23. Futusfera
Zander wusste nicht, warum Iris ihn so anstarrte, mit diesem in die Vergangenheit gerichteten Blick und der besorgten Miene. Vielleicht erinnerte er sie an irgendwen, auch wenn er das bezweifelte. Iris war bestimmt keine Frau, die sich mit Männern wie ihm die Zeit vertrieb. Natürlich kamen manchmal adelige Damen nach Myr Ryba, zum Entspannen oder weil sie sich auf der Durchreise befanden, die ihm oder anderen Gusaren gut verborgene und gleichzeitig sehr eindeutige Angebote machten. Als junger Mann hatte er das nicht verstanden, doch inzwischen wusste er, dass diese Damen vor allem das Spiel mit der Gefahr reizte. Vermutlich bildeten sie sich ein, er könnte jederzeit ein Messer ziehen und sie auf ein Piratenschiff entführen, was natürlich eine vollkommen abwegige Vorstellung war. Seit er für die Forellis arbeitete, führte er ein weitgehend solides Leben, genau wie die meisten anderen Männer und Frauen seiner Abstammung. Natürlich gelang es nur wenigen von ihnen, in eine respektable Position aufzusteigen. Dieses Privileg war Menschen vorbehalten, denen man die Herkunft weniger deutlich ansah. Menschen, deren Blut sich mit dem der wohlhabenden Zugezogenen aus dem Rest Materras gemischt hatte. Dabei war Myr Ryba in ihrem Herzen eine Gusarenstadt und würde das, soweit es Zander betraf, auch immer bleiben.
»Wenn wir gleich zu Herrn Dan de Potas vorgelassen werden, überlässt du am besten mir das Reden«, sagte er und weckte Iris damit aus ihrer Geistesabwesenheit.
»Wieso?«, fragte sie und zupfte an ihren Knobbs herum, womit sie seine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf ihr Dekolleté lenkte. Auch durch die vielen Lagen Stoff und das formende Metallgerüst ihres Mieders konnte er erkennen, dass sie hübsche Brüste hatte, klein und zart wie zwei weiße Pfirsiche. Der Anblick lenkte ihn sogar kurzzeitig von dem heftigen Schmerz ab, der in seiner Schulter pochte.
Als Iris in seine Richtung sah, senkte er rasch den Blick und räusperte sich. »Weil Dan de Potas ein sehr gewöhnungsbedürftiger Mensch ist.« Er zählte alles auf, was ihm dazu in den Sinn kam: »Der Herr ist kein echter Adeliger, sondern trägt den Titel nur zur Zier. Davon abgesehen, ist er äußerst königstreu, eingebildet und voller Verachtung für das alte Volk, wie es in seiner Zunft so üblich ist.«
»Hm«, machte Iris, wobei sie ihn schon wieder so komisch ansah. Ehe Zander sie darauf ansprechen konnte, öffnete sich eine weitere Geheimtür auf der anderen Seite des Raums und Zwanziger kehrte zu ihnen zurück. Zander nannte den kleinen Mann so, weil er die Angewohnheit hatte, alle Geldbeträge in Zwanzig-Kronen-Einheiten umzurechnen.
»Großmeister Dan de Potas wird Sie jetzt empfangen«, erklärte Zwanziger leidenschaftslos. Sein Blick wanderte von Zander zu Iris. »Allerdings nur Sie, Herr Arryba. Angehörige des alten Volks haben hier nichts verloren.«
Zander richtete kurz den Blick zur Decke, um sich an einem genervten Augenrollen zu hindern. Er hatte schon geahnt, dass sie auf derartige Probleme stoßen würden.
Das alte Volk war eine Bezeichnung für die Anhänger König Dvergurs, die in den Wodlanden lebten, die alten Götter anbeteten und sich mit alter Magie befassten. Dieser Begriff ließ vollkommen außer acht, dass es vergleichbare Strömungen überall in Materra gab, sogar in Myr Paluda, wo dem alten Glauben zufolge die menschlichen Kinder des Gottes Jordardt zu Hause waren. In Myr Ryba waren es dagegen die Gusaren, denen man eine besondere Verbindung zur Göttin Lacuna nachsagte. Der einzige Unterschied zu den Mitgliedern des alten Volks bestand darin, dass sich die Untertanen König Dvergurs noch aktiv mit alter Magie beschäftigten und sie angeblich sogar einsetzen konnten. Das machte sie zu einem Dorn im Auge König Fridurs, der sich in Ermangelung einer magischen Abstammung der Novomagica verschrieben hatte.
Der Konflikt zwischen neuer und alter Magie schwelte jedoch bereits seit vielen Jahrhunderten, im Grunde schon seit der Entdeckung der Novomagica durch Vadim Blattnie vor 460 Jahren. Schon zu Zeiten von König Ladislaus hatte es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen gegeben, was dazu geführt hatte, dass sich die magisch Begabten hinter die Wodland-Berge zurückgezogen und vom Rest Materras abgeschottet hatten.
»Fräulein Dan de Lion wird mich begleiten«, sagte Zander in einem Tonfall, von dem er wusste, dass es kaum jemand wagte, ihm zu widersprechen. »Sie ist nicht nur meine Mitarbeiterin, sondern auch der Grund meines Hierseins.«
Zwanziger starrte ihn böse an. Seine wulstigen Lippen glänzten feucht, die wässrigen Augen versuchten, drohend zu wirken, gaben ihn jedoch der Lächerlichkeit preis. Schlussendlich fehlten Zwanziger Ehrgeiz und Brutalität, um überzeugend zu sein. Er war kein kompromissloser Torwächter, sondern ein simpler Verkäufer, der gut genug rechnen konnte, um nicht großartig über's Ohr gehauen zu werden – und darum ging es Gwydion Dan de Potas letztendlich: Geld. Reichtum war ihm wichtiger als Ideologie. Daher wunderte es Zander auch nicht, als Zwanziger kurz darauf einknickte und sie passieren ließ.
Beim Aufrichten fuhr Zander ein blitzartiger Schmerz durch den Rücken. Von der heißen, pochenden Stelle unter seinem Schulterblatt ausgehend, fühlte es sich an, als würde ihm erneut ein scharfer Stich versetzt, tiefer diesmal und so durchdringend, dass sein Brustbein zu vibrieren schien und ihm die Ohren klingelten. Um den darauf folgenden, kurzen Moment der Schwäche zu überspielen, stützte er sich am Tisch ab. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass ihm sein Mantel entglitt und zu Boden fiel. Beim halbherzigen Versuch, sich zu bücken und den Überzieher wieder aufzuheben, steigerte sich der Schmerz ins Unermessliche. Aus dem Augenwinkel konnte Zander sehen, wie sich ein gehässiges Lächeln auf Zwanzigers Froschgesicht stahl. Natürlich war jede Schwäche, die er sich zu zeigen erlaubte, ein kleiner Triumph für seine Feinde und die Gegner der Familie Forelli.
Mit schnellen Schritten war Iris heran. »Ich mache das schon«, sagte sie, hob den Mantel auf und legte ihn sich über den Arm. Dabei schenkte sie ihm ein zuckersüßes Lächeln, als hätte sie keinen blassen Schimmer davon, was es für einen Eindruck erweckte, wenn er sich von ihr wie ein alter Mann behandeln ließ. Zweifellos war er einige Jahre älter als Iris, zwölf, wenn seine Informationen stimmten, aber das bedeutete nicht, dass er sich von ihr bedienen lassen konnte, ohne seinen Feinden damit ein falsches Bild zu vermitteln. Um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen, verkniff er sich einen entsprechenden Kommentar und wandte sich der Geheimtür zu, die ins Innere des Gebäudes führte.
Dahinter herrschte eine kunstvoll konstruierte Atmosphäre des Mysteriösen. Für Gwydion Dan de Potas hatte Schein schon immer mehr bedeutet als Sein. Die Wände lagen hinter dicken Stoffbahnen verborgen, die lange Falten warfen und im Schein der vielen, überall im Raum verteilten Kerzen geheimnisvoll glänzten. Im Zentrum des kreisrunden Zimmers stand eine halbhohe Steinsäule. Darauf thronte eine Kristallkugel, wie sie von Magiern verwendet wurde, um Kontakt zur Welt jenseits des Schleiers, der Leben und Tod voneinander trennte, aufzunehmen. Gerüchten zufolge war es nämlich genau diese jenseitige Welt, aus der sie ihre Zauberkräfte bezogen. An der Decke prangte ein Fresko, das geflügelte Monstrositäten am nächtlichen Himmel über Myr Ryba zeigte, wie sie um den alten Lutz und die Kuppel des hohen Tempels kreisten. Wenn man lange genug hinsah, schienen sich die abscheulichen Kreaturen tatsächlich zu bewegen, mit den ledernen Flügeln zu schlagen und schrille Schreie des Triumphs auszustoßen. Zander konnte sehen, wie sich Iris' Miene beim Anblick der blasphemischen Szene verfinsterte.
»Herr Arryba!«, tönte Gwydion Dan de Potas mit seinem dunklen Timbre, das jedem Opernsänger zur Ehre gereicht hätte, wenngleich Myr Ryba nicht gerade für seine Inszenierungen alter Klassiker bekannt war. In dieser Stadt mochte man es derb, humorvoll und weniger künstlerisch.
Im nächsten Moment materialisierte sich der mächtige Magier wie ein Schreckgespenst aus den Schatten. Sein Auftritt erzielte den gewünschten Effekt und ließ Iris einen erschrockenen Schritt zurückweichen. Zander war diese dramatischen Inszenierungen jedoch schon gewohnt.
Gwydion Dan de Potas, Großmagier und Großmeister der Magier-Gilde von Myr Ryba, war eine in jeder Hinsicht einnehmende Persönlichkeit. Für gewöhnlich nahm er nicht nur sein Publikum, sondern auch noch einen Großteil des zur Verfügung stehenden Platzes für sich ein. Seine korpulente Figur wurde durch seinen bevorzugten Kleidungsstil noch betont: die bodenlange, dunkelrote Robe spannte über seinem Bauch und ließ ihn noch unförmiger wirken. Dazu kamen ein langer, hellroter Bart und wattiges Haar, das unter seiner hochgeschlagenen Kapuze hervorlugte. Sein Gesicht wurde von einer langen, höckrigen Nase dominiert, die seine großen, stets gierig wirkenden Augen in den Hintergrund drängte.
»Ich habe Sie bereits erwartet!«, rief der Magier und breitete die Arme aus, als wollte er Zander um den Hals fallen. »Der oberste Unterhändler der Forelli-Dynastie ist mir zu jeder Tages- und Nachtzeit ein gern gesehener Gast!« Dann entdeckte er Iris und seine gute Laune verflog. »Was macht eine Florfruese hier?«, polterte er, streckte die Hand aus und ließ seinen Zauberstock erscheinen, der mit einem immensen, violett schimmernden Kristall versehen war. Wütend deutete er mit dem oberen Ende des Stocks auf die junge Übersetzerin. »Ich habe doch gesagt, ich will sie nicht hier haben!«
»Und ich habe gesagt, dass ich sie brauche«, erwiderte Zander. Erschrocken bemerkte er, wie viel Kraft es ihn kostete, die Stimme zu erheben. Hitze stieg ihm in den Kopf, gepaart mit einer leichten Übelkeit und einer ungewohnten Schwäche, die seine Glieder weich werden ließ. Er atmete tief durch und verbannte diese Befindlichkeiten aus seinem Bewusstsein. »Ich ersuche Ihren Rat, Großmeister Dan de Potas, im Rahmen einer streng vertraulichen Angelegenheit.«
Diese Worte ließen den Magier innehalten. Sein Stock sank herab. Das magische Feuer im Innern des Kristalls versiegte. »So, so«, meinte er und Arglist schlich sich in seine Stimme. »Eine vertrauliche Angelegenheit? Dabei geht es nicht zufälligerweise um die Explosion, die sich gestern auf dem Forelli-Anwesen ereignet haben soll?«
»Wer sagt das?«, fragte Zander, darauf bedacht, seine Stimme ruhig und kraftvoll klingen zu lassen, nicht so schwach und elend wie er sich fühlte.
Dan de Potas trat an die Säule und legte eine speckige Hand auf die Kristallkugel. »Meine wundervolle Futusfera«, erklärte er stolz. »Das neuste Modell, Herr Arryba. Verkaufen kann ich es aber leider nur an andere Großmagier, so sehr mich das auch schmerzt. In den Händen eines einfachen, ungelernten Menschen wäre diese Futusfera viel zu gefährlich. Allerdings könnte ich Ihnen andere Angebote machen, die Sie interessieren werden.« Sein Blick wanderte wieder zu Iris und füllte sich mit Misstrauen. »Aber möglicherweise haben Sie ja schon eine andere Möglichkeit gefunden, an magische Vorhersagen zu gelangen?«
»Fräulein Dan de Lion ist lediglich meine Übersetzerin«, erwiderte Zander, wobei er sich wider besseren Wissens nach einer Sitzgelegenheit umsah.
»Heißt das, diese Kugel kann die Zukunft vorhersagen?«, meldete sich Iris zu Wort. Auch wenn Zander nicht gerade glücklich über ihre Einmischung war, genoss er die kurze Atempause. Pochend drückte der Schmerz gegen sein Brustbein und trieb ihm kalten Schweiß aus allen Poren.
»Gelegentlich«, antwortete Dan de Potas selbstzufrieden.
Iris kräuselte die spitze Nase, wie immer, wenn sie angewidert oder verärgert war. »Wenn das so ist, wieso haben Sie Herrn Forelli dann nicht gewarnt?«
»Man merkt, dass Sie von Novomagica nicht die geringste Ahnung haben«, erklärte Dan de Potas blasiert. »Der Kodex verbietet es uns, in den Lauf der Zeit einzugreifen, außer-«
»Außer Sie werden dafür bezahlt?«, entgegnete Iris frostig. »Wissen Sie, Herr Dan de Potas, das ist etwas, das ich bei der Novomagica nie verstanden habe: Ohne Geld scheint sie nicht zu funktionieren.«
»Alles hat nun einmal seinen Preis«, sagte der Magier im gleichen, eisigen Tonfall. »Aber das werden Sie niemals verstehen, Fräulein. Denn obwohl die Novomagica einen enormen Preis fordert, nicht nur von unseren Kunden, sondern auch von uns Magiern selbst, hat sie etwas geschafft, zu dem die alte Magie niemals imstande sein wird.« Er blickte Iris erwartungsvoll an, aber sie stülpte bloß trotzig die Lippen vor. »Sie hat Magie unter die Menschen gebracht. Für jeden nutzbar, der es sich leisten kann. Nicht nur für irgendwelche Auserwählten.« Seine Augen verengten sich. »Und sagen Sie mir bloß nicht, dass Novomagica ungerecht wäre, denn Reichtum kann man sich erarbeiten, eine magische Abstammung nicht.«
Zander nahm an, dass er diese Argumente schon endlose Male aufgezählt hatte, so flüssig wie sie ihm über die Lippen kamen. »Lass es gut sein, Iris«, meinte er, weil er spürte, wie ihnen die Zeit davonlief. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde sein Körper schwächer. Inzwischen glaubte er nicht mehr daran, dass seine Verletzung harmlos war. Die Art, wie sich der pulsierende Schmerz durch seinen Brustkorb brannte und von jedem Atemzug neu angefacht wurde, war für eine einfache Stichwunde wirklich ungewöhnlich. Dazu kam die Kraftlosigkeit, die ihn erfasst hatte, als würde ihm auf geradezu magische Weise die Lebensenergie entzogen.
»Ja, es geht um den Vorfall im Forelli-Anwesen«, erklärte er mühsam. »Wir müssen wissen, wer dahintersteckt.« Mit einer schwachen Geste deutete er in Iris' Richtung. »Der Zauber war an eine Seidenblume gebunden.« Er schnappte nach Luft, als ihm der Schmerz wie ein Rasiermesser durch die Brust fuhr.
»Können Sie feststellen, wer die Blume verzaubert hat?«, hörte er Iris fragen, während sich dunkle Schleier vor seinen Augen zusammenballten.
Dan de Potas zögerte. »Nur, wenn ich etwas hätte, das mit dem Zauber in Berührung gekommen ist.«
»Die Seidenblume ist leider verbrannt«, sagte Iris. »Aber sie steckte in meinen Haaren, als es passiert ist. Würde das ausreichen?«
»Das wäre... eine Möglichkeit«, sagte der Magier, den Zanders Schweigsamkeit sichtlich irritierte. »Nun gut«, seufzte er, als ihm bewusst wurde, dass er für den Moment mit Iris vorlieb nehmen musste. »Wenn Sie mir dann freundlicherweise eine Strähne Ihres Haars aushändigen würden?«
Jetzt war es an Iris, zu zögern. Merklich angespannt streckte sie sich nach ihrem Kiepenhut, löste die Hutnadeln und nahm die Kopfbedeckung ab, sodass sich die darunter verborgenen, angesengten Locken bis auf ihre Schultern ergossen. Die Hitze hatte dafür gesagt, dass sich ihre Haare noch stärker kräuselten – mit dem Effekt, dass es aussah, als wäre sie zu nah an eine der neumodernen Stromleitungen geraten.
Iris schien sich des lächerlichen Anblicks, den sie bot, nur zu gut bewusst zu sein. Mit leidender Miene suchte sie eine geeignete Haarsträhne, wickelte sie sich um den Finger, atmete tief durch und riss sich die Haare aus. Ohne hinzusehen reichte sie den blonden Strang an Gwydion Dan de Potas, der ihn mit spitzen Fingern annahm und auf seine Futusfera legte.
»Na schön«, meinte er anschließend naserümpfend. »Ich nehme doch an, dass ich für diese Hilfeleistung entsprechend entlohnt werde?« Zander brachte irgendwie ein Nicken zustande, woraufhin der Magier seine freie Hand ausstreckte, als wollte er die Kristallkugel umfassen. »Sehen wir doch mal, was in dir steckt«, hörte Zander ihn murmeln, dann brach plötzlich ein grellgrünes Leuchten aus dem Innern der Kugel und flutete den Raum wie eine Brandungswelle aus purem Licht.
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