67. Krähengesang
»Was in Eydnas Namen ist denn da vorne los?«, fragte Salmon, während sie sich der Hafenpromenade vom Sandstrand am Fuße des Fellmonte aus näherten.
Schon aus der Entfernung war zu erkennen, dass es auf der Promenade von Nachtwächtern und Gendarmen nur so wimmelte. Mit Laternen und Hellebarden bewaffnet, bahnten sich die Wächter ihren Weg von Haus zu Haus, wobei sie auch nicht davor zurückschreckten, Türen einzutreten und Frauen, die ihnen den Weg verstellten, ins Freie zu zerren. Ihre Kollegen von der Gendarmerie verhörten derweil die zahlreichen Verletzten, die mit Platzwunden und verdrehten Gliedmaßen am Straßenrand hockten. Die meisten von ihnen schienen Handwerker oder Fischer zu sein, was nur einen einzigen logischen Schluss nahelegte.
»Eine Prügelei«, vermutete Zander.
Tuna lachte auf. »Das muss ja ein Wahnsinns-Spektakel gewesen sein.«
»Scheint so«, meinte Salmon grinsend.
Sie kletterten über eine Absperrung hinter der königliche Werft, die das obere Ende des Hafenviertels markierte. In diesem Bereich war die Bucht so tief, dass sogar Schiffe mit viel Tiefgang an den Docks anlegen konnten. Daher kam es manchmal auch vor, dass vollbeladene Handelsschiffe das Areal der königlichen Reederei zum Abladen nutzten.
Zander ließ seinen Blick über die Schiffsrümpfe und Masten wandern, die aus dem Nebel ragten und ihn bei seiner aktuellen Stimmungslage an Galgen erinnerten. Leise flüsternd und ächzend schwankten die Segelschiffe auf den flachen Wellen. Natürlich waren es Wind und Meer, die diesen Eindruck erweckten, doch manchmal kam es Zander tatsächlich so vor, als wären die Schiffe eigenständige Kreaturen, die sich in einer geheimen Sprache unterhielten. Von der Seeteufel, die vor einigen Stunden ausgelaufen war, fehlte derzeit jede Spur. Vermutlich war sie noch irgendwo draußen auf dem Ozean, einige Seemeilen von der Bucht entfernt, und ging dort ihrem ominösen Treiben nach. Nur zu gern hätte Zander gewusst, was sich die anderen Schiffe über das Flaggschiff der königlichen Flotte zu erzählen wussten.
An der Promenade angekommen, machte sich Tuna sofort auf die Suche nach bekannten Gesichtern. Zander beobachtete dagegen Cyan, der sich mit der Flamme in der Hand langsam im Kreis drehte. »Und? Was sagt deine Magie?«, fragte er ungeduldig.
Die Flamme in Cyans Hand wechselte von hellgrün zu hellblau. Wie eine kaputte Kompassnadel bewegte sich der junge Mann hin und her, um die genaue Stelle des Farbwechsels zu untersuchen. »Sie ist in südliche Richtung gegangen«, antwortete er schließlich. »Zur Sudkyste.« Er warf Zander einen fragenden Blick zu. »Was könnte sie dort wollen?«
Bevor Zander über seine Frage nachdenken konnte, kehrte Tuna in Begleitung von Orka Narwal zu ihnen zurück. Der Gendarm wirkte zerknittert wie ein alter Spüllappen. Anscheinend hatten ihn die Ereignisse dieser Nacht unsanft aus dem Bett katapultiert.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich mit Prügeleien zwischen den Gilden befassen«, bemerkte Salmon.
»Tun wir auch nicht«, antwortete Narwal mit einem unterdrückten Gähnen. Obwohl er ganz offensichtlich aus dem Schlaf gerissen worden war, saßen seine graue Uniform und die dazugehörige Leinenhalsbinde tadellos. »Aber es gab noch weitere Vorfälle. Ein maskierter Mann wurde direkt vor dem Karpi-Anwesen von einem Vapobil angefahren. Außerdem haben uns mehrere Anwohner von einer Schießerei vor dem Forelli-Anwesen berichtet.«
»Ach tatsächlich?«, hauchte Salmon und presste sich seine Büchse an die schmale Brust. »Zu dumm, dass wir nicht dabei waren.«
Narwal bedachte Salmon mit einem Blick, als wollte er ihn fragen, ob er ihn wirklich für so blöd hielt. Salmon erwiderte seinen Blick mit der naiven Unschuld eines großen Schulkindes.
Zander unterbrach das stumme Geplänkel der beiden. »Sie haben nicht zufällig Fräulein Dan de Lion gesehen?«
»Ihre Übersetzerin?«, fragte Narwal. »Nein. Aber ich wünschte, ich hätte sie gesehen. Es gibt da nämlich etwas, das ich mit ihr bereden muss.«
»Und das wäre?«, fragte Tuna.
Narwal zwirbelte seinen kunstvollen Bart. »Einer der Männer hier behauptet, sie hätte einen Freund von ihm getötet.«
»Vielleicht hat dieser Mann bei der Prügelei einen festen Schlag auf den Kopf bekommen«, vermutete Zander.
»Möglich«, gab Narwal zurück.
Zander hätte ihn gern darauf hingewiesen, dass ihm sein angeborener Scharfsinn irgendwann noch Probleme bereiten würde, aber da man diese Worte auch gut – und keineswegs zu Unrecht – als Drohung auffassen konnte, verzichtete er darauf. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er stattdessen. »Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg, Herr Narwal.«
Narwal erwiderte die Floskel und kehrte zu seinen Männern zurück. Einer davon war der junge Mann, der als Spitzel für die Forelli-Familie arbeitete. Es wurde Zeit, dass sich dieser Kerl an die Arbeit machte und seinen Wert unter Beweis stellte.
»Na, das fehlte uns ja gerade noch«, spottete Salmon, als Narwal außer Hörweite war.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, knurrte Zander. »Wir müssen Iris finden.«
»Und das werden wir«, sagte Tuna beschwichtigend.
Cyan setzte sich an die Spitze der Gruppe und führte sie die Promenade hinunter. Der Schein seiner bläulich schimmernden Flamme zerteilte den Nebel und leuchtete ihnen den Weg. Am Rand des Sudkyste-Viertels, wo die Fachwerkhäuser des Hafens in kleine, verwinkelt angelegte Holzhäuschen übergingen, die alle miteinander verwachsen zu sein schienen, verfärbte er sich dunkelviolett. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, schloss Cyan.
Zanders Blick wanderte an den Häusern hinauf bis zur Spitze der Sudkyste, wo das weißliche Licht des alten Lutz' seltsam verzerrt durch den Nebel drang. Beim Anblick des Leuchtturms kam ihm ein bizarrer Gedanke. Zuerst wollte er ihn aufgrund seiner Unvorstellbarkeit verwerfen, doch dann hielt er inne und ließ ihn sich noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen: Iris. Ist. Zur. Rosigen. Auster. Gegangen.
Tuna stieß ihn an. »Was ist los? Du siehst aus, als müsstest du dringend auf die Toilette.«
»Nein«, antwortete Zander. »Aber ich glaube, ich weiß, wo Iris ist.«
Ohne auf seine Freunde zu achten, rannte er los. Aus irgendeinem Grund erfüllte ihn die Erkenntnis über Iris' Verbleib nicht mit Erleichterung, sondern mit einem unerklärlichen Entsetzen, das seinen Brustkorb wie ein Galgenstrick zusammenzog. Er wusste nicht, weshalb sein Körper auf diese Weise reagierte. Vielleicht war es eine böse Vorahnung. Oder einfach nur eine vage Vermutung, die sich im Schatten der vergangenen Ereignisse zu einer finsteren Ahnung verdichtet hatte. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er erst wieder frei atmen können würde, wenn er Iris in den Armen hielt.
»Warte, warte!«, keuchte Tuna, als sie ihn am oberen Ende des Hügels einholte. Sie packte ihn am Rückenteil der rubinroten Weste und zerrte ihn herum.
Zander stieß sie von sich und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Rosige Auster, die zwischen den Umrissen der Asch-Weiden, die den stetig ansteigenden Weg säumten, hervorlugte. »Iris ist da drin. Ich bin mir sicher. Auch ganz ohne Zauber.«
Tuna hob beide Hände, als wollte sie ihm zeigen, dass sie unbewaffnet war, was natürlich nicht stimmte. »Ich widerspreche dir ja gar nicht«, meinte sie vorwurfsvoll. »Aber da stimmt etwas nicht.«
»Was meinst du?«, fragte Zander.
Tuna deutete nun ihrerseits auf die Rosige Auster. »Keine Aufpasser.«
Zander drehte sich um und folgte ihrem ausgestreckten Arm mit den Augen. »Kannst du das aus dieser Entfernung überhaupt beurteilen?«
»Ja«, antwortete Tuna scharf. »Normalerweise ist heute ihr Triff-das-Schweinchen-Tag.«
»Ich werde trotzdem gehen«, knurrte Zander, fuhr herum und setzte seinen Weg fort. Tuna folgte ihm. Sie huschten hinter den Bäumen entlang, bis sie eine bessere Sicht auf den Eingangsbereich der Rosigen Auster hatten. Wie Tuna gesagt hatte, war von den Männern, die für gewöhnlich am Eingang des Freudenhauses Wache hielten, nichts zu sehen.
Gerade als er schon zugeben wollte, dass er unrecht und sie recht gehabt hatte, trat ein Mann aus dem Innern des Gebäudes ins Freie hinaus. Zander strich ein paar tief hängende Äste zur Seite, um ihn besser erkennen zu können. Er war dürr und schlaksig. Seine Kleidung schien ihm viel zu groß zu sein. Die ärmellose Weste schlackerte um seine hagere Gestalt wie ein loses Segeltuch. Seine Haare waren fettig und klebten ihm an Stirn und Schläfen. Während er in die Dunkelheit hinaustrat, schob er einen kurzen Parierdolch in seinen Gürtel.
»Das ist keiner von ihnen«, knurrte Tuna.
»Nein«, stimmte Zander ihr zu. Etwa gleichzeitig fassten sie nach den Säbeln an ihren Gürteln.
Iris presste sich an die Tür und drehte langsam den Schlüssel im Schloss, um kein lautes Geräusch zu verursachen. Das wäre jedoch vermutlich nicht weiter schlimm gewesen, denn die brutal aussehenden Eindringlinge verursachten im Innern der Rosigen Auster einen solchen Lärm, dass sie es vermutlich nicht einmal wahrgenommen hätten, wenn Iris mit Porzellanvasen um sich geworfen hätte.
Kaum hatte sie den Schlüssel umgedreht, packte jemand den Türgriff von der anderen Seite und rüttelte fest daran. Vor Schreck hatte Iris das Gefühl, ohnmächtig werden zu müssen.
»Verschlossen!«
»Der Zettelprüfer ist heute nicht da«, erklärte Jasmin.
»Hinsetzen!«, befahl ihr einer der Männer.
»Wo sind die anderen Mädchen?«
»Oben!«
Schritte polterten die Treppe hinauf.
Gleichzeitig ertönte die helle Stimme von Fräulein Ondine. »Was hat das zu bedeuten?«, verlangte sie zu wissen. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mehr herkommen, Fader!«
»Verzeih mir, meine Teuerste«, erwiderte der Angesprochene, bei dem es sich um den alten Mann mit dem fast kahl rasierten Schädel und den auffälligen Tätowierungen handeln musste. »Ich bin auch nicht wegen der Mädchen hier«, fügte er hinzu. »Wenngleich das ein durchaus willkommener Nebeneffekt ist.«
»Weswegen bist du dann hier?«
»Diese Clownsfische von der Gendarmerie haben gestern einen Großteil meiner geschätzten Mitarbeiter festgenommen«, antwortete Fader. »Und jetzt durchsuchen sie das ganze Hafenviertel wegen so einer dummen Schlägerei. Hierherzukommen war meine einzige Wahl.«
»Ich will, dass du dich augenblicklich wieder davonscherst!«, fauchte Fräulein Ondine.
Ein lauter Knall ließ Iris zusammenzucken und beschwor Erinnerungen vor ihrem inneren Auge herauf, die sie lieber für immer verborgen hätte.
Schritte polterten die Treppe hinunter. Leises Gewimmer war zu vernehmen. Dann verebbten die Geräusche und es wurde beinahe unheimlich still.
»Die Mädchen sollen sich dort drüben hinsetzen«, befahl Fader. »Ihre Kunden dürft ihr abstechen.«
Iris löste sich mit pochendem Herzen von der Tür und blickte sich in dem vollgestopften Zimmer um. Scharfes Tabakaroma zog ihr in die Nase, verstärkt durch die Panik, die in ihren Adern pulsierte. Der Schreibtisch war unter den Bergen an Schriftstücken und Ordnern, die sich darauf stapelten, kaum noch zu erkennen. Die Aktenschränke an den Wänden wirkten, als wären marodierende Horden vorbeigezogen. Trotzdem umrundete Iris den Schreibtisch, kletterte über einen Wall aus Büchern und Mappen und spähte in die offen stehenden Schubladen. Darin befand sich jedoch nichts außer einigen Federhaltern, Tintenfässern, Siegelwachs-Stangen, Stempeln und diversem Krimskrams, dessen Funktion sie sich nicht erschließen konnte.
Nervös wanderte ihr Blick zu einem Käfig, in dem ein ausgestopfter Krähenvogel hockte, der sie aus glasigen Augen anstarrte. Dann entdeckte sie auf dem Regal darüber ein Gestell mit einem wertvoll wirkenden Brieföffner in Form eines silbernen Messers mit einem kleinen Geweih am anderen Ende. Iris stieg auf die Zehenspitzen und streckte sich nach dem Objekt ihrer Begierde. Als ihre Finger den Brieföffner schon fast berührten, kam plötzlich Leben in den Vogel. Er krächzte laut und stieß dabei eine blassgrüne, nach Schwefel stinkende Novomagica-Wolke aus.
»Was ist das?«, drang Faders Stimme an ihre Ohren.
Iris schnappte sich den Brieföffner und duckte sich hinter den Schreibtisch. Die Tür erzitterte und musste sich kurz darauf dem Ansturm ihrer Angreifer geschlagen geben.
Faders Männer stürzten ins Innere der kleinen Kammer. Mit zitternden Fingern versteckte Iris den Brieföffner im Gurt an ihrem Oberschenkel. Im nächsten Moment wurde sie auch schon entdeckt. »Na, wen haben wir denn hier?«, fragte einer der Männer.
Iris wollte etwas Schlagfertiges erwidern, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Die maskierten Handlanger, die für Sarko Baboi arbeiteten, machten ihr nicht halb so viel Angst wie diese Barbaren.
Die Männer amüsierten sich über den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, packten sie an den Armen und zerrten sie ins Atrium hinaus.
»Wer ist das denn?«, fragte Fader.
Aus der Nähe betrachtet, schien er noch älter zu sein als Iris anfangs vermutet hatte. Da er lediglich eine dunkle Lederweste und eine gestreifte Hose trug, konnte sie sich ein gutes Bild von seiner körperlichen Verfassung machen. Die bunten Tätowierungen hatten auf seiner runzeligen, ausgezehrt wirkenden Haut bereits jede Form verloren. Früher war er vermutlich ein muskulöser Kerl gewesen, heute wirkte er jedoch sehnig und zäh, wie ein Stück gebratenes Fleisch, das die meisten Menschen beim Mittagessen verschmäht hätten. Seinen fast kahlen Schädel zierten mehrere lange Narben, sowie einige bläulich hervortretende Adern. Ähnlich gefärbte, wenn auch feinere Linien schmückten sein grobes Gesicht, dem Iris nicht viel Gutes abgewinnen konnte.
»Eine weitere Florfruese«, erkannte Fader, streckte die knochige Hand aus und fuhr Iris damit durch die Locken.
Iris drehte den Kopf weg, womit sie jedoch nur erreichte, dass er seine Finger in ihre Haare grub, so fest, dass es einen scharfen Schmerz durch ihre Kopfhaut sandte. Sofort traten ihr wieder die Tränen in die Augen, aber sie biss die Zähne zusammen, schluckte die Übelkeit herunter und ertrug die Demütigung mit so viel Selbstbeherrschung wie sie aufbringen konnte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Fräulein Ondine und ihre Frauen, die sich rund um den Erdbeer-Brunnen auf dem Boden zusammengekauert hatten. Unter ihnen waren auch einige halbnackte Männer, die mindestens genauso erschrocken wirkten.
»Das waren alle«, meldete ein Mann mit einem langen Entermesser vom Treppenabsatz. Blut tropfte von seiner Klinge. Offenbar hatte er Faders Anweisung befolgt und alle Kunden der Rosigen Auster abgestochen.
»Sehr schön«, lobte Fader und ließ Iris ruckartig los, was sie rückwärts gegen eine der Liegen stolpern ließ. »Dann werden wir uns jetzt für eine Weile hier verstecken.« Er wandte sich an seine Männer: »Macht es euch ruhig bequem.« Sein Blick wanderte erst zu Iris, dann zu Jasmin. »Und ihr zwei Florfruesen könnt mir jetzt gleich die Füße massieren.«
Die Lüsternheit in seinen Worten und Augen erinnerte Iris an den rothaarigen Wilden und erstickte ihren Kampfeswillen so leicht wie ein Orkan eine Kerze zum Erlöschen brachte.
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