60. Von Flockenfaltern und Flogmusen
Eins nach dem anderen, dachte Zander und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Im Grunde wäre es nur fair gewesen, wenn Iris das für ihn erledigt hätte, aber sie sah nicht so aus, als wäre sie daran interessiert, ihn für seine Unverschämtheit bezahlen zu lassen.
»Wie sind die Karpis so?«, fragte sie stattdessen.
Zander sah sie nicht an, um zu verstecken, dass allein der Klang ihrer Stimme ausreichte, um ihn an den erregenden Anblick ihrer blassen Schenkel zu erinnern. Obwohl sie bislang kein Wort darüber verloren hatten, konnte Zander die Spannung spüren, die zwischen ihnen in der Luft lag. Eine Spannung, die sich unweigerlich irgendwann entladen würde, wenn sie es zuließen – und er wusste aus Erfahrung, dass er nicht dazu geschaffen war, weiblichen Verlockungen zu widerstehen. Vor allem dann nicht, wenn es keinen wirklichen Grund gab, sich zurückzuhalten. Eine romantische Verwicklung mit Iris mochte ihnen die Zusammenarbeit erschweren, aber sie würde vermutlich keine ernsten Konsequenzen haben. Jedenfalls nicht für ihn.
Dieser Gedanke ernüchterte ihn schnell wieder. Auf keinen Fall wollte er Iris' gesellschaftlichen Stand beschmutzen oder ihr anderweitige Probleme bescheren. Er räusperte sich. »Nun, die Familie Karpi ist leicht erklärt. Sie besteht aus Levrek Karpi, dem Familienoberhaupt, seiner Frau Vinya und ihrem Adoptivsohn Haddock.«
»Vinya ist ein ungewöhnlicher Name für diese Gegend«, bemerkte Iris, während sie einem Zeitungsstand auswich. »Genau wie Cyan und Enzia.«
»Sehr richtig«, lobte Zander. »Vinya stammt aus der Wynlago-Gegend, genau wie Aureola Corentin, Herrn Forellis erste Frau. Anders als Frau Forelli ist sie jedoch kinderlos geblieben. Aus diesem Grund haben sich die beiden schon vor zwanzig Jahren dazu entschieden, einen Jungen aus der weiteren Verwandtschaft zu adoptieren.«
»Und was hältst du von diesem Haddock?«
Zander schnaubte. »Der typische verwöhnte Sohn. Er ist oft auf Reisen und vertreibt sich ansonsten die Zeit mit Skipbauten und Fischzucht.«
Iris zog die Stirn kraus. »Was sind Skipbauten?«
»Schiffsrennen für die gesellschaftliche Elite. Herr Forelli hat sich gern daran beteiligt. Haddock tritt dagegen eher als Sponsor in Erscheinung – und angeblich wettet er auch auf die Ausgänge der Rennen.«
Sie bogen um eine Hausecke und gelangten an den Haupteingang der Karpi-Villa. Ein Bewaffneter bewachte das hohe, mit eisernen Zierbeschlägen geschmückte Holzportal. Anscheinend hatten die Karpis ihre Sicherheitsmaßnahmen seit seinem letzten Besuch erhöht. Der Wächter schien sie jedoch bereits erwartet zu haben und öffnete ihnen die Tür. Zander ließ Iris den Vortritt, dann folgte er ihr in die Kühle der marmornen Eingangshalle.
Mit einem stummen Laut des Staunens auf den Lippen besah Iris die Säulen und den eindrucksvollen Zugang zur Haupttreppe. »Neromonte-Bruchsteinmarmor«, erkannte sie fachmännisch. Die Leere verlieh ihrer Stimme einen blechernen Nachhall.
»Nur das Feinste vom Feinsten für die Familie Karpi«, sagte Zander, wobei er zum wiederholten Mal die Deckenmalerei und die Holzschnitzereien über dem Durchgang bewunderte.
»Fräulein Dan de Lion, Herr Arryba...« Mit diesen Worten kam der ältliche Hausdiener der Karpis die Treppe hinuntergehumpelt. Sein gesundheitlicher Zustand musste sich seit ihrer letzten Begegnung noch verschlechtert haben. »Welche Freude, dass Sie uns heute Abend Gesellschaft leisten.«
Zander erkannte die nur schlecht verborgene Lüge sofort und erwiderte sie mit einem mindestens ebenso falschen Lächeln.
Iris dagegen erstrahlte und entfaltete ihren nicht unbeträchtlichen Charme wie eine Oleanderblüte in der Abenddämmerung. »Die Freude ist ganz unsererseits«, erklärte sie euphorisch.
Ihr Anblick musste sogar das Herz des grimmigen alten Mannes erweichen. »Fräulein Dan de Lion, von den Dan de Lions aus Trandafir. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Von mir?«, fragte Iris und fasste sich mit einer affektierten, aber nicht unehrlich wirkenden Geste ans Schlüsselbein. »Wirklich?«
»Ja, ja«, machte der Diener, hielt sich am Treppengeländer fest und verharrte schweratmend auf der Stelle. Sein schlohweißes Haar schien im Licht der Kristalllüster förmlich von innen zu leuchten. »Die Dan de Lions haben einen untadeligen Ruf«, ergänzte er und kniff die fast blinden Augen zusammen, um sich ein genaueres Bild von Iris machen zu können. »Die beste Seide in ganz Materra, so hört man.«
Ja, das gefällt dir, dachte Zander. Eine Frau mit untadeligem Ruf, deren bloße Anwesenheit im Haus der Familie Karpi ein gutes Licht auf alle Beteiligten wirft, die Dienerschaft eingeschlossen. Kein ehemaliges Straßenmädchen, sondern eine angesehene Persönlichkeit, deren Wert am Familiennamen abzulesen ist. Viele Lakaien dachten auf diese Weise und erhoben sich selbst über den Schmutz, aus dem sie stammten.
»Ja, so sagt man«, meinte Iris und drehte sich um die eigene Achse, was ihren Rock in Schwingung versetzte und Zander erneut an ihre schlanken Beine erinnerte. Er biss sich leicht auf die Innenseite der Wange, um sich zu ermahnen, wie falsch diese Gedanken waren. Immerhin arbeiteten sie zusammen. Außerdem war Iris zwölf Jahre jünger als er. Nicht zu jung, um kein Begehren für sie empfinden zu können, aber jung genug, um ihn an seinen Begierden zweifeln zu lassen. »Das ist ein wirklich wundervolles Anwesen.«
»Das ist es«, erklärte der alte Mann. »Bruchsteinmarmor. Direkt aus den nördlichen Abbaugebieten.« Er deutete ins Treppenhaus. »Und dazu diese wundervolle Wandverkleidung aus Sudmare-Diamantkiefer. So robust und stabil, dass Göttin Eydna die Haggbijl, ihre heilige Axt, daraus geschnitzt hat.«
»Sie kennen sich mit den alten Legenden aus«, frohlockte Iris und folgte ihm die Treppe hinauf.
Zander heftete sich den beiden in ein paar Stufen Abstand an die Fersen. Er wollte Iris' Kontaktaufnahme nicht im Weg stehen. Die junge Übersetzerin schien vollkommen in ihrem Element zu sein. Als sie im ersten Stock ankamen, plauderte sie bereits so vertraut mit dem alten Diener, als würden sie sich seit Jahren kennen. Zander hörte den beiden nur halb zu. Stattdessen ließ er seinen Blick durch die Glasfront des Treppenhauses wandern. Von hier aus hatte er eine schöne Sicht auf die Stadt und einen Teil der Bucht. Die Seeteufel war jedoch von dieser Position aus nicht mehr zu sehen. Er hatte einen Teil des gestrigen Nachmittags damit verbracht, an den Docks herumzufragen. Auf diese Weise hatte er in Erfahrung bringen können, dass das königliche Flaggschiff seit einigen Wochen regelmäßig, alle zwei bis drei Tage, vielleicht sogar noch häufiger, auslief. Angeblich blieb es für einige Stunden auf dem offenen Meer und kehrte dann wieder in den Hafen zurück. Man vermutete allgemein, dass die Paluder Schiffsingenieure diese Ausflüge nutzten, um neue Erfindungen zu testen, aber aus irgendeinem Grund schmeckte Zander diese Erklärung nicht.
»Ah, Sie müssen Fräulein Dan de Lion sein«, ertönte die glitschig klingende Stimme von Haddock Karpi. Der Erbe der Karpi-Familie war ein oder zwei Jahre älter als Zander und gab sich große Mühe, distinguiert zu wirken. Was man so hörte, hielt er sich selbst für eine gelehrte Persönlichkeit, auch wenn er nie eine Akademie besucht hatte. Sein dunkles Haar reichte ihm fast bis auf die Schultern und war im Nacken leicht gekräuselt. Die hohe Stirn, die hervortretenden Fisch-Augen und die markante Nase, die wie eine linksschiefe Schanze geformt war, verliehen ihm tatsächlich etwas Lehrerhaftes.
Diese Ähnlichkeit war jedoch rein optischer Natur. Bei diversen Gelegenheiten hatte Zander schon feststellen dürfen, dass Haddock Karpi kaum mehr Verständnis für die Natur und ihre Gesetze besaß als er selbst – und Zander war nun wirklich alles andere als ein Mann der Wissenschaft. Dafür fehlte ihm schlicht die Geduld. Ganz im Gegensatz zu Salmon, der seine spärliche Freizeit meist mit der Nase zwischen den Seiten irgendeines Buchs oder einer Fachzeitschrift verbrachte.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, erklärte Haddock feierlich und hauchte einen Kuss über Iris' Handrücken. Er trug einen Herrenrock aus dunkelblauem Samt und darunter ein schwarzes Hemd mit silbernen Knöpfen. Um seinen Hals war ein ebenfalls schwarzes Spitzentuch geschlungen, das von einer ovalen Brosche mit kleinen Diamanten und einem bernsteinfarbenen Feueropal gehalten wurde.
Iris erwiderte seine Geste mit einem eleganten Knicks. »Die Ehre ist ganz meinerseits, Herr Karpi. Schließlich habe ich schon so viel von Ihnen gehört.«
»Ach ja, tatsächlich?«, fragte Haddock, ohne ihre Hand loszulassen.
»Der Ruf Ihrer Schiffe bei den Skipbauten eilt Ihnen voraus«, erwiderte Iris mit Augen, die kugelrund vor Staunen waren.
Haddock wirkte geschmeichelt. »Tatsächlich haben meine Schiffe in letzter Zeit so einige Siege einheimsen können.«
»Sie müssen mir unbedingt mehr darüber erzählen«, sagte Iris.
Zander konnte ihre Konversationskünste nur mit ungläubiger Faszination verfolgen. Sie schien wirklich ein Händchen dafür zu haben, andere Menschen mit ihrem Charme einzuwickeln.
Haddock bot ihr seinen Arm an. »Nur zu gern. Beim Essen wird sich ausreichend Gelegenheit dazu bieten.«
Iris hakte sich bei ihm unter. Mit ihrem durchgestreckten Rücken und dem hoch erhobenem Kinn wirkte sie wie ein zartes Porzellanpüppchen, das zu tanzen begann, sobald die dazugehörige Spieluhr aufgezogen wurde. Zander bewunderte sie für diese Fähigkeit. Sie würde ihnen im Laufe des Abends sicher noch gute Dienste leisten.
Unter den tadelnden Blicken des alten Dieners, der in ihm vermutlich nie mehr sehen würde als den Gusaren, der seinen Herrschaften das Leben schwer machte, folgte er Iris und Haddock in den Speisesaal, der nur etwa halb so groß war wie seine Entsprechung im Forelli-Anwesen. Im Gegensatz zu Rogner blieben die Karpis lieber unter sich und hatten für ausgelassene Feste wenig übrig. Der Saal schien noch aus dem vergangenen Jahrhundert zu stammen: kaffeebraune Wenge-Möbel und Tapeten von der Farbe edlen Portweins. Alles wirkte düster und schwer, als würde es die Last der vergangenen Jahrzehnte mit sich herumtragen. Wie eine unsichtbare Staubschicht, die sich inzwischen bis zur Decke auftürmen musste und den Raum unter sich zu ersticken drohte.
Levrek Karpi saß am Stirnende der wuchtigen Tafel. Er war ein kleiner Mann mit traurigen Augen, die stets von dunklen Ringen und ausgebeulten Tränensäcken umgeben waren. Ihm haftete etwas Passives und Schicksalsergebens an, das im starken Kontrast zum leidenschaftlichen Tatendrang Rogner Forellis stand. Seine Frau Vinya strahlte dagegen Härte und Kälte aus, wie es gar nicht zu den Menschen aus Wynlago passte, die im Allgemeinen als ein fröhliches und ausgelassenes Völkchen bekannt waren. Ihre Lippen waren papierdünn, die bereits stark ergrauten Haare zu einem strengen Zopf geflochten, die Gelenke so spitz, dass sie durch ihre blasse Haut stachen. Der Blick ihrer hellgrünen Augen wirkte berechnend und abschätzend, als würde sie in ihrem Innern den Wert jedes Menschen mit einer kleinen Zinnwaage bemessen. Sie war ganz eindeutig die treibende Kraft hinter dem Karpi-Imperium.
Außer den beiden Herrschaften, warteten am Tisch noch Sarko Baboi in Begleitung einer schwarzhaarigen Frau mit sanften Zügen, Delphine Kaviar, die Berichterstatterin für den Rybaler Stadtanzeiger, Lumin Morue, der die Geschäfte der Karpis in Myr Paluda betreute, und Sardina, die ganz offensichtlich Haddocks weibliche Gesellschaft für den Abend darstellte.
Der junge Erbe machte Iris mit den Anwesenden bekannt, welche die junge Frau neugierig beäugten. Nur Sardina würdigte Iris keines Blickes. Nachdem alle ihre Freude über den Besuch kundgetan hatten, nahmen Iris und Zander vor den verbliebenen Tischgedecken Platz. Teller und Bestecke waren mit Karpfen verziert, genau wie die Vasen in der Tischmitte, in denen rote Ranunkeln und weiße Rittersporne ihr bemitleidenswertes Dasein fristeten.
»Wie ich hörte, stammen Sie aus Wynlago, Frau Karpi«, begann Iris das Tischgespräch, während sie auf die Speisen warteten.
»So ist es«, erwiderte die Angesprochene steif. »Waren Sie schon einmal in der Gegend, Fräulein Dan de Lion?«
»Mein zweitältester Bruder ist nach Druivenstock gezogen«, erklärte Iris. »Seine Frau ist eine echte Wynbere, wie man so sagt.«
Bei diesen Worten musste Vinya Karpi tatsächlich schmunzeln. Zander war es fast, als könnte er die eingerosteten Scharniere ihrer Mundwinkel quietschen hören. »Diese Bezeichnung habe ich lange nicht mehr gehört. Früher wurde ich auch so genannt. Als ich noch jung und ansehnlich war.«
Ihr Mann streckte den Arm aus und tätschelte ihre Hand. »Das bist du doch jetzt auch noch«, sagte er und obwohl seine Worte etwas verwaschen klangen, schienen sie doch vollkommen ernst gemeint zu sein.
Haddock warf Sardina einen warmen Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte. Iris' Erscheinen musste ihr gehörig die Laune verdorben haben. Dabei hatte sie sich wirklich fein herausgeputzt. Ihr lachsfarbenes Kleid und die zarten Perlenstickereien, die ihren Schal bedeckten, verliehen ihr ein gehobenes Erscheinungsbild, als hätte sie sich bereits perfekt an ihre neue Rolle an Haddocks Seite angepasst. Nichts deutete mehr auf ihre Vergangenheit als Gemahlin eines einfachen Schiffsingenieurs hin oder darauf, dass sie sich jahrelang hinter seinem Rücken mit anderen Männern getroffen hatte.
Sie merkte wohl, dass sie gemustert wurde, denn sie hob den Blick und sah Zander fest in die Augen. Die Botschaft dahinter war ihm sofort klar: sie würde sich diese Aufstiegsmöglichkeit in die feine Gesellschaft nicht kaputt machen lassen. Zum Glück hatte er wenig Bedürfnis, ihr irgendetwas kaputt zu machen.
Iris' glockenhelles Gelächter ließ ihn aufhorchen. »Nein, ich habe keine Angst vor Insekten. Als Tochter eines Seidenraupen-Züchters wäre das wohl auch fatal.«
»Also ich kann Insekten nicht ausstehen«, meinte Delphine Kaviar, die ihr dunkles Haar zu Kränzen geflochten hatte. Sie war eigentlich keine besonders attraktive Frau, was vor allem an ihrem recht gewöhnlichen, schmal und länglich geformten Gesicht lag, aber Zander bewunderte ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie nicht mehr locker – wie ein Bluthund, der sich in seiner Beute verbissen hatte. Leider stand er oft auf der anderen Seite des Geschehens und musste sich gegen ihre Beißattacken zur Wehr setzen. Vor einigen Monaten hatte sie einen Skandal in der Forelli-Fischfabrik gewittert und war der Familie daraufhin nicht mehr von der Seite gewichen. Zander hatte sie sogar zweimal dabei erwischt, wie sie versucht hatte, ins Anwesen einzubrechen, um Rogners private Dokumente zu durchwühlen. Glücklicherweise hatte sich das Ganze letztendlich als Missverständnis herausgestellt.
Lumin Morue, ein junger Mann mit hellbraunen Locken, spitz zulaufenden Augenbrauen und einer Narbe von der Begegnung mit einem giftigen Kalamari an der linken Hand, lächelte schief. »Ich bin bloß froh, dass es in Myr Paluda zu kalt für diese Kriechtiere ist.«
»Oh, vergessen Sie nicht die Flockenfalter«, wandte Iris ein.
Morue wiegte den Kopf hin und her. »Da haben Sie natürlich recht.«
»Was sind Flockenfalter?«, wollte Babois Begleiterin wissen.
»Schmetterlinge, die Schneeflocken gleichen und auf dem Winterberg beheimatet sind«, erklärte Iris.
Morue fasste sich ans Kinn. »Wenn Sie das sagen, klingt das so possierlich.« Er wandte sich an die Schwarzhaarige: »Flockenfalter sind groß wie Turmfalken.«
»Nein«, hauchte die junge Frau. »Unmöglich.«
»Doch, doch«, lachte Iris. »Und ihre Flügel sind so grazil, dass sie bei der kleinsten Berührung zu Eiskristallen zerfallen.« Während sie sprach, leuchteten ihre Augen vor Erregung. »Manchmal, besonders im Winter, treten sie in Scharen auf und überfallen die Stadt wie ein Schneesturm.«
»Was für eine exotische Vorstellung«, bemerkte Haddock fasziniert.
Iris nickte zustimmend, was ihre blonden Locken lustig auf und ab hüpfen ließ.
Da meldete sich Sarko Baboi zu Wort: »Wie wohl die wenigsten wissen, bin ich bei meinen Tanten und Onkeln aufgewachsen, weit oben im Norden. Während die Familie meines Vaters aus Erdhav stammt, ist die Familie meiner Mutter zur Zeit des großen Exodus unter König Ladislaus aus den Wodlanden geflüchtet und hat sich in der Nähe von Neromonte niedergelassen. Dort kennt man die Surisasang, die in den Tiefen der Minen leben und sich vom Blut der Arbeiter ernähren.«
»Surisasang?«, wiederholte Delphine Kaviar.
»Flogmuse«, erklärte Baboi in Fisklore.
»Fledermäuse«, ergänzte Iris in der allgemein gebräuchlichen Roilore. »Davon habe ich schon gehört.«
Baboi nickte, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger ineinander. Sein Blick war auf seinen leeren Teller gerichtet. »Einmal habe ich meinen großen Bruder zu einer Mutprobe herausgefordert. Ich wollte, dass er in die Minen geht. Nur ein paar Meter weit, bis er das Tageslicht nicht mehr sehen kann. Diese Proben waren unter Kindern damals weit verbreitet. Doch mein Bruder ist nicht umgedreht. Immer weiter ist er gegangen. In die Tiefe. Dem lockenden Schein der Grubenlampen folgend.« Der Klang von Babois Stimme war düster und von einer seltsamen Intensität, als würde weit unten in seiner Kehle ein zerstörerisches Feuer schwelen. »Tauro war schon immer ein unbedarftes Kind. Lieb, aber ziemlich naiv. Hat getan, was man von ihm verlangte. Keine Fragen gestellt.« Die Erzählung schien den ganzen Raum mit Schatten zu erfüllen. »Ich habe an der Oberfläche auf ihn gewartet, doch er kehrte nicht zurück.«
Ein ungutes Gefühl schwoll in Zander heran. Unter dem Tisch berührte er Iris vorsichtig am Bein. Sie nickte kaum merklich, zum Zeichen, dass sie es ebenfalls spüren konnte.
»Daraufhin habe ich mir eine Fackel und ein Messer genommen«, berichtete Baboi. »Und bin ihm gefolgt. Ich hatte keine Angst. Alles, woran ich denken konnte, war, meinen Bruder wiederzufinden.« Sein vorstechender Adamsapfel wanderte auf und ab. »Als ich ihn schließlich fand, war er schon halbtot. Ausgesaugt von diesen Bestien.« Bei diesen Worten hob er den Blick und sah Iris und Zander direkt an, sodass kein Zweifel an der Bedeutung seiner kleinen Anekdote aufkommen konnte. »Und was habe ich getan?« Er fuhr sich mit der Zunge über die grauen Lippen. »Ich habe diese Viecher getötet. Habe sie verbrannt und mit meinem Dolch niedergestreckt. Ihr ganzes Nest habe ich ausgerottet. Bis kein einziger Blutsauger mehr am Leben war.«
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