Unfreundlichkeit mit energischer Bestimmtheit zu erwidern. »Die Frage lautet wohl eher, was Sie hier machen, Herr Forelli.«
Bei diesen Worten hob Cyan endlich den Kopf, um sie anzusehen. Es war wirklich erstaunlich, wie sich ein Mensch durch seine Empfindungen verändern konnte. In Cyans Fall schien sich sein Seelenleben ganz direkt in seiner Aufmachung widerzuspiegeln. An diesem Nachmittag wirkte er regelrecht verwahrlost. Als hätte er die halbe Nacht im Goldenen Hummer verbracht – oder gar in der Gosse davor, bei den Trinkern und Ratten. Er stank nach Novomagica und Alkohol, auch wenn er nicht betrunken zu sein schien, sondern lediglich vollkommen deprimiert.
Iris konnte sich einfach nicht erklären, was mit ihm los war. Noch vor einigen Tagen war sein Auftreten das eines mustergültigen Edelmannes gewesen. Er hatte entspannt und gelöst gewirkt, als wäre ihm eine große Last vom Herzen gefallen. Hatte er sie damit alle nur getäuscht? Woher kamen diese schrecklichen Stimmungsschwankungen?
»Was erlauben Sie sich eigentlich?«, zischte Cyan drohend. »Haben Sie schon vergessen, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe?«
»Nein«, antwortete Iris. »Und dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar.« Sie richtete ihren Blick auf die Schmierereien am Boden, die Symbole oder Buchstaben einer fremden Sprache darstellen konnten. »Haben Sie mit Sheitani gesprochen?«
Cyan wandte sich wieder der Stadt auf der anderen Seite des Fensters zu. »Sheitani hört mir nicht mehr zu.«
»Wieso nicht?«, fragte Iris, froh darüber, dass Cyan sich nicht gänzlich verschloss. »Ich dachte, er wäre so etwas wie Ihr Lehrmeister.«
Der junge Mann gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus verächtlichem Schnauben und ungläubigem Prusten zu sein schien. »Was er auch für mich war, er ist fort. So wie alle.«
Seine Worte erinnerten Iris wieder daran, dass Cyan derzeit nicht nur auf seinen Vater verzichten musste, sondern auch schon seine Mutter verloren hatte. Ganz zu schweigen von der schrecklichen Sache, die seiner Schwester zugestoßen war und sie in einen Krüppel verwandelt hatte. Es musste hart sein, der einzige Überlebende, der einzige Unbeschadete, zu sein. Das wusste Iris aus eigener Erfahrung. Vor neun Jahren hatte sie sich geschämt, als Einzige zu ihrer Familie zurückgekehrt zu sein. Ohne ihre Freundin, die irgendwo in den Trandafiner Wäldern den Tod gefunden hatte. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, wegzulaufen und zu den Dieben zurückzukehren, die ihr das ganze Leid zugefügt hatten. Einfach nur, damit die nagenden Schuldgefühle verstummten.
»Ich verstehe«, sagte Iris. »Und es tut mir leid«, fügte sie hinzu. »Wenn Sie reden wollen...«
Cyan seufzte. »Ich bin jetzt nicht in Stimmung.«
»Ich hatte eine Vision.« Die Worte waren aus ihr heraus, ehe sie die Konsequenzen überdenken konnte.
Damit gelang es ihr jedoch endlich, Cyans ungeteilte Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Eine Vision?«, wiederholte er und wandte sich vom Fenster ab. »Sie?«
Iris biss sich auf die Unterlippe, als könnte das die unerwünschten Erinnerungen in Zaum halten, und nickte. »Vor ein paar Tagen waren Zander und ich in Ihrem Labor. Ich habe in die Futusfera gesehen und...« Sie schluckte schwer, um die folgenden Worte herauszuwürgen. »Darin habe ich eine Vision der Zukunft gesehen.«
Cyan blinzelte verwirrt. »Das... das ist unmöglich. Nur ein Magier kann durch eine Futusfera Visionen empfangen.«
»So wie Sie?«, fragte Iris rasch, um das Thema von sich abzulenken.
»Ja, so wie ich«, entgegnete Cyan barsch. »Ich kann mit den Myrkuren in der Futusfera sprechen und manchmal teilen sie ihr Wissen mit mir. Genau wie Sheitani.« Seine Worte wurden immer leiser, bis sie nicht mehr zu verstehen waren. Er schloss die Augen und schien um seine Beherrschung zu ringen. Es war geradezu herzzerreißend, ihn so verzweifelt zu sehen. Trotz seines Alters und seiner Größe wirkte er in diesem Moment eher wie ein Kind als wie ein Erwachsener.
»Seit wann ist Sheitani bei Ihnen?«, erkundigte sich Iris mit sanfter Stimme. »Seit drei Jahren? Seit Ihrem Unfall?«
Cyan streckte eine Hand nach dem Fensterbrett aus und klammerte sich daran fest. Sein ohnehin schon gräulicher Teint wurde noch blasser. »Ja«, flüsterte er. »Es war mein erster Versuch, einen Myrkur dritten Rangs zu beschwören. Ich muss irgendeinen Fehler gemacht haben. Jedenfalls habe ich Sheitani nicht nur herbeigerufen, sondern gleichzeitig auch freigelassen.« Er fuhr mit der Hand über sein unrasiertes Kinn. »Bis heute weiß ich nicht, wie mir das passieren konnte. Eine Todsünde unter Magiern.«
»Sie haben Sheitani freigelassen? Was bedeutet das?«
»Normalerweise sind Myrkuren nur Gäste in unserer Welt«, antwortete Cyan schwach. »Aber Sheitani ist zu einem Teil dieser Welt geworden. Er...« Cyan atmete tief durch. »...er hätte ganz einfach wegfliegen können, aber er ist bei mir geblieben. Wir waren fast so etwas wie... Freunde.«
Iris vermochte nicht, sich vorzustellen, wie man eine derart widerliche Kreatur als Freund bezeichnen konnte, aber Cyan schien das Geschöpf aus der Totenwelt menschlichen Freunden vorzuziehen. Jedenfalls hatte sie ihn noch nie mit anderen jungen Männern oder Frauen zusammen gesehen.
»Ich habe ihn gefüttert und er wollte mir helfen, einen Weg zu finden, meine Schwester zu heilen«, fuhr Cyan fort. »Das hat er mir versprochen.« Ein Windzug brandete gegen das Dachfenster und zerzauste seine zotteligen Haare. »Aber dann ist alles schief gegangen.« Mit erstickter Stimme fügte er hinzu: »Ich hätte nie nach Myr Paluda reisen dürfen. Ich hätte auf ihn hören sollen. Auf ihn und auf meinen Vater.«
»Was ist denn in Myr Paluda passiert?«, wollte Iris wissen.
Cyan schüttelte den Kopf. »Fragen Sie mich das besser nicht, Fräulein Dan de Lion.« Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Jetzt ist ohnehin alles egal. Sheitani ist fort.«
»Wegen mir?«, fragte Iris. Es beruhigte sie zu wissen, dass diese grauenhafte Kreatur der Stadt den Rücken gekehrt hatte, auch wenn es sie zugleich traurig machte, dass Cyan dadurch seinen scheinbar einzigen Freund verloren hatte.
»Er hat mich vor Ihnen gewarnt«, erklärte Cyan finster. »Vor der Florfruese, der Botin Eydnas. Er hat mich immer vor allem gewarnt. Aber ich wollte nicht hören. Ich habe ihm verboten, Sie zu belästigen und dann hatten wir diesen Streit.«
Iris wurde bewusst, dass er auf die Nacht anspielen musste, in der Sheitani ihr im Garten aufgelauert und anschließend Cyans Zimmer verwüstet hatte.
»Er hat mir gezeigt, was er sieht. Was er für mich sieht. Meine Zukunft. Meine Strafe«, flüsterte Cyan, wobei er sich mit einem Arm am Fensterrahmen abstützte und den Blick wieder ins Freie hinauswandern ließ, wo der Sturm schwarze Wolken auftürmte, als gelte es, einen unüberwindbaren Wall um die Stadt zu errichten.
Da er nicht weitersprach, übernahm Iris wieder das Wort: »Was hat er Ihnen gezeigt?«
Cyan grinste beinahe hämisch. »Fragen Sie ihn doch selbst. Sieht ja ganz so aus, als hätten Sie eine Begabung dafür, mit Myrkuren zu sprechen.« Er löste sich vom Fenster und fummelte an seinen Manschettenknöpfen herum, auch wenn die Knöpfe in Anbetracht seiner ingesamt desolaten Erscheinung sein kleinstes Problem darstellten.
Anschließend wandte er sich ab und eilte davon. Iris wich vor ihm zurück und stieß dabei mit dem Hinterkopf gegen die Dachschräge. Cyan ignorierte es, sprang die Wendeltreppe hinunter und verschwand in seinem Labor.
Nachdem seine Schritte verhallt waren, atmete Iris langgezogen aus. Das Gespräch war in keinster Weise so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Andererseits hatte sie trotzdem einige wertvolle Informationen erhalten. Allerdings purzelten Cyans Worte in ihrem Kopf derart durcheinander, dass sie sich keinen Reim darauf machen konnte.
Langsam bückte sie sich nach den Kreidezeichen auf dem Boden und fuhr sie mit dem Finger nach. Nur zwei Dinge waren ihr jetzt vollkommen klar. Zum Einen mussten sie herausfinden, was Cyan in Myr Paluda erlebt oder getan hatte. Zum Anderen mussten sie unbedingt aufdecken, was für eine Zukunft Sheitani seinem Magier-Freund vorhergesagt hatte. Diese beiden Rätsel galt es zu lösen - und zwar so schnell wie möglich. Doch je mehr Iris darüber nachdachte, desto unwohler fühlte sie sich. Vielleicht wollte sie gar nicht wissen, was in Myr Paluda geschehen war oder was die Zukunft für Cyan bereithielt.
Und wieso hatte Sheitani seinen Freund vor ihr gewarnt? Was hatte sie überhaupt mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Sie war doch nur zufällig nach Myr Ryba gelangt. Iris wusste noch genau, wie Zander ihr gesagt hatte, dass die Entscheidung, sie einzustellen, aus der Not heraus getroffen worden war. Hatte er sie angelogen? Oder war er ebenfalls einer großen Täuschung aufgesessen? Zum ersten Mal seit sie voller Tatendrang nach Myr Ryba gekommen war, fragte sich Iris, wieso es sie eigentlich wirklich in diese Stadt verschlagen hatte.
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