Kapitel 19b
„Beruhige dich", blaffe ich erneut. Was kümmert es ihn, wenn ich gesprungen wäre? Nicht, dass ich so etwas in Betracht ziehen würde. Doch warum kümmert er sich? Wieso ist es ihm so wichtig? Erneut steigt Ärger in mir auf. Er schert sich nicht genug um mich, um mir Antworten zu geben, aber ob ich mich vom Dach schmeißen will?
„Was machst du eigentlich hier? Verfolgst du mich?", schreie ich wieder, um meinem Ärger Freiraum zu geben. Die Verwirrung flieht von seinem Gesicht und seine Miene wird neutraler mit einem leichten Lächeln.
„Was machst du hier?", entgegnet er mir mit einer Gegenfrage und einem schelmischen Lächeln. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaue ihn streng an.
„Ich habe zuerst gefragt", sage ich weniger verärgert, denn das spitzbübische Lächeln macht es schwer sauer auf ihn zu sein.
„Ich wollte nach dir sehen. Du warst so verstört, nachdem mein Vater mit dir gesprochen hat. Ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht. Als ich um die Ecke in deinem Gang kam, habe ich dich herausschleichen sehen und bin dir gefolgt", erklärt er ehrlich.
„Wie du siehst, geht es mir gut. Also kannst du wieder gehen", sage ich streng, doch meine Worte klingen nicht so ehrlich wie ich will. Er ist der Grund, weshalb sein Vater die Chance bekommen hat mit mir zu sprechen. Hätte er nicht darauf bestanden, dass ich komme, dann wäre alles beim Alten.
„Dir geht es offensichtlich nicht gut, Emmelin", sagt er besorgt und blickt mich eindringlich an. Natürlich nicht. Ich werde gefangen gehalten und zwangsverheiratet. Die Menschen die ich liebe werden beinah täglich bedroht und alle verheimlichen mir etwas. Wie soll es mir da bitte gut gehen?
„Und wenn schon", sage ich gleichgültig. Ich will mich von ihm abwenden, doch er legt seine Hand auf meine Wange. Zwingt mich ihn wieder direkt anzusehen.
„Du kannst mit mir sprechen. Ich werde Beynon nichts sagen. Ich sehe wie sehr du leidest und es schmerzt mich dich so zu sehen. Auch wenn du mir nicht glaubst, aber du bist mir wichtig." Ich sehe ihm an, dass er es ehrlich meint. Seine aufrichtigen Worte vertreiben den restlichen Ärger auf ihn und ich entspanne meine Haltung. Antworte ihm aber nicht.
„Was hat mein Vater gesagt?", fragt er vorsichtig. Der Gedanke an den heutigen Abend lässt die Gefühle kurz aufwallen und ich spüre wie eine Träne sich glühend über meine Wange bahnt. Bevor noch eine weitere Träne folgt, unterdrücke ich das Gefühl.
„Ich möchte nicht darüber sprechen", sage ich leise, drehe mich von ihm ab und er lässt es zu. Ich lege meine Hände auf die Balustrade und lehne mich leicht gegen sie. „Ich wollte mir die Sterne anschauen", beantworte ich seine erste Frage. Kurz herrscht Stille und ich spüre wie er sich neben mich an die Balustrade stellt.
„Und dafür musstest du hier hoch?", fragt er belustigt, aber immer noch etwas besorgt.
„Ich wollte nur noch ein Stück näher an sie heran", antworte ich ehrlich und wende meinen Blick wieder in den funkelnden Nachthimmel. Ich spüre wie Leander seine Hand auf meine legt, doch ich zuckte nicht zurück.
„Du weißt, du bist nicht alleine", flüstert er leise und es gelingt ihm mit diesen Worten wieder den inneren Frieden in mir heraufzubeschwören. Für eine ganze Weile stehen wir schweigend nebeneinander, in den Himmel starrend.
„Leander?", frage ich vorsichtig und blicke zu ihm. Auch er dreht sich zu mir und lächelt mir sachte zurück.
„Weshalb bin ich hier?" Die Verzweiflung hinter der Frage ist so deutlich zu hören, dass ich selbst zusammen zucke. Leander nimmt seine Hand von meiner und streicht mir sachte eine Strähne aus dem Gesicht.
„Ist es wirklich so schlimm hier?", beantwortet er meine Frage erneut mit einer Gegenfrage. Ich bin zu müde, um erneut zu streiten. Zu müde, um weiter nachzubohren. Zu müde, für dasselbe Spiel, das mich immer wieder ohne Antworten lässt. Einfach müde.
„Ich vermisse mein Zuhause", gebe ich ehrlich zu und bemerke erst jetzt, dass das nicht alles ist. Ich vermisse tatsächlich mein Zuhause. Aber nicht das Leben, das ich bis vor einigen Wochen lebte. Sondert mein Leben, das ich hatte, bevor es abbrannte. Ich vermisste meinen Vater. Das erste Mal wurde mir das bewusst, als ich meine Mutter sah. Der Teil meines Herzens, in dem mein Vater lebte, wurde erneut aufgerissen. Müde setzte ich mich auf die Balustrade, ohne meinen Blick von ihm zu wenden. Er hat etwas an sich, dass mich in diesem Moment tatsächlich beruhigt. Obwohl, er mein Leiden nicht durch Antworten leichter machen will.
„Erzähl mir davon", bittet er mich liebevoll. Etwas in mir lockert sich und für eine ganze Stunde berichte ich ihm von meinem Vater. Seiner liebenden Natur; die Abenteuer, die wir erlebten und die Freude, die wir teilten. Zum ersten Mal spreche ich diese ganzen Dinge, die ganzen Erinnerungen, laut aus. Erzählte sie jemanden. Und es fühlte sich gut an. Richtig.
Leander lauscht mir aufmerksam, wischt Tränen von meinen Wangen, wenn sich wieder eine löst und lächelt mich mit einem Grinsen an, das mein innerstes erwärmt. Als ich meine Erzählung beende, fühlen sich meine Gedanken schwerelos an. Das Durcheinander geordneter und die Lasten leichter. Nur ein Gedanke ist noch dominant in meinem Kopf. Die Drohung des Königs. Ich weiß nicht weshalb sie mich so belastet, doch Kian kann ich nicht fragen. Ich muss es jetzt einfach wissen.
„Leander?", setzte ich wieder schüchtern an. Als er mich erneut anlächelt, frage ich ihn, „Was hat dein Vater mit Kian gemacht?" Schlagartig ändert sich das Lächeln zu einem so traurigen Gesichtsausdruck, dass er mir einen Stich versetzt. Kurz glaube ich sogar, den Anflug einer Träne zu erkennen.
„Glaub mir, Emmelin, das möchtest du nicht wissen", sagt er besorgt und wendet zum ersten Mal den Blick von mir ab. Etwas so schreckliches, dass nicht einmal Leander darüber sprechen kann, will der König auch Willy antun. Was für ein Mensch macht so etwas? Ich lege die Hand auf seine Wange und zwingt ihn mich anzusehen.
„Ich muss", sage ich flehend. „Er hat gesagt, er tut es erneut, wenn ich mich nicht an seine Spielregeln halte." Leander versteht, dass ich von dem Gespräch an seiner Geburtstagsfeier spreche. Tief atmet er durch und beginnt zu erzählen. Ich sehe ihm an, dass er tief in seine Gedanken versinkt. Sein Blick wird distanziert, beinah trüb. Er hält Details wage, doch das was er mir berichtet, zerreißt mir das Herz.
„Wie kann er einem Menschen so etwas antun?", frage ich unter Tränen und spüre wie etwas in mir zerbricht. Liebevoll zieht mich Leander in eine Umarmung, der es gelingt, dass ich mich nicht komplett auflöse.
„Die Besessenheit meines Vaters mit diesem angeblichen Fluch von Merah und der Kraft der Sterne kennt einfach keine Grenzen. Die Begierde nach Macht fließt durch jeden seiner Adern. Beynon teilt denselben Wahn und er unterstützt ihn mit allem, was es kann. Ich befürchte er würde über Leichen gehen, wenn er es nicht schon ist." Abrupt stoppt meine Trauer. Wie ausradiert, fällt sie von mir ab, als ich Leanders Worte verarbeite. Ihm ist nicht bewusst, dass er mir soeben Informationen gegeben hat, die Beynon und er so vehement vor mir zu verbergen versuchen. Fluch von Merah. Das habe ich schon einmal gehört. Kraft der Sterne. Das ist mir neu. Trotzdem habe ich zwei neue Puzzleteile, die ich zuvor nicht hatte.
„Wenn du nur nicht am Abend des Balles nicht gewesen wärst. Hättest du nie mit Beynon getanzt. Sie hätten nie erfahren, wer du bist. Beynon hätte dir nie das Blut abnehmen können", erzählt Leander weiter, so tief in Gedanken, dass er meine Anwesenheit vergessen hat. Doch ich spitze meine Ohren. Das ist die Chance, auf die ich so lange gewartet habe. Seine letzte Aussage bringt mich zum Stutzen. Wann hat mit Beynon Blut abgenommen? Schießt es durch meine Gedanken. Aus der Tiefe meiner Erinnerung erscheint ein Bild vor mir. Der kleine Schnitt, als ich an seinem Ringe hängen geblieben bin. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Es als unglückliches, nicht bedeutendes, Missgeschick vergessen.
„Wieso wollte er mein Blut?", schießt es aus mir heraus, bevor ich nachdenken kann.
„Um zu sehen, ob du tatsächlich..." Leander stoppt abrupt ab, da ihm auffällt, was er im Begriff ist zu enthüllen. Kurz verfluche ich mich selbst über meinen Leichtsinn. Wer weiß was Leander alles noch preisgegeben hätte, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte. Erschrocken schiebt mich Leander von sich ab und springt auf. Kurz erkenne ich ein merkwürdiges Grinsen, das sich aber schnell zu einem entsetzten Gesichtsausdruck verwandelt. Verzweifelt rauft er sich die Haare und schüttelt den Kopf.
„Nein. Nein. Nein", wiederholt er leise an sich selbst. Als sein Blick schlagartig zu mir geht und er mein Gesicht in seine Hände nimmt. Jedoch nicht so vorsichtig und zärtlich wie sonst. Sondern grob und beinah schmerzlich.
„Emmelin, du musst vergessen was ich gesagt habe! Hast du verstanden!?", sagte er streng, drängend und etwas beängstigend. Nun bin ich es, die ihn anstarrte wie ein Irrer.
„Es geht hier um mich. Ich bin ein Mensch. Ich verdiene die Wahrheit", entgegne ich streng, doch der leichten Angst, die in mir aufsteigt.
„Noch nicht, Emmelin. Wenn Beynon oder mein Vater erfahren...." Er lässt von mir ab und rauft sich erneut die Haare. „Was habe ich getan?", fragt er sich selbst. Ich sehe ihm an, wie sehr er von sich selbst enttäuscht ist.
„Was machst du mit mir?", stellt er wieder die Frage an mich, doch erwartet keine Antwort. Plötzlich tut er mir schrecklich leid. Wieso? Wie habe ich Mitgefühl für meinen Entführer? Verfluche ich mich selbst. Doch mit den wenigen Worten hat er mich schon weitergebracht, als ich in den letzten Wochen selbst vorangekommen bin. Ich muss ihm dankbar sein, auch, wenn er es nicht beabsichtigt hat. Ich springe von der Balustrade und auf ihn zu. Immer noch wippt er von einem Bein auf das andere. Komplett frustriert. Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und er stoppt abrupt in seiner Bewegung.
„Leander!", sage ich streng aber liebevoll. „Beruhig dich. Ich verrate nichts." Meine Worte beruhigen ihn zu einem Teil.
„Wenn ich dürfte, würde ich dir alles sagen", entgegnet er mir. Auch wenn ich kein Verständnis dafür habe, werde ich auch keine Antworten erhalten, wenn ich eine Szene mache. Es war die Ruhe, das Vertrauen, meine eigene Ehrlichkeit, die ihm ein paar Informationen entlocken konnten. Nicht die Rage und der Zorn.
„Ich weiß", sage ich so ruhig wie es mir möglich ist. In dem Moment fällt alles von ihm ab und sein Gesicht füllt sich erneut mit einem glänzen der Erleichterung. Langsam bewegt er sich zu mir. Seine Lippen den meinen. Ich kann sie schon beinah spüren, als ich erschrocken einen Schritt nach hinten nehme.
„Ich sollte schlafen gehen", sage ich überrumpelt und Leander schaut mir wütend entgegen. Kurz geht sein Blick zum Horizont und meiner folgt ihm. Die Sonne macht sich bereits an den Kampf, die Nacht zu verjagen.
Vor meinem Zimmer angekommen, gehen Leanders Augen wieder zu mir. Sie scheinen nach etwas zu suchen, es jedoch nicht zu finden. Kurz befürchte ich, dass er erneut versuchen wird mich zu küssen, doch er bleibt einfach ruhig vor mir stehen.
„Ich werde dich für das Frühstück entschuldigen. Du solltest den Schlaf nachholen. Das ist, dass Mindeste was ich für den Vorfall mit meinem Vater tun kann. Mach dir keine Sorgen, okay?" Müde nicke ich und lächle als Dank. Bevor ich es verhindern kann. Als sie meine Stirn treffen, atme ich erleichtert auf.
„Gute Nacht, Emmelin", sagt er leise und streicht mir erneut eine Strähne hinters Ohr. Was ist los mit diesen Strähnen? Fallen sie jedes Mal, wenn einer der Brüder hier ist, um mich zu reizen? Ich kann meinen Blick nicht von seinem lösen. So ist er es, der den Blickkontakt trennt und mich aus der Trance, die seinen Augen in mir auslösen, drängt.
„Gute Nacht", flüstere ich, doch Leander ist bereit, zu weit entfernt, um meine Worte zu hören. Wieso kann ich ihn nicht hassen?
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