57. Der doppelte Rogner
»Sheitani?«, wiederholte Zander, während er seine Unterlippe mit den Fingern bearbeitete.
Schon seit er gestern Mittag von den Schlammfeldern ins Anwesen zurückgekehrt war, war er ungewöhnlich ernst und nachdenklich. Irgendetwas beschäftigte ihn, aber wie gewöhnlich dachte er gar nicht daran, Iris in seine Gedanken einzuweihen. Um ihn zum Reden zu bringen, hatte sie daher beschlossen, den Anfang zu machen und von ihrem Erlebnis mit Cyan zu berichten.
»Ja, das hat er gesagt«, antwortete Iris, während sie Zander im Spiegel beobachtete und sich die Haare richtete. Angesäuert fügte sie hinzu: »Ich wusste gar nicht, dass diese Biester Namen haben.«
»Ich auch nicht«, murmelte Zander und trat zur Seite, um Anchois und Hasel einzulassen. Anchois trug das Kleid über dem Arm, das Iris an diesem Nachmittag zu ihrem Besuch bei den Karpis tragen wollte. Hasel brachte die dazugehörige, mit Fischbein verstärkte Krinoline, deren Aussehen an einen glockenförmigen Käfig erinnerte. Das Kleid bestand aus einem silbergrauen Baumwollstoff und war vergleichsweise dezent, von der Klöppelspitze am Dekolleté und den Rüschen an den Ärmelaufschlägen mal abgesehen. Der ausladende Schnitt entsprach dem typischen Wynlago-Stil. Dort wurde er von den edlen Damen gern zu den Weinlese-Feierlichkeiten getragen.
»Was hältst du davon?«, fragte Iris. »Ich als Todfeindin der Myrkuren?« Sie strich sich eine störrische Locke aus der Stirn. »Lächerlich, oder?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte Zander. »Aber vielleicht wäre es gut, wenn du weiterhin mit Cyan sprechen würdest. Aus irgendeinem Grund scheint er den Drang zu verspüren, sich dir anzuvertrauen.«
»Aus irgendeinem Grund?«, echote Iris naserümpfend. »Ich bin eben charmant und liebenswert.«
»Ja«, bestätigte Zander schmunzelnd. »Das wird mit Sicherheit der Grund dafür sein.«
»Jedenfalls ist es mit Sicherheit der Grund, aus dem er nicht mit dir spricht«, entgegnete Iris, erhob sich von ihrem Stuhl vor dem Spiegel und trat in die Mitte des kleinen Zimmers. Dabei musste sie aufpassen, nicht über Seestern zu stolpern, der ihr inzwischen überallhin folgte und auf alles und jeden eifersüchtig zu sein schien. »Du kannst gern bleiben, Zander«, ergänzte sie und kam sich dabei recht verwegen vor. »Aber dann musst du dich umdrehen.«
Anchois zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
Zander schien sie gar nicht gehört zu haben. Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster auf den Ozean hinaus. Sein offensichtliches Desinteresse ärgerte Iris und sie beschloss aus einer Laune heraus, noch einen Schritt weiterzugehen. Seine Anwesenheit bewusst ignorierend, schälte sie sich aus ihrem Morgenmantel, bis sie nur noch im Unterkleid dastand.
Anchois räusperte sich vernehmlich. »Fräulein Dan de Lion...?«
Im gleichen Moment wandte auch Zander den Kopf. Sofort war Iris ihr Verhalten peinlich. Eilig schnappte sie sich das Kleid, das Anchois über den Arm trug und hielt es vor sich.
»Du legst es wohl darauf an, die Karpis zu beeindrucken«, bemerkte Zander anerkennend.
»Findest du?«, gab Iris zurück, wobei sie sich weiter hinter ihrem Kleid versteckte und in Zanders Miene zu lesen versuchte. Das Zucken seiner Mundwinkel sagte ihr, dass er damit deutlich mehr Erfolg hatte als sie.
»Ja, aber wir sollten es nicht übertreiben«, meinte Zander. »Immerhin sind wir nur die Boten, nicht die Herrschaften.«
Iris verdrehte leicht die Augen. »Streng genommen bin ich beides. Und ich trage, was mir gefällt. Außerdem ist dieses Kleid sehr schlicht. Äußerst schlicht sogar.«
Anchois räusperte sich erneut. »Herr Arryba. Ich denke, es wäre jetzt an der Zeit, dass Sie Fräulein Dan de Lion etwas Privatsphäre gönnen. Wenn Sie die Schiffe in der Bucht beobachten wollen, können Sie das auch woanders tun.«
»Natürlich«, erwiderte Zander mit spöttisch gespitzten Lippen. Mit einem letzten Blick aus dem Fenster wandte er sich zum Gehen.
»Dieses Anwesen wird immer mehr zu einem Tollhaus«, schimpfte Anchois, nachdem er zur Tür hinaus war. »Erst der Anschlag, dann dieses Ungeheuer und die Ratten - und zu allem Überfluss müssen wir unser Trinkwasser auch noch immer aus den öffentlichen Brunnen holen.« Die letzten beiden Punkte dieser Aufzählung schienen Anchois am meisten Kummer zu bereiten. »Wie soll ich unter diesen Bedingungen die Solvende-Feierlichkeiten vorbereiten?« Sie beobachtete aus halb zusammengekniffenen und von Krähenfüßen umringten Augen, wie Iris die Krinoline anlegte. »Nicht auszudenken, was passiert, sollten die feinen Herrschaften beim Essen von Ratten gestört werden.« Sie atmete schnaubend aus. »Oder – bei den Göttern – von einem dieser Monster.«
»Vielleicht sollten Sie darüber mit Cyan sprechen«, bemerkte Iris und gab Anchois ihr Kleid zurück. Schon beim Gedanken an die Myrkuren wurde sie von einem kalten Schauer überkommen. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie diese Kreaturen über den Dächern von Myr Ryba kreisten, als hätten sie die Stadt im Sturm erobert. Noch immer hatte sie ihre Vision Zander gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Auch heute würde sie wohl nicht dazu kommen, denn jetzt war es wichtiger, die Einladungen zur Sommersonnenwenden-Feier an die anderen Familien zu überbringen, um vorzutäuschen, dass im Hause Forelli alles in bester Ordnung war.
»Besser nicht«, seufzte Anchois. »Ich glaube, der junge Herr nimmt mir immer noch übel, dass ich ihn damals nicht vor seinem Vater verteidigt habe.«
»Was ist denn damals passiert?«, fragte Iris beiläufig, während Hasel den Bund der Krinoline zuschnürte und sich anschließend an ihrem Mieder zu schaffen machte.
Anchois wich ihrem Blick aus. »Nichts von Belang, Fräulein Dan de Lion.« Sie schlang die Arme um Iris' Kleid und strich mit den Fingern über die feine Spitzenborte. Iris wünschte ihr, dass sie das Gefühl genoss, denn schon bald würde auch dieses Kleid voller Flecken sein und in Fetzen hängen. »Herr Forelli und sein Sohn haben oft gestritten. Einmal ging es sogar so weit, dass Herr Forelli seinem Sohn verbot, in die Hauptstadt zu reisen.« Sie schauderte, als würde ihr die bloße Erinnerung an den Streit zwischen Vater und Sohn körperliches Leid verursachen. »Es war nichts als ein großes Missverständnis. Ich hätte es aufklären können, aber ich dachte, es wäre besser, wenn die Herren das Problem untereinander lösen würden.«
»Kein schlechter Gedanke«, bemerkte Iris.
Anchois schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, Herr Cyan ist damals alleine und gegen den Willen seines Vaters nach Myr Paluda gereist. Er war ein paar Wochen dort. Ich dachte, er würde gar nicht mehr zurückkehren, aber dann stand er plötzlich wieder vor der Tür.«
»Wann war das?«, fragte Iris.
»Vor vier Monaten etwa«, antwortete Anchois.
Iris dachte kurz nach. »Schade. Dann sind wir uns sicher nicht begegnet. Die letzte Zeit habe ich bei meiner Familie in Trandafir verbracht.«
»Sie müssen Ihre Familie sehr vermissen«, sagte Anchois und spannte das Kleid auf, sodass Iris hineinschlüpfen konnte.
Ja, dachte Iris. Ich vermisse sie sehr. Immer wenn sie die Geschichten anderer Familien hörte, wurde ihr wieder bewusst, wie viel Glück sie mit ihrer eigenen Familie gehabt hatte. Sicher wurde auch bei ihnen manchmal gestritten, aber so schlimm, dass eines der Kinder aus dem Anwesen geflüchtet wäre, war es bislang noch nicht gekommen. Selbst Iris, die das Leben in der Stadt dem Leben auf dem Land vorzog, hatte keinerlei bittere Gefühle ihren Eltern gegenüber – nicht einmal in Bezug auf ihre Mutter, die keinen Hehl daraus machte, was sie von Iris' Träumen und Ambitionen hielt.
Nachdem sie sich fertig angekleidet hatte, klopfte es an die Tür. Tuna streckte den Kopf herein. »Bist du soweit, Iris?«
Iris strich ihren Rock glatt. »Was denkst du?« Sie wusste im gleichen Moment, dass es eine dumme Idee gewesen war, ausgerechnet Tuna zu fragen.
»Sehr schön – für eine Teeparty im Hinterland mit lauter fünfjährigen Prinzessinnen.« Tuna zuckte mit den Schultern. »Aber daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.«
»Danke«, presste Iris heraus und zupfte die Spitze zurecht, sodass sie die schon fast verheilte Bisswunde an ihrem Dekolleté verbarg.
Tuna stieß die Tür weit auf. »Gern geschehen. Und jetzt komm. Es gibt noch etwas Wichtiges zu besprechen.« Sie führte Iris die Treppe hinauf zu den Gemächern von Cyan und Enzia. Im Garten waren noch letzte Aufräumarbeiten aufgrund des Kuchenmassakers, wie es die Dienstmädchen nannten, zu beobachten. Der Himmel war bewölkt und es herrschte ein schneidender Wind, der vor allem den Möwen zu gefallen schien, die über den Dächern des Anwesens fliegerische Kunststücke vollführten. »Hier entlang«, sagte Tuna und lotste Iris in Enzias Gemach, wo sich der Rest der Gruppe versammelt hatte.
Die Bewohnerin des Zimmers wartete bei der großen Konstruktion, die neben dem Bett stand und an einen aufrecht stehenden Bronze-Sarg erinnerte. Salmon studierte derweil die ominöse Kuchenmaschine, die im Zentrum des Raums aufgebaut war: eine Art Ofen mit vielen Brennkammern, Rohren und Greifarmen. Zander lehnte an einem der Fenster und beobachtete die Bucht. Er hatte sich umgezogen und trug nun statt seines alten Mantels eine rubinrote, taillierte Weste mit dezenten Stickereien und aufgesetzten Taschenplatten. Dazu kombinierte er einen Herrenrock aus schwarzem Seidentrikot mit matt glänzenden Knöpfen, geschnürten Posamenten und einem zur Weste passenden Innenfutter. Ihn derart herausgeputzt zu sehen, verschlug Iris die Sprache.
»Jetzt sind wir vollzählig«, meinte Enzia und faltete die Hände ineinander.
»Jedenfalls vorerst«, sagte Tuna nickend.
Zander löste sich vom Fenster und wandte sich der Gruppe zu. »Was wir jetzt hier besprechen, wird diesen Raum nicht verlassen. Jedenfalls nicht, bis ich etwas anderes sage.« Er warf Iris einen derart intensiven Blick zu, dass ihr unwillkürlich die Hitze ins Gesicht stieg. So gekleidet, rasiert und vielleicht sogar gekämmt gab es nichts bis auf seinen Teint, das Zander von den feinen Adeligen der Hauptstadt unterschieden hätte. Gleichzeitig war es genau dieser unscheinbare Unterschied, der Iris faszinierte.
»Verstanden«, sagte sie und schloss die Tür hinter sich.
»Darf ich bitten, Fräulein Enzia?«, fragte Zander.
Enzia kratzte sich am Kopf und brachte dabei ihre hellroten Haarsträhnen in Unordnung. »Ja, nun... ich habe überlegt, wie wir unser Problem lösen können. Das Problem mit den Feierlichkeiten, für den Fall, dass Vater dann immer noch in diesem...« Ihre Brust hob und senkte sich auffällig. »...Zustand sein sollte.«
»Wenn Herr Forelli bei Anseen de Solvende nicht persönlich in Erscheinung tritt, befürchte ich, dass wir ernste Probleme bekommen werden«, führte Zander weiter aus. »Es sind nämlich inzwischen nicht mehr nur die Arbeiter und Bankhäuser, die wir besänftigen müssen, sondern auch noch Pike und Hauki.«
»Wieso das denn?«, fragte Iris erschrocken.
Zander warf erneut einen Blick auf die Bucht. »Ich weiß es nicht. Aus irgendeinem Grund denken die beiden, dass wir etwas mit den ermordeten Kindern zu tun haben.«
»Pike hat wohl zu viel Kaninchenfisch gefuttert«, brummte Tuna.
Zander faltete die Arme vor dem Körper, sodass der Stoff seines Herrenrocks an den Schultern leicht spannte. »Wie auch immer. Ihr wisst, wie die beiden sind. Dass jemand in ihrer Stadt Kindern das Herz rausschneidet, werden sie sich nicht gefallen lassen.«
Enzia gab einen leise glucksenden Laut von sich, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Bald ist wohl ganz Myr Ryba hinter uns her, was?«
»Wohl eher ganz Materra«, brummte Tuna und ließ sich neben sie aufs Bett sinken. »Und was ist jetzt euer toller Plan, um unser Rogner-Problem zu lösen?«
Zander vollführte eine auffordernde Handbewegung in Enzias Richtung. »Zeig es ihnen. Aber ich warne dich, Tuna, es wird dir nicht gefallen.«
»Das wirst du dann schon merken«, grollte Tuna.
Enzia fasste sich mit einer Hand an den schlanken, schwanengleichen Hals. »Es war vor etwa zwei Jahren«, berichtete sie. »Da kam Vater mit einer Bitte zu mir. Eine...« Sie richtete den Blick flehend zur Decke. »...seltsame Bitte.«
Iris hielt die Spannung kaum noch aus. Gleichzeitig kochte ihr Blut, wenn sie auch nur in Zanders Richtung spähte.
»Er suchte nach einem Weg, an zwei Orten gleichzeitig sein zu können«, fuhr Enzia fort. »Beziehungsweise nach einer Möglichkeit, seine Anwesenheit an einem bestimmten Ort wirkungsvoll vortäuschen zu können.«
Salmon lachte auf. »Vermutlich wegen einer Frau.«
»Einer?«, erwiderte Tuna mit hochgezogenen Brauen. »Eine Frau ist kein Problem.« Ihr finsterer Blick wanderte zu Zander. »Mehrere Frauen gleichzeitig sind das Problem.«
Enzias blasse Haut bekam nervöse Flecken. »Ich habe damals nicht genauer nachgefragt, sondern stattdessen einen vorläufigen Entwurf angefertigt – und auf dieser Grundlage ein erstes Modell.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es... es ist leider immer noch ziemlich unfertig. Daher ist es auch noch nie zum Einsatz gekommen. Als Vater Frau Dorado kennenlernte, hatte er keine Verwendung mehr dafür und ich wusste nicht, was ich damit machen sollte.«
Tuna legte ihr beruhigend eine Hand auf das Knie. »Was auch immer es ist, es wird perfekt sein.«
Enzia lächelte schief und streckte sich nach der Verriegelung der bronzenen Metallkiste. Es gelang ihr nicht gleich, sie aufzustemmen. Salmon kam ihr zu Hilfe. Mit vereinten Kräften lösten sie den Mechanismus und der Deckel schwang zur Seite auf. Im Innern des sargähnlichen Gebildes kam eine mannshohe Skulptur zum Vorschein, die Rogner Forelli bis aufs Haar glich. Für einen Moment herrschte verwundertes Schweigen, dann schlug der falsche Rogner plötzlich die Augen auf und hob den Arm, als wollte er nach Enzia und Salmon greifen.
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