5. Der schwarze Stichling ⋆
Die Männer zogen ihren Kreis um Iris enger. Sie wussten, dass sie ihre Beute sicher hatten und ließen sich Zeit.
Iris dämmerte so langsam, dass es ihnen nicht mehr nur um Rache für ihren Freund und Kollegen ging, sondern dass sie Gefallen an der Idee gefunden hatten, ihr scheinbar hilfloses Opfer leiden zu lassen.
Entschlossen, es nicht dazu kommen zu lassen, fasste Iris nach dem Pressing an ihrem Gürtel. Die kleine, vergoldete Kugel war das Geschenk eines befreundeten Alchemisten. Iris wusste nicht genau, was geschehen würde, wenn sie die Waffe auf den Boden schleuderte, nur, dass es verheerend sein würde. Wie eigentlich alles, was Alchemisten erschufen. Aus diesem Grund hatte man diese Berufsgruppe in Myr Paluda auch zu den Abdeckern und Köhlern außerhalb der Stadtmauern verbannt. Die Gefahr, dass sie etwas in Brand steckten oder in die Luft jagten, war einfach zu groß. Ein bekannter Witz lautete nicht umsonst: Welches dieser unglaublichen Wesen gibt es nicht? Das einsame Einhorn, den roten Riesenkraken oder den alten Alchemisten?
»Keinen Schritt weiter«, warnte Iris die Männer, löste den Pressing von ihrem Gürtel und hielt ihn hoch, sodass sich das Mondlicht in seiner glatten Metallhülle fing. »Keinen einzigen Schritt weiter«, wiederholte sie, als sie sich der Aufmerksamkeit ihrer Angreifer gewiss war. »Oder ihr werdet alle sterben.« Das war vermutlich etwas zu dick aufgetragen, aber bei einem Alchemisten konnte man nie so genau wissen.
Der Narbige spuckte aus. Manchmal hatte Iris den Verdacht, dass dieses Ausspucken unter Männern eine Art soziales Signal darstellte. Vermutlich wurde darüber die Rangfolge innerhalb des Rudels geregelt wie durch die Schwanzhaltung bei Wölfen. »Ich hätte da auch zwei Bälle, mit denen du spielen kannst«, sagte er, was allgemeine Belustigung hervorrief. Vom Gelächter angestachelt, ergänzte er: »Die explodieren auch, wenn du sie anfasst.«
Wenn er erwartet hatte, Iris könnte bei der Erwähnung seiner Genitalien rot anlaufen und sich beschämt abwenden, wie es von einer jungen Dame aus gutem Hause erwartet wurde, dann hatte er sie entweder unter- oder überschätzt. »Kann ich mir sehr gut vorstellen«, konterte sie. »Es kommt wahrscheinlich nicht oft vor, dass dich jemand anfasst, du Ekelpaket!«
Ihr Spott stieß bei dem Narbigen und seinen Kumpanen nicht direkt auf Gegenliebe. Seine Miene verfinsterte sich und er fasste das Messer fester, bereit, es Iris in die Brust zu stoßen.
Was ihn davon abhielt, war ein dunkles, etwas heiser klingendes Gelächter, das von einem höhnischen Klatschen begleitet wurde.
Iris' Angreifer wandten kollektiv die Köpfe. Ein ehrfürchtiges Raunen wanderte durch die Gruppe. Dann wichen die Männer auseinander, sodass Iris sehen konnte, wer ihnen diesen Respekt abnötigte.
Zu ihrer Überraschung war es eine Frau, auch wenn sie zugeben musste, dass ihr noch nie ein weibliches Wesen begegnet war, das auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit der Fremden besaß. Sie war groß, schlank, mit breiten Schultern, einem kupferfarbenen Teint und wallenden, pechschwarzen Haaren, die ihr weit über den Rücken fielen. Ihr Gesicht war schmal, die Nase leicht gekrümmt, die kohlschwarz umrahmten Augen standen schräg wie bei einer Raubkatze.
Neben ihrem Gusarischen Aussehen war das Auffälligste an der Fremden ihre Kleidung: Sie trug eine eng geschnittene Hose, deren untere Enden in weiten Wildlederstiefeln steckten, ein dunkles Mieder über einer weißen Bluse und einen breitkrempigen Hut mit einer langen Feder daran. In Trandafir, aber auch im fortschrittlicheren Myr Paluda, war es für Frauen undenkbar, Hosen zu tragen. Selbst Iris mochte den Gedanken nicht, sich derart vor der Allgemeinheit zu entblößen.
»Warum guckst du so, Jeseter?«, fragte die Frau und kam mit selbstsicheren Schritten näher. Dabei bemerkte Iris den verschnörkelten Griff eines Paradesäbels, dessen Scheide an ihrem Gürtel befestigt war. »Die Dame hat doch recht. Bei deinem Lohn wirst du es dir wohl kaum leisten können, dich regelmäßig anfassen zu lassen.«
Der Narbige schien etwas Beleidigendes erwidern zu wollen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als die dunkelhaarige Frau die Spitze ihres Säbels auf seine Kehle richtete. Die Bewegung, mit der sie die Waffe gezogen hatte, war so schnell gewesen, dass Iris sie gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Allerdings hing das leise Klirren, mit dem die Klinge über das Metall am Scheidenmund geglitten war, noch in der Luft.
»Und dass das jemand freiwillig übernehmen würde, wage ich doch zu bezweifeln«, fuhr die Fremde fort, wobei sie die Männer abschätzend betrachtete, als fragte sie sich, in welcher Reihenfolge sie ihnen die Hälse durchschneiden sollte.
»Woher solltest du das auch wissen, schwarzer Stichling?«, presste der Narbige heraus. »Was man so hört, spielst du nicht mit Bällen, sondern nur mit Austern.«
Die Dunkelhaarige lächelte sardonisch und verstärkte den Druck ihrer Klinge auf seinen Hals. »Das stimmt, Jeseter. Ein Vergnügen, das dir niemals zuteil werden wird.« Sie senkte die Waffe und säuselte: »Aber wenn ich dir die Bälle und den Aal abschneide, stellt dich Fräulein Ondine vielleicht als Aufpasser für ihre Mädchen ein. Dann könntest du ihre Austern wenigstens aus der Ferne bewundern.«
Für Iris' Geschmack geisterten nun eindeutig zu viele schlüpfrige Anspielungen durch die Dunkelheit. Sie räusperte sich vernehmlich.
Der Blick der Fremden wanderte erst zu ihrem angespannten Gesicht, dann zu der goldenen Kugel, die sie noch immer in der Hand hielt, bereit, die friedliche Nacht in ein tosendes Flammeninferno zu verwandeln, wenn man sie dazu nötigte. »Steck' deine Waffe weg, Püppchen«, sagte sie. »Und komm' zu mir. Diese Kerle werden dir kein Haar krümmen, wenn sie wissen, was gut für sie ist.«
Der Narbige schien seinen Zorn mühsam herunterzuschlucken. Heiß brannte sein Blick auf Iris' Haut, als sie den Pressing wieder an ihrem Gürtel befestigte, ihren Rock zusammenraffte und sich durch die Reihen ihrer Angreifer bewegte, um sich der fremden Frau anzuschließen, die die Männer noch immer mit ihrem Säbel bedrohte. »Geh' weiter«, forderte sie Iris auf, ohne sich von der Stelle zu bewegen. »Du wirst schon erwartet.«
Verunsichert setzte Iris ihren Weg fort, durchquerte den Innenhof und tauchte in den tiefschwarzen Schatten des Torbogens ein. Auf der anderen Seite des Durchgangs stand eine prächtige Stadtkutsche: zwei Pferde, zwei Achsen und eine Kabine mit Platz für zwei Personen. Als Kütschchen hatte Iris diese Gespanne als Kind immer bezeichnet, weil sie aus ihrer Heimat nur die schweren Lastkutschen und Mehrspänner kannte, die für die Feldarbeit oder weite Reisen benötigt wurden.
Eine flackernde Gaslaterne, die über dem verlassenen Kutschbock angebracht war, spendete gerade genug Licht, dass Iris den Mann erkennen konnte, der an der geschlossenen Kabinentür lehnte und bei ihrem Eintreffen den Saum seines edlen Brokat-Gehrocks richtete. Auch ansonsten war er makellos gekleidet und zurechtgemacht, von den Spitzen seines nussbraunen, im Nacken zu einem kurzen Zopf gebundenen Haares, bis zu den erlesenen Schnallenschuhen, die der neuesten Paluder Mode entsprachen.
»Guten Abend?«, fragte Iris vorsichtig.
Der Mann blickte auf. Sein Gesicht war warm, freundlich, für Iris' Geschmack ein wenig zu weich, aber trotzdem sehr angenehm.
Diesen ersten Eindruck bestätigte auch sein charmantes Lächeln. »Fräulein Dan de Lion, nicht wahr?«, fragte er, während er noch einmal mit einer resoluten Bewegung über seinen Gehrock strich und ihr dann die Hand reichte. Als Iris seine Hand annahm, vollführte er eine formvollendete Verneigung, wobei er ihren Handrücken an seine Lippen führte und ihr ohne Scheu in die Augen blickte. »Darf ich mich vorstellen? Cyan Forelli, zu Ihren Diensten.«
»Iris Dan de Lion«, sagte Iris, zog ihre Hand zurück und erwiderte die Höflichkeit mit einem angedeuteten Knicks. Es war ein gutes Gefühl, sich in vertraute Rituale und Gesten flüchten zu können, während ihr Kopf noch damit beschäftigt war, herauszufinden, woher sie den so vertraut klingenden Namen des Mannes kannte. »Sie sind doch der älteste Sohn von-«
»Der einzige Sohn vom berühmten Fischkonserven-Forelli und daher Erbe der Forelli-Familie, wenn mich die Götter nicht davor bewahren sollten«, korrigierte Cyan gut gelaunt.
Iris blickte sich um. Die Gasse, in der sie sich befanden, war leer. Nur der langsam dichter werdende Nebel schien ihnen zuzuhören. »Ich habe morgen einen Termin bei Ihrem Vater.«
»Dessen bin ich mir wohl bewusst«, sagte Cyan, fasste hinter sich und zog Iris' Hut hervor, den sie bei ihrem Kampf mit dem Hünen oder bei ihrer Flucht durch das Hafenviertel verloren haben musste. »Der gehört Ihnen, nicht wahr?«
Irritiert sah Iris zwischen seinem freundlichen Gesicht und dem Filzhut, der mit einer violetten Schwertlilie aus Seidenplüsch verziert war, hin und her. »Oh ja, vielen Dank. Was ein Glück!«, ergänzte sie überschwänglich. »Dieser Hut ist sehr wertvoll für mich. Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Auf der Straße«, antwortete Cyan, wobei er den Hut von allen Seiten betrachtete. »Eine Maßanfertigung, nehme ich an? Von Mael Silka vielleicht?«
»Sie kennen Mael Silka?«, hauchte Iris, nahm den Hut und klemmte ihn sich unter den Arm.
Als bemerkte ihr Körper erst jetzt, dass sie sich endgültig in Sicherheit befand, spülte eine Welle der Erleichterung über sie hinweg. Sie dachte an ihren letzten Termin bei Mael zurück, an das wunderschöne, extra für sie geschneiderte Volantkleid, das sie zum Herbsttanz in Trandafir getragen hatte. Damals hatte sie sich wie eine Königin gefühlt. Die Männerherzen waren ihr regelrecht zugeflogen, doch sie hatte die einfältigen Söhne der reichen Grundbesitzer und ihre eingebildeten Väter einfach ignoriert und stattdessen bis zum Morgengrauen getanzt. So lange bis sich ihre Beine weich wie Pudding angefühlt hatten und sie völlig erschöpft und komplett angezogen in ihr Bett gefallen war, sehr zum Ärger von Poppy, ihrer Kammerzofe, die sie sich mit ihrer Mutter teilen musste.
Cyan schmunzelte. »Natürlich kenne ich Mael. Die feinsten Seidenstoffe in ganz Myr Paluda.«
Aus dem dunklen Durchgang, den Iris soeben verlassen hatte, drangen gedämpfte Schmerzensschreie an ihre Ohren. Nur Sekunden später trat die schwarzhaarige Frau aus der Finsternis. Im Gehen wischte sie ihren blutverschmierten Säbel mit einem schwarzen Seidentuch ab.
»Fräulein Dan de Lion«, meinte Cyan. »Das ist Tuna, meine Leibwächterin. Auch genannt: der schwarze Stichling.«
»Die Leibwächterin Ihrer Schwester«, korrigierte die Frau scharf und ließ ihre Klinge wieder zurück in die dazugehörige Scheide gleiten.
»Haben Sie sie getötet?«, fragte Iris und konnte nicht verhindern, dass sie sich beim Gedanken an das Blutvergießen verkrampfte.
Tuna blickte über ihre Schulter. »Nein. Ich habe Jeseter lediglich ein kleines Andenken verpasst«, erklärte sie unbekümmert. »Damit er sich daran erinnert, was ich mit ihm machen werde, wenn ich ihn noch einmal in so einer Situation erwische.«
Ihre Worte beruhigten Iris nicht gerade. Angesichts der Tatsache, dass sie erst vor Kurzem einen Mann getötet hatte, mochte es vielleicht seltsam klingen, aber sie war keine Verehrerin oder Verfechterin von Brutalität. Sie selbst setzte Gewalt nur ein, wenn sie ihr Leben in Gefahr glaubte, aber bei Tuna wirkte es beinahe, als hätte diese Spaß daran.
»Kommen Sie«, sagte Cyan sanft. »Sie wollen doch morgen früh frisch und ausgeschlafen sein.« Er nickte Tuna hinter Iris' Rücken zu. »Wir werden Sie zu Ihrer Herberge bringen.«
Tuna spielte mit dem silbernen Griff ihrer Waffe und seufzte. »Machen Sie, was Sie wollen, Herr Forelli. Ich muss noch etwas anderes erledigen.«
»Und das wäre?«, fragte Cyan, während er die Tür zur Kabine öffnete und Iris die Hand anbot, damit sie sich beim Einsteigen auf ihn stützen konnte. Auch wenn er nicht adeliger Herkunft war, verhielt er sich wie der perfekt erzogene und makellos gekleidete Edelmann, den sich ihre Mutter für Iris gewünscht hätte. Ganz davon abgesehen, dass er als Erbe des Forelli-Imperiums auch noch unsagbar reich war.
»Zander ist schon vor Stunden zum Anwesen der Karpi-Familie aufgebrochen«, antwortete Tuna und stocherte widerwillig mit einer Spitze ihres Stiefels in einer Lücke im Straßenpflaster. Im unsteten Schein der kleinen Gaslaterne konnte Iris erkennen, dass ihre schmalen Augen von der Farbe eines aufgewühlten Ozeans waren. Reines Gusarenblut, dachte sie und geriet kurz ins Schwärmen. Piratengeschichten waren eine geheime Leidenschaft von ihr. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was da so lange dauert«, fuhr Tuna fort.
Cyan lächelte milde. »Zander ist nun wirklich der letzte Mensch, um den du dir Sorgen machen musst. Er wird mit allem fertig, ganz egal, was es ist.«
»Ich weiß«, erwiderte Tuna. »Aber die Lage ist sehr angespannt. Alle verlieren wegen dieser Fischlieferungen nach Myr Arbaro den Verstand.« Sie verdrehte die Augen. Anscheinend konnte sie mit den Geschäften der Familie nicht viel anfangen. »Und Zander steht bei dieser Schlacht nun einmal an der Frontlinie. Ich werde also besser ein Auge auf ihn haben.«
Bei diesen Worten bewegte sie sich langsam rückwärts, nahm ihren Hut ab und schwenkte ihn wie ein Galant, der einer Dame imponieren wollte. »Wir sehen uns morgen, Herr Forelli.« An Iris gewandt, fügte sie hinzu: »Euch, Fräulein, wünsche ich eine geruhsame Nacht und viel Erfolg dabei, den alten Schwerenöter zu überzeugen.« Dann drehte sie sich um und spazierte zügig davon. Als sie in den Nebel eintauchte, verstummten ihre Schritte und es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
»Hat sie gerade von Herrn Rogner Forelli gesprochen?«, fragte Iris, die sich über den lockeren Tonfall zwischen Herrschaft und Dienerschaft doch sehr wunderte.
Cyan gab ein leises Geräusch von sich, das ein Stöhnen oder auch ein Seufzer sein konnte. »Tuna ist ... nun ja, speziell. Dass sie ihn einen Schwerenöter genannt hat, sollten Sie meinem Vater morgen vielleicht besser nicht verraten.«
»Nein, das werde ich nicht«, versprach Iris, während sie mit Cyans Unterstützung in die Kutsche kletterte.
Wie nicht anders erwartet, war der Innenraum der Kabine hochwertig ausgestattet. Besonders imponierten ihr die dunkelroten Samtbezüge der Sitzgarnitur, die wie aus einer einzigen Stoffbahn gefertigt wirkten. Es roch angenehm nach Lavendel und Pfingstrose. Ein eher weiblicher Duft, erkannte Iris und fragte sich, ob er zu Cyans Schwester gehörte oder zu Morena Forelli, der neuen Frau an der Seite des Familienoberhaupts.
Cyan schwang sich mit einer geschmeidigen Bewegung in die Kabine und zog die Tür hinter sich zu. »Wo kann ich Sie hinbringen?«
»Das Gasthaus heißt Zur wartenden Nixe«, erklärte Iris, nahm ihren Hut auf den Schoß und zupfte ihren Rock zurecht. Dabei wurde sie sich wieder ihrer unordentlichen Frisur und ihrer zerrissenen Jacke bewusst. Schnell legte sie die Arme um die Brust, um sich zu bedecken. »Kennen Sie das?«
Ihr Sitznachbar betrachtete sie, als hätte er es mit einer besonders seltsam geformten Kartoffel zu tun. »Myr Ryba mag auf Außenstehende wie eine Metropole wirken, aber ich versichere Ihnen, in ihrem Herzen ist die Stadt ein Dorf«, sagte er, beugte sich vor und klopfte gegen die Kabinenwand. Sofort setzte sich die Kutsche in Bewegung.
Iris warf ihm einen überraschten Blick zu. »Aber ... wer lenkt denn die Kutsche?«
»Das, Verehrteste ...«, erwiderte Cyan mit einem Augenzwinkern. »... ist Magie.«
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