66. Nachtschattengewächse
»Hoy, Cyprinus, hatt's de gebeuren?«, fragte ein Mann aus dem Innern des Hauses, vor dem Iris und Cyprinus sich versteckten. Vielstimmiges Gemurmel deutete darauf hin, dass er nicht alleine war.
»Nente«, antwortete Cyprinus über seine Schulter. »All de besopene Hambachtsmanner.«
Iris wäre es lieber gewesen, wenn er geschwiegen hätte. Obwohl Cyprinus über einen beeindruckenden Bizeps verfügte, wäre sie einer Prügelei zwischen Fischern und Handwerkern gern aus dem Weg gegangen. Die Männer im Innern des Hauses schienen das naturgemäß anders zu sehen. Kaum dass Cyprinus geendet hatte, streckte einer von ihnen, ein kleiner Mann mit schiefen Zähnen und einem zerlausten Bart, den Kopf durch den Türspalt. Seine gelblich verfärbten Augen musterten zunächst Iris und wandten sich dann der Promenade zu, wo Jeseter und seine Kumpanen als wabernde Schemen durch den dichten Nebel geisterten und immer wieder nach der Florfruese riefen, als wäre sie ein ungehorsamer Hund, der ihnen davongelaufen war.
»Wie viele sind es?«, fragte Cyprinus und kraulte seinen schwarzen Bart.
»Fünf«, antwortete Iris.
»Hoy«, zischte Cyprinus an den Mann mit den schiefen Zähnen gewandt. »Vonf Hambachtsmanner.«
Der Kleine grinste und zog den Kopf wieder zurück. Die schnelle Bewegung erinnerte Iris an eine Schnecke, die mit ihren Fühlern gegen einen Widerstand gestoßen war. Vor vielen Jahren hatten ihre Brüder ihr mal eine große Nacktschnecke ins Bett gelegt und waren dann ganz überrascht gewesen, als Iris nicht kreischend das Weite gesucht, sondern das Tier kurzerhand zum Familienmitglied erklärt hatte. Ihr Vater hatte das Spiel mitgespielt und die Schnecke prompt in seinem Testament verewigt. Noch heute stand im Letzten Willen ihres Vaters, dass eine kleine Summe an eine Schnecke namens Petunia ausbezahlt werden sollte.
»Wir knöpfen uns diese Saufische vor«, erklärte Cyprinus. »Die werden Ihnen keine Probleme mehr machen, Fräulein Florfruese.«
Iris rang sich zu einem dankbaren Lächeln durch.
Der kräftige Fischer schien zu glauben, dass ihn sein hilfsbereites Angebot in den Stand eines Edelmann erheben würde; jedenfalls trat ein zufriedener und reichlich selbstgerechter Ausdruck auf sein Gesicht. »Hoy!«, rief er erneut, diesmal an Jeseter und die anderen Blauröcke gewandt. »Hambachtsmanner!«
Die Schemen schwankten auf der Stelle. »Fiskimanner!«, erkannte einer von ihnen.
Als wären diese Ausrufe ein verabredetes Signal, ging danach alles ganz schnell.
Iris wurde an die Wand gepresst, als die Tür hinter ihr weit aufschwang und ein ganzes Bataillon hochmotivierter Fischer ausspuckte, die sich laut grölend auf ihre überrumpelten Opfer stürzten. Auch Cyprinus schloss sich der Gruppe an. Der Nebel verbarg einen Großteil des Geschehens vor Iris' Augen, schluckte jedoch nicht die Geräusche. Schon nach wenigen Sekunden war die Hafenpromenade von einem Crescendo aus Schmerzensschreien, Stöhn- und Jammerlauten erfüllt, das noch bis nach Hohedamm zu hören sein musste.
Der Lärm blieb auch nicht lange unbemerkt. Die Kneipen entlang der Promenade öffneten ihre Türen und entließen weitere Handwerker und Fischer ins Freie, als gäbe es ein lang erwartetes Schlagball-Spiel zu beobachten. Vermutlich waren diese Prügeleien so etwas wie die Rybaler Variante der beliebten Ballsportart.
Iris drückte sich an die Hauswand, während die Auseinandersetzung immer wilder zu werden schien. Es herrschte eine Atmosphäre wie auf einem Schachtfeld. Die schnellen Bewegungen der Kämpfer wirbelten den Dunst auf, sodass Iris immer wieder kurze Blicke auf das Geschehen erhaschen konnte. Trotzdem war es schwer zu sagen, welche der zwei Parteien derzeit die Oberhand hatte. Hier und dort schleppten sich Verletzte mit Platzwunden, Verrenkungen und Knochenbrüchen aus dem Nebel, um in einer Seitengasse Schutz zu suchen. Sie schenkten Iris zum Glück keine Beachtung.
Aufbrandender Applaus, Gelächter, Buhrufe und Pfiffe machten sie auf die Zuschauer aufmerksam, die sich an den Fenstern in den oberen Etagen der umliegenden Häuser eingefunden hatten. Sogar Frauen und Kinder warteten dort gespannt den Ausgang der Schlägerei ab und feuerten ihre jeweiligen Verwandten oder Favoriten an.
Letztendlich kam es jedoch, wie es kommen musste: Die Nachtwächter bekamen Wind vom Geschehen. Iris erfuhr davon, als einige Beobachter am unteren Ende der Promenade Alarm schlugen und sich das Chaos binnen weniger Augenblicke vervielfachte. Die eben noch so hochmotivierten Krieger flohen in alle Richtungen. Iris wollte sich ins Innere des Hauses flüchten, da wurde ihr die Tür vor der Nase zugezogen. Gehetzt blickte sie sich nach Cyprinus um, doch von dem muskulösen Fischer fehlte jede Spur.
In Ermangelung einer guten Alternative schloss sie sich den Fliehenden an und rannte in südliche Richtung bis sie den Rand des Sudkyste-Viertels erreichte. Die Gegend kam ihr von vorherigen Ausflügen sehr bekannt vor. Sie folgte den schmalen Wegen, die sie unter hölzernen Vordächern und gespannten Wäscheleinen hindurchführten. Das orangerote Licht zahlreicher Lampions spiegelte sich auf den Kanälen. Die kleinen, verwinkelten Häuser, die sich über die Wasserwege wölbten und ihre Stelzen wie Wurzeln ins kalte Nass streckten, verliehen dem Viertel das gewohnte, märchenhafte Erscheinungsbild.
Die verträumte Stimmung verflog jedoch schnell, als sie die Magier-Gilde erreichte. Dort hatten sich einige Protestler zu einer Art Mahnwache versammelt. Ein solches Verhalten bekam man in Myr Paluda selten zu Gesicht, denn der König duldete keinen Unfrieden in seiner Stadt. Beim Näherkommen konnte Iris die Plakate lesen, welche die Demonstranten bei sich trugen. Darauf stand eine einzige Forderung: Bespare nos Kindaren. Beschützt unsere Kinder. Es dauerte einen Moment, bis Iris begriff, was diesen Menschen auf der Seele zu brennen schien.
Auf der Sprachvermittlerinnen-Schule hatten sie mal den Text eines berühmten Wodlander Gelehrten diskutiert, der sich nicht prinzipiell gegen die neue Magie ausgesprochen, sondern stattdessen die Frage nach der moralischen Verpflichtung von Magiern aufgeworfen hatte. Während die alte Magie nur sehr begrenzte Möglichkeiten bot, konnte die neue Magie zumindest scheinbar alles bewerkstelligen. Also musste es mit ihrer Hilfe auch möglich sein, die Kinder der Stadt zu beschützen und weitere Morde zu verhindern. Jeder halbwegs vernünftige Mensch musste das einsehen. Doch anscheinend weigerte sich die Magier-Gilde von Ryba, ihre enormen Fähigkeiten zum Wohl der Bevölkerung einzusetzen – jedenfalls ohne entsprechendes Entgelt.
Ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung mischte sich unter das müde Pochen ihrer Muskeln und das erschöpfte Hämmern in ihrer Brust. Iris wurde klar, dass sie endlich einen Unterschlupf finden musste. Den anstrengenden Weg hinauf zum Forelli-Anwesen würde sie in dieser Nacht jedenfalls nicht mehr bewältigen können.
Sie drehte sich im Kreis und entdeckte das aufstrebende Dach des Sudtempels, das sich in einiger Entfernung in den Himmel schraubte. Wie eine breite Baumkrone spannte es sich über die umliegenden Dächer und Straßen. Bei diesem Anblick kam Iris ein seltsamer und zugleich zutiefst fragwürdiger Gedanke. Sie erinnerte sich daran, dass Zander einst über die Rosige Auster gesagt hatte, sie sei für eine Frau der sicherste Ort in ganz Myr Ryba. Werde ich so langsam verrückt?, dachte sie und horchte in sich hinein, als könnte sie den Wahnsinn auf diese Weise enttarnen. Doch natürlich hörte sie nichts außer ihrem eigenen Herzschlag.
Zögernd setzte sie sich in Bewegung und stieg den Hügel hinauf. Schon aus der Ferne konnte sie das zweistöckige Gebäude und die verspielten Wandmalereien ausmachen, die der Rosigen Auster ihren besonderen Charme – wenn man es denn so nennen wollte – verliehen.
Vor dem Eingang warteten einige Aufpasser und vertrieben sich die Zeit mit einer Partie Triff-das-Schweinchen. Dabei wurden üblicherweise kleine Metall- oder Holzkugeln geworfen, im Bestreben, sie möglichst nah zu einem gewünschten Ziel zu platzierten. Bei Hofe erfreute sich dieses Spiel großer Beliebtheit. Die Männer vor der Rosigen Auster verwendeten dazu jedoch keine Kugeln, sondern Steine. Als sie Iris bemerkten, hielten sie inne und lüpften ihre flachen Mützen.
»Verzeihung«, sagte Iris höflich, konnte aber nicht verhindern, dass man ihrer Stimme die zunehmende Erschöpfung anmerkte. »Aber ich muss dringend mit Fräulein Ondine sprechen. Ließe sich das bewerkstelligen?«
Die Männer tauschten Blicke, zuckten mit den Schultern, nickten und wählten dann unter Verwendung einiger unverständlicher Grunzlaute einen von ihnen aus, der Fräulein Ondine im Innern des Freudenhauses verständigen sollte. Schon nach wenigen Sekunden kehrte der Auserwählte in Begleitung einer blonden Frau zurück, die Iris bekannt vorkam.
»Du meine Güte«, hauchte der Blondschopf und wandte sich an die Männer: »Ihr ungehobelten Kerle lasst eine feine Dame einfach in der Kälte stehen, anstatt sie hereinzubitten.« Sie vollführte eine auffordernde Handbewegung. »Kommen Sie, Fräulein. Drinnen ist es viel wärmer und gemütlicher.«
Iris hätte gern zuerst ihr Anliegen vorgebracht, aber die Verlockungen von Wärme und Gemütlichkeit waren einfach zu groß. Ihr Körper ächzte, als sie sich die wenigen Stufen zum Eingang hinaufquälte.
»Kommen Sie«, sagte der Blondschopf, an dessen Namen Iris sich nicht erinnern konnte, und half ihr über die Schwelle. »Sie sehen ja furchtbar aus. Ist Ihnen etwas zugestoßen?«
Als Antwort auf diese Frage hätte Iris gern gelacht. Stattdessen schossen ihr die Tränen in die Augen. Ihre Schultern bebten, während sie die Zähne festzusammenbiss, um irgendwie die Fassung zu bewahren. Gleichzeitig wurde ihr immer mehr bewusst, dass es keinen echten Grund gab, im Beisein eines Freudenmädchens an ihrer adeligen Selbstbeherrschung festzuhalten.
Unter sanftem Zureden geleitete sie der Blondschopf durch den Perlenvorhang in das von Galerien und Hängepflanzen gesäumte Atrium der Rosigen Auster. Dort richtete sie eine der üppigen Liegen her, damit Iris sich setzen konnte. Ein anderes Mädchen reichte ihr einen Becher mit süßem, alkoholischem Nektar aus dem Erdbeer-Brunnen. Dann verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war und ließ Iris mit der Blonden alleine.
»Ich bin übrigens Jasmin«, sagte die junge Frau und kämmte sich mit einer beiläufigen Bewegung die honiggoldenen Haare über die Schulter. Beim Klang dieses Namens erinnerte sich Iris wieder. Sie war Jasmin bei ihrem letzten Besuch in der Rosigen Auster schon einmal begegnet. Seitdem hatte sich die junge Frau nicht verändert. Sie war noch immer eine absolut traumhafte Schönheit. Sogar noch schöner als Sardina oder die Mätresse des Königs. Ihre Augen waren groß und von einer kräftigen, erdbraunen Farbe, ihre Brauen besaßen einen sanften Schwung, ihre vollen Lippen bildeten eine perfekte Herzform und ihr Körper war an weiblicher Sinnlichkeit kaum zu übertreffen. Sie sah aus wie eine in Fleisch gemeißelte Verga Arokean, auch wenn sie mit Sicherheit keine Jungfrau mehr war. Aber der ein oder andere Mann ließ sich in dieser Hinsicht bestimmt gern betrügen. »Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte Jasmin und berührte ungefragt Iris' Hals.
Da Iris es nicht gewohnt war, von fremden Menschen ohne vorherige Aufforderung berührt zu werden, zuckte sie zusammen. »Ein... ein Mann.«
»Natürlich«, erwiderte Jasmin mit spöttisch gespitzten Lippen. »Das habe ich mir schon gedacht. Aber...« Ihre Lider senkten sich. »Aber war es Ihr Mann?«
»Nein, nein«, wehrte Iris ab. »Ich bin nicht verheiratet.«
Jasmin lächelte unverbindlich. »In Ordnung. Ich werde jetzt etwas holen, um Ihren Hals zu verbinden. Trinken Sie und ruhen Sie sich aus.«
»Was ist mit Fräulein Ondine?«, fragte Iris.
»Sie hat noch einen Gast«, antwortete Jasmin. »Aber sobald sie Zeit hat, werde ich sie über Ihre Anwesenheit informieren.«
Iris stellte keine weiteren Fragen mehr, sondern nahm einen Schluck aus ihrem Becher und hievte anschließend ihren Rock und die steifen Streben der darunterliegenden Krinoline auf die gepolsterte Liege. Eine der Querstreben bohrte sich in ihr Gesäß, aber sie ignorierte es, legte den Kopf zurück und genoss das Gefühl von Entspannung, das sich nach und nach ihres Körpers bemächtigte. Endlich hatte sie den Eindruck, in Sicherheit zu sein. Die Strapazen der Nacht lagen hinter ihr und alles, was sie noch tun musste, war auf den Sonnenaufgang zu warten. Und dann würde sie Zander wiedersehen. Daran musste sie glauben, weil jeder andere Gedanke zu schmerzhaft gewesen wäre.
»Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen verraten«, sagte Jasmin, als sie kurz darauf mit etwas Verbandszeug zu ihr zurückkehrte.
»Iris«, antwortete Iris bereitwillig und nahm noch einen Schluck aus ihrem vergoldeten Becher. Wie süßer Wein kribbelte das Getränk auf ihrer Zunge und erfüllte sie mit einem warmen Gefühl in der Magengegend. »Iris Dan de Lion.«
»Von den Dan de Lions aus Trandafir?«, hakte Jasmin nach.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Iris verblüfft.
Jasmin tupfte etwas Salbe auf die blutigen Striemen an ihrem Hals. »Ich stamme aus Trandafir. Und jeder dort kennt die Dan de Lions. Eine sehr angesehene Familie.«
»Ja, das stimmt wohl«, meinte Iris stolz.
»Meine Eltern haben ihr Leben lang für Herrn Dan de Lion auf den Maulbeerbaum-Plantagen gearbeitet«, fuhr Jasmin fort.
Die Salbe brannte auf Iris' gereizter Haut. »Ach ja?«, ächzte sie. »Was hat Sie denn von dort hierher verschlagen?«
»Ich habe noch drei ältere Schwestern«, antwortete Jasmin. »Und eine weitere Mitgift konnten sich meine Eltern nicht leisten. Also haben sie mich nach Myr Ryba geschickt und verlangt, dass ich mir dort eine Anstellung als Hausmädchen suche.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist.«
»Und das hier ist etwas für Sie?«, brach es aus Iris heraus, ehe ihr klar wurde, wie unhöflich sie sich verhielt. Dabei fiel ihr Blick auf das Wandgemälde an der Rückwand des Raums und auf den Nöck mit dem riesigen Geschlechtsteil. Sofort wandte sie die Augen ab – nicht bloß aus Scham, sondern auch, weil sie nicht an ihren Albtraum erinnert werden wollte.
Jasmins Mundwinkel zuckten. »Was ist daran so unvorstellbar?«
Iris setzte sich wieder halb auf. Ihr war ein wenig schwindelig vom Alkohol. Gleichzeitig half ihr das Getränk dabei, die ehrlichen Worte auszusprechen, die bereits seit einer Weile in ihrem Innern gärten. »Ist es nicht irgendwie... unehrenhaft hier zu arbeiten? Und... und ekelerregend? Ich meine, Männern beizuliegen, die man gar nicht kennt oder anziehend findet oder-«
Jasmins helles Lachen ließ sie verdutzt innehalten. »Als ob es so viel weniger ekelhaft wäre, Herrschaften beim Baden und Ankleiden zu helfen, Bettpfannen auszuleeren oder Stoffwindeln abzukochen«, kicherte Jasmin. »Und zum Dank dafür mit Almosen abgespeist und herumgeschubst zu werden. Von den gierigen Blicken der männlichen Herrschaften und der restlichen Dienerschaft ganz abgesehen. Im Nu findet man sich mit dem Bastard eines reichen Mannes unter dem Herzen wieder und muss die Stadt verlassen, damit die Frau des Hauses nicht eifersüchtig wird.« Obwohl sie noch immer lächelte, knallten ihre Worte wie Peitschenhiebe.
Iris wurde bewusst, dass sie das Thema noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet hatte. Sie fragte sich, ob Poppy vielleicht genauso empfand. In all den Jahren hatte sie noch kein einziges Mal daran gedacht, ob ihre geliebte Zofe mit dem Leben, das sie auf dem Familienanwesen der Dan de Lions führte, zufrieden war.
»Nein, nein«, machte Jasmin kopfschüttelnd, während sie mit geschickten Fingern eine Mullbinde abwickelte. »Hier bin ich eine freie Frau und verdiene mein eigenes Geld. Sogar so viel, dass ich mir ein kleines Haus und eine eigene Zofe leisten kann.« Sie brachte den Verband an Iris' Hals an und steckte ihn mit einer Haarklemme fest. »Und was die Männer angeht... die behandeln mich hier wie eine Königin.« Jasmin legte den Kopf schief, um ihr Werk zu begutachten. Dabei fielen ihr ein paar Stirnfransen ins Gesicht. »Und sollte mal jemand brutal werden oder sich nicht an die Absprachen halten, lasse ich ihn rauswerfen. Das ist der Vorteil dieses Hauses.« Sie streckte erneut die Hand nach Iris' Hals aus, schien es sich aber im letzten Moment anders zu überlegen und streichelte ihr geradezu zärtlich über die Wange. »Klingt das unehrenhaft für Sie?«
Iris zuckte vor der Berührung zurück. »N-nein«, stammelte sie. »Tut es nicht.« Sie empfand keinerlei Unbehagen dabei, wenn Frauen untereinander Zärtlichkeiten austauschten – auf der Sprachvermittlerinnen-Schule in Myr Paluda war dieses Verhalten recht häufig vorgekommen, auch wenn es offiziell nicht geduldet wurde – aber sie selbst bevorzugte dann doch eine starke männliche Umarmung. Bestenfalls von Zander.
»Du bist verliebt, nicht wahr?«, erkannte Jasmin fachmännisch.
Iris konnte spüren, wie sie errötete. »Mag sein.«
Jasmin hockte sich zu ihr auf die Liege und drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Vor mir kannst du so etwas nicht verbergen.«
»Na gut. Ja, ich bin verliebt«, seufzte Iris und nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher.
»Und es ist kompliziert.«
Iris nickte. »So kann man das wohl sagen.«
»Vergiss es«, meinte Jasmin. Als sie Iris' verwirrten Blick bemerken musste, ergänzte sie: »Das Leben ist viel zu kurz und flüchtig, um seine Gefühle zu verleugnen.«
»Stimmt wohl«, hauchte Iris, wobei sie an die zwei Leben dachte, die sie in dieser Nacht genommen hatte. Auch wenn die beiden Männer auf sie losgegangen waren und ihr keine andere Wahl gelassen hatten, empfand sie ein starkes Schuldgefühl beim Gedanken daran, dass es sich bei ihnen um liebende Familienväter gehandelt haben könnte.
»Auch ist das Leben viel zu kurz für trübsinnige Gedanken«, sagte Jasmin. »Warum tauschen wir nicht ein paar Neuigkeiten aus Trandafir aus, um die Wartezeit zu überbrücken?«
Iris wollte ihr schon zustimmen, da drangen seltsame Geräusche aus dem Vorraum der Rosigen Auster. Leise Schreie und erstickte Gurgel-Geräusche ließen nichts Gutes vermuten.
Alarmiert setzte Jasmin sich auf.
»Was ist da los?«, fragte Iris.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jasmin, schwang sich von der Liege und fasste Iris' Hände. »Komm mit. Es ist besser, wenn du dich versteckst.« Sie zerrte Iris auf die Beine und führte sie zu der kleinen Kammer, die dem Zettelprüfer vorbehalten war, aber derzeit leer stand. »Hier rein, schnell!«, befahl sie, während die Geräusche rasch näher kamen.
Schon im nächsten Moment stürzte ein blutüberströmter Aufpasser durch den Vorhang und riss dabei einige Schnüre ab. Klirrend ergossen sich die Perlen auf den dunklen Dielenboden. Dem sterbenden Mann folgten mehrere wild aussehende Gestalten, die mit Messern, Säbeln und Pistolen bewaffnet waren. In ihrem Erscheinungsbild glichen die Männer den Piraten aus ihren Büchern – nicht den heldenhaften Freibeutern aus den Rybaler Märchen, sondern blutrünstigen Seeräubern, die vor nichts zurückschreckten. Ihr Anführer war ein älterer Mann mit kurz geschorenem Haar und zahlreichen Tätowierungen, die sogar einen Teil seines Gesichts bedeckten.
»Fader...«, konnte sie Jasmin flüstern hören. Bevor Iris jedoch dazu kam, eine Frage zu stellen oder den Mann genauer zu mustern, wurde sie in die muffige Kammer geschubst. Dann knallte die Tür hinter ihr zu.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro