3. Fischfutter ⋆
Iris kam nur wenige Straßenecken weit, dann gaben die Beine unter ihr nach und sie sank zwischen einem alten Karren und einem heruntergekommenen Bretterverschlag zusammen. Ihre Knie zitterten heftig und trotz der feuchtkalten Luft stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Zum Schutz vor der Welt zog sie die Beine eng an den Körper und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie wollte weinen, um ihre marternde Anspannung loszuwerden, doch ihr ruheloser Geist wollte ihr diese Erleichterung nicht zugestehen.
Während ihr Körper von trockenen Schluchzern geschüttelt wurde, kehrte sie in Gedanken zurück ins Jahr 451. Damals war sie gerade fünfzehn Jahre alt gewesen. Anders als ihre vier Brüder hatte sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend in Myr Paluda, der Hauptstadt von Materra, zugebracht und nicht auf dem Stammsitz ihrer Familie in Trandafir. Im Gegensatz zur großen Stadt herrschte auf den Land noch die Ansicht, dass Frauen früh verheiratet und mit einer großzügigen Mitgift ausgestattet gehörten. Eine dieser beiden Anschauungen – Iris war sich nicht sicher, welche – hatte ihren Vater dazu veranlasst, seine einzige Tochter in einer modernen Großstadt aufwachsen zu lassen, weit weg vom altmodischen Landleben.
Iris hatte eine fortschrittliche Schule besucht und neben dem klassischen Schulwissen auch gelernt, dass Frauen alles erreichen konnten, was für Männer selbstverständlich zu sein schien. Ihre mehr als aufgeschlossene Großmutter hatte zusätzlich dafür gesorgt, dass sie sich durchzusetzen und zu verteidigen wusste. Und Iris war immer eine gelehrige Schülerin gewesen – jedenfalls, was Sprachen und Selbstverteidigung anging. In ihrer grenzenlosen, jugendlichen Naivität hatte sie jedoch nie geglaubt, diese Fähigkeiten auch einsetzen zu müssen.
Bis zum Jahr 451, als sie gemeinsam mit einer Freundin auf dem Weg nach Trandafir in einen Hinterhalt geraten war. Den Banditen war es irgendwie gelungen, die Leibwächter, die ihr Vater für die Dauer der Reise engagiert hatte, auszuschalten, noch ehe Iris und ihre Freundin überhaupt bemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte.
Iris erinnerte sich noch gut an das Entsetzen, das sie empfunden hatte, als ihre Kutsche unerwartet zum Stillstand gekommen war und kurz darauf ein bärtiger Wilder die Tür aufgerissen hatte. Es war, als wäre dieser Moment in ihrem Innern festgefroren.
Doch anstatt das Eis aufzuschlagen, hatte Iris in den vergangenen Jahren dicke Mauern und tiefe Burggräben um diese furchtbare Erinnerung gezogen. Sie wollte den in der Zeit erstarrten Moment nicht anrühren. Zu groß war ihre Angst davor, dass er weitere Momente, grauenhafte Bilder und hilflose Gefühle, aus ihrem Innern heraufbeschwören könnte.
Schon kurz nachdem man sie blutverschmiert und völlig desorientiert auf dem Land eines befreundeten Adeligen aufgegriffen hatte, hatte Iris mit sich selbst vereinbart, dass sie nur auf eine einzige Weise an den schrecklichen Vorfall zurückdenken würde: Als den Moment, in dem sie beschlossen hatte, um ihr Leben zu kämpfen, ganz egal, was es sie kostete.
Ganz egal, was es mich kostet, wiederholte Iris flüsternd, während sie langsam vor und zurück schaukelte, als wollte sie sich selbst in den Schlaf wiegen. Du hast gelernt zu kämpfen und zu töten, wenn es sein muss. Es ist nicht das erste Mal, dass du dich so fühlst. Du wirst dafür sorgen, dass es vorübergeht. Ganz egal, was es dich kostet.
Nach einer Weile verflüchtigte sich ihre Panik wieder. Nicht, weil sie tatsächlich verschwand. Vielmehr kroch sie tief in ihr Inneres und verfestigte sich dort zu einem weiteren Eiskristall. Ein weiterer Moment, den sie bewachen und beschützen musste, damit es nicht zu einer fatalen Kettenreaktion kam, die sie vermutlich in eine Anstalt bringen würde.
Mit dem Handrücken wischte sie sich das Blut des toten Hünen von den Lippen, dann zog sie sich an einem Astloch des Bretterverschlags auf die Beine. Ein dumpfes Grunzen drang aus dem dahinterliegenden Schweinestall. Erst jetzt fiel ihr der widerliche Gestank nach Ausscheidungen und Unrat auf, der die Gasse erfüllte. Diesen Geruch kannte Iris von den Höfen in Trandafir, die von den Pächtern ihrer Familie bewirtschaftet wurden.
Als Kind hatte sie dort oft mit den anderen Landkindern gespielt, ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft. Sehr zum Ärger ihrer konservativen Mutter, die es am liebsten gesehen hätte, wenn Iris schon früh einen adeligen Edelmann geheiratet und ihrer Familie damit direkten Zugang zum Hof von König Fridur verschafft hätte.
Iris war ihrem Vater sehr dankbar, weil er seiner Frau von vorneherein klargemacht hatte, dass er Iris zu nichts zwingen würde, erst recht nicht zu einer ungewollten Hochzeit.
Langsam die Beherrschung zurückgewinnend, strich Iris ihren Rock glatt, richtete ihr Haar, ihr Dekolleté und zog die kaputte Jacke enger um sich. Ihren Hut musste sie während des Überfalls oder kurz danach verloren haben.
Der Nebel, der durch die engen Gassen des Hafenviertels waberte, wurde immer dichter.
Zu allem Überfluss hatte Iris keine Ahnung, wo sie sich befand oder wie sie die Herberge, in der sie sich für die Nacht einquartiert hatte, erreichen konnte. Vermutlich war es am besten, wenn sie zunächst zum Goldenen Hummer zurückkehrte. Von dort musste sie bloß den Weg zurückgehen, den sie am späten Nachmittag genommen hatte.
Iris drehte sich im Kreis und ließ ihren suchenden Blick über die umstehenden Fachwerkhäuser, ihre schiefen Schindeldächer und das feucht glänzende Straßenpflaster wandern.
Ernüchtert musste sie feststellen, dass sie nicht einmal mehr wusste, wie sie zurück zum Hafen gelangen sollte. Es fühlte sich an wie früher, wenn sie auf dem honiggoldenen Damast-Sofa im Studierzimmer ihres Vaters, leicht benommen vom würzigen Geruch seiner abendlichen Pfeife, eingeschlafen und später in ihrem eigenen Zimmer wieder aufgewacht war. Nur, dass ihre Desorientiertheit diesmal nicht einfach wieder verschwand.
Na schön, sagte sie zu sich selbst, presste die Lippen zusammen, sprach sich noch einmal Mut zu und wandte sich dann in die Richtung, aus der der Nebel zu kommen schien.
Tatsächlich gelangte sie auf diese Weise zurück zur Hafenpromenade.
Auf ihrem Weg begegnete sie nur einem Laternenanzünder, der mit einem langen Zündstab von Laterne zu Laterne marschierte. Er grüßte sie mit einer ehrerbietigen Verbeugung, die Iris mit einem zögerlichen Lächeln und einem knappen Nicken erwiderte. Ohne ihre Berufstracht oder ihre Knöppchen musste man sie für eine gewöhnliche Dame aus gutem Hause halten, was seine ganz eigenen Vor- und Nachteile mit sich brachte. Iris war sich bewusst, dass sie sich mit ihrer adeligen Familie und ihrer guten Ausbildung in der privilegierten Situation befand, sich aussuchen zu können, ob sie aufgrund ihrer Abstammung oder ihrer Leistung respektiert werden wollte. Persönlich wäre sie natürlich lieber aufgrund ihrer Fähigkeiten geachtet worden, aber ein dezenter Hinweis auf ihre wohlhabende Verwandtschaft konnte manchmal recht nützlich sein, um Türen zu öffnen, die anderen Frauen verschlossen blieben.
Während Iris über die verlassene Hafenpromenade eilte, die von zahlreichen kleinen Fischerbooten gesäumt wurde, genoss sie die salzige Meeresbrise und den Anblick des weiten Ozeans. Sanft schaukelten die kleinen Barken auf den niedrigen Wellen. In der Ferne blitzte in regelmäßigen Abständen das Licht des stadteigenen Leuchtturms auf, den die Einheimischen den alten Lutz nannten.
Meter für Meter klärte sich ihr Kopf und sie erlangte ihre natürliche Zuversicht und Souveränität zurück. Ihre Schritte wurden ausgreifender und selbstsicherer. Sie hob das Kinn und drückte den Rücken durch, so wie man es ihr beigebracht hatte, um in der feinen Gesellschaft nicht aufzufallen.
Ihr Optimismus hielt jedoch nicht lange an. Als sie die Gegend erreichte, in der das Gasthaus Zum Goldenen Hummer lag, bemerkte sie eine bedrohliche Versammlung angetrunkener Männer. Anscheinend waren die Berufskollegen ihres Angreifers auf dessen unrühmliches Ableben aufmerksam geworden. Ganz offensichtlich hatten sie die Hutnadel gefunden und daraus die richtigen Schlüsse gezogen, denn als einer der Männer Iris entdeckte, stieß er einen lauten Schrei aus und deutete mit ausgestrecktem Arm in ihre Richtung.
Iris erstarrte zu einer Salzsäule. Der Atem stockte ihr in der Kehle.
Den Männern schien es genauso zu ergehen. Allerdings nur für ein paar Sekunden, dann verwandelten sie sich in ein Rudel wilder Wölfe und stürzten los, um Iris für ihre Tat zur Rechenschaft zu ziehen.
Iris fuhr herum und rannte zurück in das Geflecht enger Gassen, aus dem sie gerade erst gekommen war. Die Absätze ihrer Stiefel klackerten auf dem unebenen Straßenpflaster, das Herz hämmerte in ihrer Brust und feuchter Nebeldunst verschleierte ihre Sicht. Sie bog um mehrere Häuserecken, verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Versteck. Einmal wäre sie beinahe auf dem nassen Untergrund ausgeglitten, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig am Stand eines Schuhputzers abfangen. Die Schritte ihrer Verfolger kamen immer näher.
Das Kitzeln der Panik im Nacken, glitt Iris durch ein Hoftor und kauerte sich im dahinterliegenden Innenhof zwischen altem Gerümpel und Stroh an eine kalte Steinmauer. Doch noch ehe sie dazu kam, ein Stoßgebet zur Göttin Eydna zu senden, wurden die Fensterläden über ihr aufgerissen.
»Hey! Was machen Sie denn da?«, ertönte eine Stimme, die dem Klang nach zu urteilen, einer älteren Dame gehören musste.
Iris legte den Kopf in den Nacken und presste sich einen Finger an die Lippen, aber da war es schon zu spät.
Mehrere Männer betraten den Innenhof.
»Da ist sie ja«, sagte einer von ihnen, ein kleiner, breitschultriger Mann mit lichtem Haar und einer auffälligen Narbe am Kinn. Genau wie seine Kollegen war er in die blauen Farben der Handwerker-Gilde gehüllt und trug einige bunte Knöppchen am Kragen seiner weiten Jacke.
Iris sah ein, dass es nichts brachte, sich noch länger zu verstecken, verbarg ihre Furcht hinter der Fassade einer professionellen Adelstochter, richtete sich auf und tat das, was ihre Mutter getan hätte. »Was wollen Sie von mir?«, fuhr sie die überrumpelten Männer an. »Wie kommen Sie dazu, eine Dan de Lion im Dunkeln zu verfolgen?«
»Halt dein Maul«, erwiderte der Narbige.
»Du blubberst ja wie ein Karpfen!«, ergänzte einer seiner Kollegen.
Der Narbige zückte ein kleines Messer, dessen Klinge im Schein der einzige Laterne, deren Licht bis in den Innenhof reichte, gefährlich aufblitzte. »Das hier ist eine freie Stadt. Deine hübschen Titelchen bedeuten hier gar nichts. Und deswegen wirst du auch dafür bezahlen, was du Butt angetan hast.«
»Er hat mich angegriffen«, entgegnete Iris scharf, während sie sich ihre Chancen, im Kampf gegen die Männer zu bestehen, ausrechnete. Auch wenn Mathematik nie ihre Stärke gewesen war, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie ein Wunder brauchen würde, um lebend aus dieser Situation zu entkommen.
»Das geschieht Ihnen recht«, rief die Dame von oben. »Kein anständiges Mädchen würde sich um diese Uhrzeit noch auf der Straße herumtreiben. Erst recht nicht in diesem Aufzug.«
»Was erlauben Sie sich, Sie alte Vettel?«, fauchte Iris. »Ich bin weder ein junges Mädchen, noch gibt es an meiner Kleidung irgendetwas auszusetzen.«
»Sie ist wahrlich kein Stockfisch«, bemerkte einer der Männer spöttisch.
Iris kannte diese Redewendung nicht, aber sie nahm an, dass es sich um ein Kompliment handelte. »Vielen Dank«, sagte sie bissig. »Aber ich sage die Wahrheit, ich wurde angegriffen.«
»Angegriffen?«, wiederholte der Narbige.
»Wir werden nicht zulassen, dass du so einen Pesk über unseren Freund verbreitest«, ergänzte einer der anderen Männer und spuckte ihr vor die Füße.
Iris glaubte, sich daran zu erinnern, dass Pesk ein altes Wort für Fischabfälle war.
»War es nicht eher so, dass du Butt schöne Augen gemacht hast?«, fuhr der Narbige fort. »Und als es dann zur Sache ging, hast du es dir anders überlegt und unseren Freund eiskalt abgestochen.«
»Das ist eine infame Lüge«, protestierte Iris. Jedenfalls der erste Teil, ergänzte sie gedanklich.
Die Männer zogen ihren Halbkreis enger um sie. Das Fenster über ihr wurde zugeknallt.
Iris stand mit dem Rücken zur Wand. Während sie in Gedanken ihre Erinnerungen nach einem passenden Trainingsszenario durchforstete, spannte sich ihr Leib wie eine Bogensehne. Sie wusste, wie sich Schmerz anfühlte. Jede einzelne Faser ihres Körpers wusste das. Ihre Glieder spürten den eisigen Windhauch, der dem ersten Schneefall des nahenden Winters vorausging – und genau wie jeder schlaue Bauer trafen sie die entsprechenden Vorbereitungen.
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