54. Kikermarkt
»Sehen Sie mal, Cyan!«, lachte Iris und wickelte sich in einen hübschen Stoff mit hellblauen Streifen. »Was halten Sie davon?«
Cyan lächelte gutmütig. »Sehr hübsch. Aber das ist jetzt schon der dritte blaue Stoff. Kann es sein, dass Sie eine Schwäche für die Farbe Blau haben?«
»Kann sein«, meinte Iris und ignorierte die leichte Röte, die sich bei diesen Worten in ihre Wangen schlich. Um davon abzulenken, ließ sie ihren Blick über die erlesenen Stoffe, die an diesem Marktstand angeboten wurden, gleiten. Ordentlich gefaltet oder sorgsam aufgerollt warteten sie auf jemanden, der ihr Potential erkannte. Die ganze Straße, die sich unter einem künstlichen Himmel aus hölzernen Gewölberippen und goldgelben Efeuranken erstreckte, war voller Buden, an denen Stoffe und Tücher aus allen Teilen Materras angeboten wurden. Iris hatte keine Ahnung, wie sie sich bei dieser Auswahl entscheiden sollte. Noch dazu wurde es von Minute zu Minute voller. Bald würden sich die Dienerinnen der edlen Damen zwischen den Ständen drängen, um die besten Stoffe kämpfen und mit den Händlern feilschen wie auf einem Aciarischen Basar.
»Wo sind eigentlich Zander, Tuna und Salmon?«, fragte Iris beiläufig. »Als ich heute morgen aufgewacht bin, waren sie schon alle unterwegs. Und in der Bucht waren sie auch nicht.«
»Die drei helfen Hauptmann Narwal dabei, ein paar Schlammfischer dingfest zu machen«, antwortete Cyan und duckte sich, um Iris unter der leuchtend roten Markise des kleinen Marktstandes Gesellschaft leisten zu können. Genau wie sein Vater schien er dieser Welt um ein paar Zentimeter entwachsen zu sein. Türen, Lampen, Spiegel – alles war für seine Bedürfnisse zu tief angebracht. Auf ihrem Weg zum Markt, dem so genannten Kikermarkt, hatte er sich sogar kurz in einer niedrig hängenden Girlande verheddert.
»Das klingt gefährlich«, meinte Iris, legte den gestreiften Stoff zurück und streckte sich nach einem türkisblauen Batist, der sicherlich gut an ihr aussehen würde.
Cyan winkte ab. »Ach was. Die drei passen aufeinander auf.« Er nahm einen waldmeistergrünen Seidenstoff von einem der Stapel und fasste ihn prüfend mit Daumen und Zeigefinger.
Iris warf ihm verstohlene Blicke zu. Sein Gesicht wirkte weich, seine Züge gelöst, der Amorbogen seiner Lippen entspannt, die Sorgenfalten auf seiner Stirn geglättet. Im Sonnenlicht, das durch die Markise hereinfiel, konnte Iris ein paar vereinzelte Sommersprossen auf seinem Nasenrücken ausmachen - ein wunderschöner Makel, den er sich mit seiner Schwester teilte.
Trotz seiner Vorliebe für Alchemie und Novomagica war er ein durchaus attraktiver Junggeselle. Noch dazu äußerst vermögend. Aus diesem Grund gab es auch zahlreiche junge Frauen, die seinen Weg über den Kikermarkt mit den Augen verfolgten und ihm lange, schwärmerische Blicke zuwarfen. Cyan schien die ganze Aufmerksamkeit jedoch eher unangenehm zu sein, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich diese Gefühle nicht anmerken zu lassen. Zweifellos hatte man ihn sein Leben lang auf diese Rolle vorbereitet.
Wenn sie so darüber nachdachte, stellte sich Iris zwangsläufig die Frage, wieso sie nicht auf die gleiche Weise für Cyan empfand wie die anderen Frauen. Er war die logische Wahl: jung, ansehnlich, wohlhabend und wohlerzogen, aber nicht eingebildet oder dünkelhaft. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie fühlte in seiner Nähe nicht das gleiche Flattern in der Magengrube, wie sie es oft in Zanders Anwesenheit spürte. Und dann war da auch noch dieses Bild in ihrem Kopf. Dieses Bild von ihr und Zander. Am Strand. Eng umschlungen. Seit knapp zwei Wochen gelang es ihr nicht, diese Vorstellung aus ihren Gedanken und Tagträumen zu verbannen. Es war geradezu ungerecht.
»Wissen Sie, woher der Kikermarkt seinen Namen hat?«, wechselte Cyan das Thema.
Iris schüttelte den Kopf, befühlte den Batist und stellte sich vor, wie ein Kleid aus diesem Stoff aussehen mochte. Kein einfaches, gerade geschnittenes Kleid, wie es in Myr Ryba so modern zu sein schien, sondern ein üppiges, voluminöses Ballkleid mit Spitze und Rüschen, Volants und Schleifen, wie sie es aus ihrer Heimat kannte. Ein Kleid, das ihre nicht vorhandenen Kurven ins rechte Licht rücken würde.
»Nun, der Kikermarkt hat in Myr Ryba eine lange Tradition«, erklärte Cyan. »Wie Sie sehen, liegt er in einem angesehenen Viertel auf der Rückseite des Fellmonte. Aus dem einfachen Grund, dass viele Tuchhändler befürchten, sie könnten auf dem Weg durch Niederdamm überfallen werden. Diese Ortswahl hat den angenehmen Nebeneffekt, dass sich auch viele feine Damen auf den Markt wagen, um die Einkäufe persönlich zu erledigen.«
Was das anging, musste Iris ihrem Begleiter zustimmen. Zwischen den Ständen flanierten erstaunlich viele Frauen.
»Und weil man das laute Gekicher dieser Damen oft schon früh am Morgen hören kann, hat sich der Name Kikermarkt etabliert«, beendete Cyan seinen kurzen Vortrag.
»Sie geben einen guten Stadtführer ab«, lobte Iris, ließ die Schultern hängen und den Batist zurück auf den Ladentisch gleiten. »Aber was ich jetzt wirklich gebrauchen könnte, wäre die Beratung eines professionellen Schneiders.«
»Ich bin nicht Mael Silka«, meinte Cyan mit einem Blick über die Schulter. In einigen Metern Entfernung hatten sich die Söldner versammelt, die ihnen schon seit dem Verlassen des Anwesens auf Schritt und Tritt folgten. Anscheinend hatte Zander sie beauftragt, Cyan im Auge zu behalten, damit dem jungen Forelli-Erben kein ähnliches Schicksal widerfuhr wie seinem Vater, Gwydion Dan de Potas oder den armen Straßenkindern. Mit einem unterdrückten Seufzer wandte er sich wieder Iris zu. »Aber man sagt mir nach, dass ich einen geradezu untrüglichen Instinkt für Mode hätte.«
»Das glaube ich gern«, meinte Iris mit einem bewundernden Blick auf sein gestärktes Leinenhemd, die kunstvoll geknotete Krawatte, die karierte Weste und den langen, figurbetonten Gehrock. Kein Vergleich mit Zanders altem Mantel. Dabei hätte Zander ihrer Meinung nach nur ein wenig Nachhilfe in Sachen Kleidung nötig, um auf der Straße alle Blicke auf sich zu ziehen. Iris korrigierte sich in Gedanken: Möglicherweise wäre das bei seinem obskuren Tagewerk aber auch eher kontraproduktiv. Als ihr klar wurde, dass sie schon wieder an den zwielichtigen Unterhändler dachte, atmete sie tief durch und wandte sich an Cyan: »Fein. Zu was würden Sie mir raten, Herr Forelli?«
»Kommen Sie«, meinte Cyan statt einer Antwort und führte sie schnellen Schrittes über den Markt zu einem Stand, der halb verborgen zwischen zwei Säulen errichtet worden war. Dort wurde nur eine Handvoll Stoffe angeboten, doch schon auf den ersten Blick konnte Iris erkennen, dass die Ware von erlesener Qualität war: leuchtend bunte Gabardine, weicher Samt, glänzender Satin, zarter Chiffon. »Ist ein Geheimtipp«, erklärte Cyan mit einem diebischen Grinsen, als hätte er ihr soeben einen verborgenen Schatz enthüllt.
Eine Weile besahen sie gemeinsam das wundervolle Angebot und verstiegen sich in allerlei Träumen aus Seide und Organza. Es tat Iris gut, mal wieder ihre Leidenschaft ausleben zu können und es war auch schön, das Funkeln in Cyans Augen zu sehen, wenn er über Kleidung sprach.
»Wie kommt es eigentlich, dass Sie noch nicht verheiratet sind?«, fragte Iris, nachdem sie sich für einen lavendelblauen Chiffon entschieden und Cyan mit dem Verkäufer einen guten Preis ausgehandelt hatte.
Cyan ließ sich auf einem Ziegelmäuerchen nieder, das einen kaskadenförmig verlaufenden Kanal begrenzte. Schäumend wälzte sich das Wasser bergab, in Richtung Stadtmauer. Die Häuser und Straßen in dieser Gegend erinnerten Iris an die Hauptstadt, wenngleich der Hauch von Schnee fehlte, der in Myr Paluda zu jeder Jahreszeit in der Luft lag. »Das fragen sich bestimmt viele«, meinte er und faltete die Hände zwischen den Knien.
Iris winkte einen der Söldner zu sich, damit er sich nützlich machen und ihr Gepäck tragen konnte. »Ja, sicher«, sagte sie. »Ich meine, Sie haben doch bestimmt viele Verehrerinnen.«
Ein tiefer Seufzer wanderte durch Cyans Körper, beginnend bei seinen ineinander verschränkten Händen, hinauf zu seiner eingesunkenen Brust bis zu der männlichen Schulterpartie, die er von seinem Vater geerbt haben musste. Als er sprach, war seine Stimme kaum lauter als das Sprudeln des Wassers, das hinter seinem Rücken durch den Kanal rauschte. »Das ist wohl wahr. Manchmal ist es regelrecht lästig.«
Iris setzte sich zu ihm. Ein feiner Sprühnebel hüllte sie ein. Die Luft kühlte merklich ab, aber es war nicht unangenehm. »Ist es nicht irgendwie auch... ich weiß nicht...« Iris suchte nach den richtigen Worten. »...eine Versuchung?«
Eine feine, kaum wahrnehmbare Röte kroch aus Cyans steifem Kragen. »So würde ich das nicht sagen.« Er wich ihrem Blick aus. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fühle mich geschmeichelt, aber ich... ich...«
»Sie müssen nicht darüber reden, wenn Sie nicht wollen«, sagte Iris rasch, denn sie wollte Cyan unter keinen Umständen bedrängen.
»Nein, nein, es ist ganz angenehm, jemanden zum Reden zu haben«, wehrte Cyan ab.
Iris strich ihren Rock glatt und beobachtete ein kleines Mädchen in einem schneeweißen Sommerkleid, das einige Möwen mit gebratenen Oktopus-Ringen fütterte. Immer mehr Tiere versammelten sich um das Kind. »Was ist mit Zander oder Ihrer Schwester?«
Cyan lächelte traurig. »Trotz seiner Herkunft ist Zander ein guter Mann. Nicht unbedingt ein anständiger Mann, aber warmherziger als man annehmen könnte. Noch dazu hat er sehr gute Augen.« Sein Lächeln bekam eine beinahe grimmige Note. »Für manche Wahrheiten ist er jedoch blind.« Bevor Iris nachhaken konnte, fuhr Cyan fort: »Und meine Schwester möchte ich nicht mit derartigen Angelegenheiten belasten. Sie hat es ohnehin schon schwer genug.«
»Das kann ich verstehen«, erwiderte Iris, während das kleine Mädchen die Oktopus-Ringe wegwarf und herumfuhr, um vor den aufdringlichen Möwen zu fliehen. Sie kam jedoch nur ein paar Schritte weit, bevor sie über eine Unebenheit des Straßenpflasters stolperte und auf die Knie fiel. Ihr Heulen steigerte sich zu einem Kreischen. Sofort kam eine ältliche Gouvernante angestürmt, um dem Kind aufzuhelfen. Bis auf eine kaputte Strumpfhose und ein aufgeschürftes Knie schien sich das Mädchen jedoch nichts getan zu haben. »Dann haben Sie niemanden, mit dem sie wirklich reden können?«
Cyan beobachtete ebenfalls das Mädchen und ihre Gouvernante. Als die ältere Dame mit dem Kind zu schimpfen begann, verdüsterte sich seine Miene, als würden dadurch unangenehme Erinnerungen heraufbeschworen. »Nun, manchmal kann ich mit Omul reden. Das ist unser Hausdiener. Derzeit begleitet er jedoch meine Stiefmutter auf ihrer Reise nach Erdhav.« Er presste die Lippen aufeinander und verschränkte seine Hände noch fester ineinander. »Es ist mir unangenehm, das zuzugeben, aber als ich Sie das erste Mal sah... als wir über Ihren Hut und Mael Silka sprachen, da dachte ich, wir könnten vielleicht Freunde werden. Oder sogar mehr als das.«
»Und jetzt denken Sie das nicht mehr?«, entgegnete Iris.
Die Röte auf Cyans Gesicht vertiefte sich. »Ich denke, ich habe mir das nur gewünscht, damit Vater endlich Ruhe gibt.« Mit verzerrter Miene ergänzte er: »Wissen Sie, er bewundert Frauen wie Sie. Ich könnte mir vorstellen, dass er dieser Verbindung nicht ablehnend gegenüberstünde.«
»Aber jetzt da Ihr Vater in diesem Zustand gefangen ist...«, begann Iris.
Cyan nickte. »Ich glaube nicht, dass ich mich schon bereit für die Ehe fühle.« Sein Blick flackerte. »Mir ist klar, dass ich vermutlich nicht aus Liebe heiraten werde. Schon allein, weil meine Familie viel zu verlieren hat. Aber ich will auch nicht einfach irgendjemanden ehelichen.«
Diese Gedanken kannte Iris nur zu gut. Vermutlich wurden viel zu viele Menschen mit derartigen Fragen und Sehnsüchten um den Schlaf gebracht. Doch wieso eigentlich? Wieso mussten so viele junge Männer und Frauen auf die Liebe verzichten, nur um die Familie und die Traditionen zu ehren? Oder schlimmer noch: um den Wohlstand zu wahren? Wenn sie Cyan so ansah, erinnerte er sie an ihren Bruder Lavender, der sich bis heute schwertat, seine Pflichten zu erfüllen.
»Jetzt ist es aber genug von mir«, entschied Cyan. »Wir sollten diesen wunderschönen Tag nicht mit unschönen Gedanken beschmutzen.« Er schielte an Iris vorbei zu den Söldnern. »Ich habe unseren Begleitern gesagt, dass wir planen, Arvelut aufzusuchen, die beste Schneiderei in Ryba. Die liegt gleich da vorne hinter diesem großen Palais. Das bedeutet, sie werden dort nach uns suchen, sollten sie uns verlieren.«
»Was haben Sie vor?«, hauchte Iris.
Cyan grinste. »Ich wollte schon immer mal herausfinden, wie es sich anfühlt, vor Verfolgern zu flüchten.«
Als Iris klar wurde, was er meinte, erwiderte sie sein Grinsen. »Ich denke, in dieser Hinsicht bin ich Ihnen weit voraus.«
»Na, kein Wunder«, lachte Cyan. »Sie verbringen zu viel Zeit mit Zander, Tuna und Salmon.«
Iris stimmte in sein Gelächter mit ein. Dann wurde sie schlagartig ernst. »Wer die Schneiderei zuletzt erreicht, muss den Abendspaziergang mit Seestern übernehmen.«
Feuereifer entflammte in Cyans Augen. »Zu einem guten Handel konnte ich noch nie nein sagen. Das ist vielleicht das einzige, das Vater und ich gemeinsam haben.«
Iris blickten zu den Söldnern, die so langsam misstrauisch zu werden schienen. Sie wusste, dass sie sofort handeln musste, wenn sie sich vor dem ungeliebten Abendspaziergang drücken wollte. »Hey!«, rief sie den Männern zu und deutete mit ausgestrecktem Arm in die entgegengesetzte Richtung. »Sind das Pike und Hauki?«
Die Finte war nicht besonders originell, aber sie funktionierte. Ihre Bewacher wandten kollektiv die Köpfe und Iris nutzte die Gelegenheit, um aufzuspringen und loszulaufen. Cyan folgte ihr lachend.
Hintereinander stürzten sie sich in das Gedränge zwischen den Marktständen. Im Eifer des Gefechts rempelte Iris ein junges Fräulein an, das daraufhin ihren Korb fallen ließ und einen empörten Laut ausstieß. Sie kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern rannte einfach weiter. Rücksichtslos wie ein Kind suchte sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge. Im Gegensatz zu ihrem ersten Tag in Ryba, als man sie durch die Gassen der Stadt gejagt hatte, spürte Iris diesmal ein wohliges Kitzeln im Nacken. Sie schnappte sich ein gelbes Tuch von einem der Stände und wickelte es sich um die Schultern. Dann verlangsamte sie ihr Tempo und verschwand in einer der abzweigenden Straßen.
Endlos schlängelte sich die kleine Gasse durch das gepflegte Straßenviertel. Elektrische Leitungen und Girlanden kreuzten über ihrem Kopf. In den Fenstern hingen Blumen- und Kräutersträuße als irdische Gaben für das bevorstehende Sommersonnenwendenfest. Obwohl es in einem derart ordentlichen Viertel keinen wirklichen Grund zur Sorge gab, beschlich Iris schon bald ein komisches Gefühl. Sie verlangsamte ihre Schritte noch weiter und strengte alle ihre Sinne an. Die Mauern der hochherrschaftlichen Villen rückten in ihrer Fantasie näher zusammen. Sie spürte die Enge, als würde die Luft um sie herum zusammengepresst, was ihr das Atmen schwer machte. Ein kalter Luftzug kitzelte ihren Nacken und sie vermeinte, den Klang ledriger Flügel zu vernehmen. Gleichzeitig stieg ihr der verdorbene Gestank von Novomagica in die Nase. Der böse Geist von Ryba, sprach Hauki in ihren Gedanken. Instinktiv rannte sie los. Das gelbe Tuch löste sich von ihren Schultern und verfing sich an den Spitzen eines hohen Eisenzauns.
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