55. Seeteufel
Zander wich einer herabsausenden Säbelklinge aus und versetzte seinem Angreifer einen Stoß, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Seine Messerklinge bohrte sich tief in den Oberschenkel des Mannes. Mühelos glitt sie in das nachgiebige Fleisch. Zander fasste den Griff von oben, zerrte die Klinge wieder heraus, wirbelte um die eigene Achse und schlug nach einem Schlammfischer, der sich ihm von hinten genähert hatte. Der zerlumpte Mann konnte gerade noch rechtzeitig den Bauch einziehen. Sein Totschläger zischte durch die Luft und verfehlte Zanders Schläfe. Vom eigenen Schwung getrieben, stolperte der Fischer an ihm vorbei und stürzte in den Schlamm.
Zander ignorierte ihn und eilte weiter. Schüsse peitschten durch die Luft, die inzwischen von magischem Nebel und bitteren Schießpulver-Dämpfen erfüllt war. Ein Stadtwächter polterte mit seiner klappernden Rüstung an ihm vorbei und rammte einem der Schlammfischer noch in der Bewegung das stumpfe Ende seiner Hellebarde gegen den Kopf.
Aus dem Augenwinkel registrierte Zander, dass ein weiterer Fischer mit einer Pistole auf ihn zielte. Bevor der Mann jedoch einen Schuss abgeben konnte, wurde er von Tuna zu Boden geworfen. Die Leibwächterin rollte über die Schulter ab und kam mit einer eleganten Bewegung wieder auf die Beine. Ihre Säbelspitze bohrte sich in die Hand des Mannes. Gleichzeitig stieß sie seine Waffe mit dem Fuß außer Reichweite. Zander stürzte los, um zu verhindern, dass ein anderer Fischer nach der Pistole greifen konnte, doch Hauptmann Narwal kam ihm zuvor. Trotz seiner eher schmächtigen Statur wirkte er mit seinen weißen Zöpfen, seinem Säbel und der Schusswaffe in den Händen wie ein rachsüchtiger Gott. Als sich ihre Blicke kreuzten, nickte Zander ihm zu und setzte seinen Weg zum Wasser fort.
Weitere Schlammfischer, Stadtwächter und Gendarmen kreuzten seine Schritte. Wie Geister tauchten sie aus dem Nebel auf und verschwanden kurz darauf wieder darin. Keiner von ihnen ähnelte Fader auch nur im Entferntesten. Alle waren deutlich jünger als ihr Anführer, was Zanders Theorie bekräftigte, dass der alte Mann längst an Altersschwäche gestorben oder in der Bucht ertränkt worden war – die übliche Todesart für einen Mann in seiner Position.
Nach einigen Schritten brach der Dunst auf und gab den Blick auf den Ozean frei. Trotz herrschendem Niedrigwasser war das Meer nicht ruhig und spiegelglatt wie in der Bucht von Ryba. Dafür sorgte schon allein das gefurchte Land unterhalb der Wasseroberfläche, das zahlreiche unberechenbare Strömungen hervorbrachte. Ein unbedarfter Schwimmer konnte in diesem Gebiet nur allzu leicht aufs Meer hinausgezogen werden. Genau diesen Effekt wollten sich die Schlammfischer anscheinend zunutze machen. Sie waren gerade dabei, ihr Boot ins Wasser zu schieben.
Zander fühlte, wie sich das Feuer der Jagd glühend heiß in seinen Adern ausbreitete. Er wollte gerade losrennen, um die Männer aufzuhalten, da wurde einer von ihnen auf ihn aufmerksam. »De nu! De nu!«, rief er, um seine Kameraden zur Eile anzuspornen. Dann schnappte er sich eines der Kinder, einen etwa sechsjährigen Jungen, presste ihn an sich und legte ihm sein Entermesser an den Hals. »Nätt dichta kamm!«, warnte er Zander, während er sich mit dem Kind langsam rückwärts ins Wasser bewegte.
Der Junge hatte dunkelbraunes Haar, blassblaue Augen und einen Ausdruck auf dem verhärmten Gesicht, den Zander nur zu gut kannte. Ein Unwissender hätte ihn vielleicht als Entschlossenheit fehlgedeutet, doch was wie furchtlose Entschiedenheit anmutete, war nichts anderes als die Verzweiflung einer kleinen Seele, die den Grausamkeiten der Welt nichts als Trotz und Härte entgegenzusetzen hatte.
»Nätt dichta kamm!«, wiederholte der Schlammfischer, dessen Hautfarbe sogar noch ein paar Nuancen dunkler war als Zanders. Seine von Sonne, Wind und Salz bearbeiteten Züge verrieten die Furcht, die ihn beim Anblick seines Gegners durchströmte. Zweifellos wusste er, wer Zander war. Entweder waren sie sich schon einmal begegnet oder er hatte von ihm gehört. Seine Klinge ritzte den Hals des Jungen. »Nätt dichta-« Die Warnung brach abrupt ab, als Salmons Kugel seinen Kopf durchschlug.
Zander watete ins Wasser und packte die Hand des Jungen, um ihn ans Ufer zu ziehen. »Holla! Att de Gamal!«, forderte er ihn auf, während er sich seines Mantels entledigte und seine Stiefel abstreifte.
Das Boot der Schlammfischer hatte sich schon einige Meter vom Ufer entfernt. Von den kräftigen Paddelschlägen der geübten Ruderer angetrieben, bewegte es sich auf den Ozean hinaus. Zander drückte dem Jungen seinen Mantel in die schmutzigen Hände, klemmte sich das Messer zwischen die Lippen und glitt in die Fluten. Das kalte Wasser schloss ihn fest in die Arme, drückte seinen Brustkorb zusammen und ließ das Blut noch frenetischer durch seine Adern hämmern. Gleichzeitig schienen ihn die Strömungen fortzutragen, als wäre der Ozean ein großes Biest – und alles, was Zander tun musste, war, sich an seinem Rücken festzuklammern.
Mit geübten Arm- und Beinbewegungen nahm er die Verfolgung der Schlammfischer auf. Es kostete ihn eine Menge Kraft, die Brandung zu überwinden, aber das galt auch für die Männer, die er verfolgte. Wie im Innern eines Tunnels nahm Zander nichts anderes mehr wahr, als das Kielwasser des Boots und die Verwirbelungen, die von den rhythmischen Paddelschlägen der Fischer verursacht wurden. Meter für Meter holte er auf. Das Feuer in seinen Adern brannte heiß. Dagegen schien der Rest seines Körpers mit dem kalten Ozean zu verschmelzen, als wären ihm plötzlich Schuppen und Schwimmhäute gewachsen.
Als er die Fischer einholte, fuhr ein hölzernes Paddel auf ihn nieder, doch Zander wich dem Angriff aus und tauchte unter dem Rumpf des Boots hindurch. Auf der anderen Seite brach er aus dem Wasser, klammerte sich an die Bootskante und zog sich schwungvoll in die Höhe. Jemand wollte ihn packen und wieder ins Wasser befördern, aber Zander gelang es, seinen Schwerpunkt so zu verlagern, dass das Gefährt heftig ins Schwanken und der Mann aus dem Gleichgewicht geriet. Auf diese Weise konnte er seinen Angreifer mit nur einer Hand ins Wasser schubsen. Dadurch hatte er jedoch keine Hand mehr frei, um das Paddel eines zweiten Fischers abzuwehren, das auf seinen Rücken niederkrachte. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Schulter und erinnerte ihn daran, dass er sich keine Blöße erlauben durfte, wenn er nicht bis ans Ende seiner Tage Tunas Spott erdulden wollte.
Halb zog er sich ins Boot, halb wurde er von den Wellen geschoben. Er spuckte das Messer aus, rollte auf den Rücken und wehrte das Paddel ab, das erneut auf ihn niederfuhr. Mit dem Fuß versetzte er seinem Angreifer einen Tritt gegen das Schienbein. Das kleine Boot schwankte heftig hin und her. Der Fischer breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Dabei verlor er das Paddel. Als er daraufhin das Entermesser zückte, das in seinem Gürtel steckte, flohen die Kinder zum anderen Ende des Bootes, was das Schwanken des Gefährts noch verstärkte.
Zander packte sein eigenes Messer und wehrte die Klinge des Fischers ab. Das misstönende Kreischen von Metall auf Metall vibrierte in seinen Ohren. Obwohl er in eindeutig schlechterer Position war, gelang es ihm mit einer Mischung aus Zorn und Kraft, die Waffe seines Gegners wegzudrücken und sich aufzurichten. Der Fischer knurrte zornig, löste die Klingenbindung und holte zu einem brutalen Schlag aus. Zander lockerte seinen Griff bis er das Heft des Messers unter den Fingerkuppen spürte und setzte zum Wurf an.
Er kam jedoch nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen, weil sich in diesem Moment ein weiterer Fischer von hinten auf ihn stürzte. Ein dicker Strick legte sich um seinen Hals. Geistesgegenwärtig brachte Zander eine Hand zwischen seine Kehle und das Seil. Trotzdem schnürte es ihm die Luft ab, als sein Angreifer die Schlinge zuzog. Das Messer entglitt seiner Hand. Er stolperte rückwärts, wodurch ihn die Klinge des anderen Fischers knapp verfehlte. Mit einem leisen Schrei, der es ihm ermöglichte, seine ganze Kraft zu mobilisieren, packte Zander den Strick mit beiden Händen und krümmte sich. Sein nicht besonders groß gewachsener Angreifer wurde nach vorne gezerrt und verlor für einen Moment den Boden unter den Füßen. Zander nutzte diese Gelegenheit und vollführte eine schwungvolle Drehung, sodass die beiden Männer zusammenstießen. Der Strick um seinen Hals lockerte sich und es gelang ihm, sich zu befreien. Hustend bückte er sich nach seinem Messer, doch noch ehe er zu einem Angriff ansetzen konnte, brachte einer der beiden Fischer das Boot zum Kentern.
Zander stieß sich ab und tauchte ins Wasser. Sein erster Gedanke galt jedoch nicht seinem eigenen Schicksal, sondern dem der Kinder. Die meisten in Myr Ryba Geborenen sogen die Fähigkeit zu schwimmen mit der Muttermilch auf, aber nicht alle waren das offene Meer und seine ungezähmte Wildheit gewöhnt. Während er sich noch nach den Kindern orientierte, wurde er ruckartig am Fuß gepackt und in die Tiefe gezogen. Er schnappte nach Luft. Die Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen. Um ihn herum rauschte und wogte der Ozean, sprudelnd und blubbernd wie ein Geysir.
Der Angreifer, der seinen Fuß gepackt hatte, ließ von ihm ab und umfasste stattdessen seinen Brustkorb mit beiden Armen. Da Zander genau wusste, dass er lange die Luft anhalten konnte, vermutlich sehr viel länger als sein Gegner, geriet er nicht in Panik, sondern entspannte sich. Bei geschlossenen Augen schien das Rauschen des Ozeans die Form einer Stimme anzunehmen: Der Gesang der Rybala Havfruese war aus der Bucht bis zum Rand des offenen Meeres zu hören. Wenn Sturm herrschte, sogar noch viel weiter. Jeder Gusar kannte diese Stimme und ihr Lied, das sich in keine ihm bekannten Worte fassen ließ.
Je weiter Zander und sein Angreifer in die Tiefe sanken, desto dunkler wurde der Ozean. Wenn er sich anstrengte, konnte er dort, wo die Farbe des Wassers von dunkelblau in schwarz überging, zuckende Bewegungen wahrnehmen. Ein Trick seiner Fantasie oder scheue Nixen, die auf sie aufmerksam geworden waren? Ehe er sich für eine der Möglichkeiten entscheiden konnte, huschte ein Schatten an seinem Kopf vorbei. Für einen kurzen Moment vermeinte er das Aufblitzen schillernder Schuppen und ein paar Strähnen seetanggrüner Haare erkennen zu können, dann lockerte sich der Griff seines Gegners abrupt.
Zander fuhr herum und sah gerade noch, wie der Mann in der Schwärze des Ozeans verschwand. Da Nixen als wankelmütige Kreaturen galten, die sowohl sanftmütig als auch grausam sein konnten, beschloss er bei diesem Anblick, dass es an der Zeit war, die Flucht zu ergreifen und sein Glück nicht weiter zu strapazieren. Mit kräftigen Beinbewegungen schwamm er zurück zur Oberfläche und brach kurz darauf aus dem Wasser.
Zu seiner Überraschung wurde fast augenblicklich eine Hand nach ihm ausgestreckt. Sie gehörte Pike, der sich aus einem Ruderboot beugte. Ein vages Lächeln lag auf seinen Lippen, wie eine exotische Kreatur, die sich auf seinem Gesicht niedergelassen hatte. »Was ist?«, fragte er mit einem spöttischen Funkeln in den kalten Augen. »Traust du mir nicht?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Zander, fasste Pikes Hand und ließ sich von ihm in das kleine Boot helfen. Dort grüßte er Hauki, der die Paddel bediente. Hinter ihm, am Bug der Barke, saßen die Kinder. Sie wirkten unverletzt und drängten sich aneinander wie Hennen auf der Stange. Am Heck des Bootes stapelten sich dagegen die Schlammfischer – in fein säuberlich sortierten Einzelteilen.
»Wir machen unsere Arbeit stets gründlich«, erklärte Pike.
»Narwal wollte sie lebend«, sagte Zander, während er sich nach der Küste umsah, die nur noch ein schmaler Streifen in der Ferne war. Er konnte bloß hoffen, dass es Tuna und Salmon gelungen war, einige der Fischer gefangenzunehmen.
Pike wischte sich die Hand, mit der er Zander ins Boot geholfen hatte, an der doppelreihig geknöpften Jacke ab. »Sie hätten ihm sowieso nichts verraten.«
»Die Calamaris haben doch nicht etwa etwas zu verbergen?«, erwiderte Zander.
Pikes Lächeln flatterte davon. »Ein gefährliches Thema, Herr Arryba – besonders in Ihrer aktuellen Situation.«
Zander schüttelte lächelnd den Kopf. »Anstatt mir zu drohen, solltest du lieber an dein eigenes Leben denken.« Er deutete auf den Holzboden unter seinen Füßen und formte mit den Lippen das Wort »Nixen«.
Pikes Miene verfinsterte sich noch weiter. Als echter Rybaler und Gusar wusste er natürlich, was das bedeutete. Mit einem Handzeichen gab er Hauki zu verstehen, dass er sich in die Riemen legen sollte. Sein Kamerad stellte keine überflüssigen Fragen, sondern lenkte das Boot mit kräftigen Paddelschlägen Richtung Ufer. In der Ferne konnte Zander die Korunaroga erkennen, die auf Narwals Befehle wartete. Und dahinter waren die stolzen Segel der Seeteufel zu erkennen, die soeben in die Bucht einlief: weiß und gold, die Farben des Paluder Königshauses.
Pike folgte seinem Blick mit den Augen. »Die Seeteufel«, sagte er. »In letzter Zeit scheint sie ständig in Bewegung zu sein.«
Dem konnte Zander nur zustimmen. Er selbst hatte das Schiff in den vergangenen Wochen oft beim Ein- und Auslaufen beobachtet. Ungewöhnlich oft sogar. Während sich der Himmel so langsam azurblau färbte und die ersten Quellwolken am Horizont erschienen, nahm dieser Gedanke in Zanders Geist immer mehr Raum ein: Was trieb das königliche Flaggschiff - oder vielmehr seine Besatzung - bei diesen kurzen Ausflügen? Testeten die Ingenieure eine neue Konstruktion? Eine Verstärkung des Rumpfes? Eine neue Art der Betakelung? Was hatte es damit auf sich?
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