Kapitel 11a
Am nächsten Morgen scheinen meine Schritte beflügelt zu sein. Ich kann das warme Gefühl in meinem Inneren nicht erklären. Denn meine Situation hat sich nicht geändert, ich habe immer noch keinen Plan nach Hause zu kommen und auch kreisen dieselben Fragen noch immer in meinem Kopf. Doch gestern Nacht habe ich es geschafft, die Nacht ohne einen Albtraum zu überstehen. Keine Erinnerungen rissen mich aus dem Schlaf. Keine Horrorszenarios und keine dunkle Vorahnung. Es war einfach nur Leere und sie hat mir gutgetan.
„Guten Morgen", rufe ich Kian fröhlich entgegen und er dreht seinen Kopf zu mir.
„Morgen. Gestern?" Wieder spricht er nur das Minimum, doch ich bin froh, dass er spricht.
„Ja, es wurde spät. Tut mir leid. Oh, Kian es war wunderbar. Hast du schon einmal von einem Rummel gehört?" Der Gedanke an den magischen Ort zaubert mir immer noch ein Lächeln aufs Gesicht. Kian schüttelt den Kopf und sofort verfalle ich ins Schwärmen. Ich berichte ihm von jeder Hütte, jeder Nascherei und all der Musik und den Lichtern. Auch von dem Riesenrad berichte ich ihm, nur das kleine Gespräch lasse ich aus. Aufmerksam und bezaubert von meiner Erzählung strahlt er mir entgegen.
Als es an der Türe klopf, lasse ich Minerva und Zoya hinein. Aufgeregt berichte ich ihnen von meiner neu gewonnen Liebe zum Rummel. Zum ersten Mal komme ich in ein richtiges Gespräch mit den beiden. Sie erzählen mir von ihren Erfahrungen auf dem Rummel. Im Handumdrehen erstrahle ich in einem erneut wunderschönen Kleid, einer schlichten Flechtfrisur und leichtem Make-up. Der Weg in den Essenssaal erscheint mir kürzer. Etwas traurig Leander bereits dort zu entdecken, ändert es nichts an meinem breiten Grinsen. Leander und meine Mutter betrachten mich verwirrt.
„Wieso so glücklich?" Leanders Stimme hört sich ungewohnt an. Ein Unterton von Eifersucht und Missfallen ist darin hörbar. Seine rechte Augenbraue geht in die Höhe und ich sehe ihm an wie neugierig er ist.
„Sagen wir so, der Tag gestern war..." Ich mache eine kurze dramatische Pause. Ich weiß nicht, weshalb ich Leander etwas sticheln will, doch es ist eine der wenigen Dinge, die ich hier tun konnte. „...magisch", beende ich meinen Satz. Meine Worte überraschen nicht nur Leander. Auch die Augenbrauen meine Mutter huschen in die Höhe. Ich kann so etwas wie Erleichterung in ihren Augen erkennen.
„Was hast du denn gemacht?", höre ich die süße Stimme meines Bruders. Ich gehe zu ihm, wuschele ihm durchs Haar und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Ich war auf dem Rummel", verkünde ich so fröhlich, wie noch nie an diesem Ort.
„Oh, der ist toll. Ich will auch gehen", ruft Willy und blickt meiner Mutter entgegen. „Können wir gehen, Mama? Biiiitte", bettelt er. Ich sehe wie ihr Blick leicht traurig wird.
„Da musst du Beynon oder Leander fragen, Schatz." Die Aussage versetzt mir einen kleinen Stich. Nicht nur wurde sie ihrer Freiheit beraubt, aber auch die ihres Sohnes. Erneut wird mir bewusst, wie viel sie opfert und dass diese Leute das Leben meines kleinen Bruders in der Hand haben.
„Leo, können wir?", richtet der Kleine die Frage an Leander, der immer noch mich mustert.
„Beynon, hat dich auf den Rummel genommen?", fragt er ungläubig und beachtet den Kleinen, der an seinem Arm zerrt nicht.
„Ja?"
„Hm", ist alles, was er antwortet, als die Türe aufgeht und Beynon hineintritt.
„Einen wunderschönen guten Morgen", proklamiert er genauso fröhlich wie ich in die Runde. Leander mustert seinen Bruder misstrauisch und analysiert ihn.
„Du warst auf dem Rummel?", fragt er ihn mit einem kritischen Unterton.
„Ja, Bruder. Das waren wir", verkündet er und lässt sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht nehmen
„Guten Morgen, Emmelin", richtet er das Wort an mich. Mit einem großen Lächeln, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, er hat das Gespräch auf dem Riesenrad komplett aus seiner Erinnerung gestrichen. Bevor ich es erfasse, haucht er mir wieder einen zarten Kuss auf die Wange, bevor er sich an den Tisch setzt.
Mit noch größeren Augen betrachtet mich meine Mutter und Leander hat einen Ausdruck in den Augen, der sich von seinem sonst neutralen unterscheidet. Als habe jemand ihm sein Lieblingsspielzeug gestohlen oder ihn zu einem Duell herausgefordert, funkelt er seinen Bruder böse an.
„Bey, kann ich auch auf den Rummels?", fragt Willy mit einem leichten lispeln und funkelnden Augen.
„Aber natürlich, kleiner", antwortet dieser glücklich und schockt damit die beiden anderen am Tisch. Weshalb ist es so ungewohnt Beynon in Verbindung mit dem Rummel zu sehen? Was bringt die beiden so aus der Fassung? Vielleicht ist es, aber auch nur die unnatürliche Freude die er heute ausstrahlt.
Das Essen verbringen wir wieder überraschend leise. Leanders Blick fixiert immer wieder seinen Bruder. Auch meine Mutter blickt ungläubig zwischen uns hin und her.
„Emmelin..." Beynons und Leanders Stimmen ertönt gleichzeitig und sie blicken sich streng an. Sie tragen mental einen Kampf aus, als sich dann Leanders Blick zu mir wendet und schnauft Beynon genervt auf.
„Emmelin, hättest du Lust wieder Enten zu füttern?", fragt mich Leander, doch bevor ich ihm antworten kann, ertönt Beynons Stimme.
„Oder möchtest du lieber einen Film sehen?" Ich hätte tatsächlich Lust einen Film zu sehen. Im Ari-Haus gab es jede Woche einen Filmabend, eine der wenigen spaßigen Beschäftigungen für eine Ari. Aber was auch immer zwischen den beiden Brüdern gerade vorging, ich will nicht dazwischen geraten.
„Wenn es möglich ist, würde ich gerne heute etwas mit Willy machen", sage ich mutig, in der Hoffnung mehr Zeit mit dem Kleinen zu verbringen. Dieser springt aufgeregt von seinem Sitz und jubelt. Ich hoffe sie brechen ihm nicht das Herz mit einer Absage.
„Wir müssen ein paar Dinge für seinen Unterricht einkaufen, wenn du möchtest, kannst du mitkommen", höre ich meine Mutter sagen und bei dem Gedanken springt mein Herz einen Takt höher.
„Vater wollte sowieso, dass ich euch begleite. Also wenn du möchtest, kannst du gerne mitkommen", wirft Leander dazwischen und Beynon wirft ihm einen strengen Blick zu.
„An den Hafen?", fragt Beynon mahnend und ich sehe sein Missfallen. Leander scheint seinen Vorschlag nicht ganz durchdacht zu haben.
„Nachdem das beim Rummel geklappt hat, sehe ich keinen Grund, weshalb wir nicht auch zum Hafen gehen können", sagt er herausfordernd an seinen Bruder, der ihn immer noch streng begutachtet.
„Ich hatte Vaters Erlaubnis", sagt dieser kalt. Ohne eine Antwort, ob ich meine Familie begleiten darf, gehe ich zurück auf das Zimmer und lasse mich etwas traurig auf die Couch fallen. Die Freude des Morgens ist etwas abgeschwollen und ein Nebel der Enttäuschung hängt über mir.
Als es nach wenigen Minuten an der Türe klopft, springe ich aufgeregt auf. Beynon steht vor ihr, wirkt aber bedrückt.
„Das mit dem Ausflug heute geht nicht. Es ist kompliziert", begründet er, bevor ich nachfragen kann. „Aber wenn du möchtest, kannst du mit Willy im Spielzimmer etwas Zeit verbringen", schlägt er mir mitleidig vor. Augenblicklich hebt sich meine Stimmung und bevor ich mich versehe, falle ich ihm um den Hals.
„Danke", brülle ich glücklich und schrecke schnell zurück, als mir bewusst wird, was ich tue. Schnell streife ich mir mein Kleid glatt und wiederhole meinen Dank etwas zivilisierter.
Die Zeit mit meinem kleinen Bruder tut mir gut. Das beflügelnde Gefühl von heute Morgen vergrößert sich um ein mehrfaches und das Lachen aus meinem Gesicht hat kein Ende. Eine ganze Weile spielen wir Rollenspiele von Piraten, Rittern und sonst den wildesten Personen, die sich mein kleiner Bruder ausdenken kann. Wir werden genauesten von ein paar Wachmännern beobachtet. Ich vermute Beynon und Leander hatten keine Zeit. Als meine Mutter mit Leander erscheint, um die benötigten Schulmaterialien zu besorgen, fällt mir der Abschied von dem Kleinen schwer. Auch er hat mich inzwischen in sein Herz geschlossen.
„Du bist die beste Schwester der Welt", ruft er mir zum Abschied zu. Eine einzelne Träne rollt mir über die Wange. Er weiß, wer ich bin, jubelt mein Herz. Die ganzen letzten Wochen, war ich mir unsicher, ob er es weiß. Jetzt ist kein Zweifel daran. Ich starre ihnen, lange, nachdem sie aus meinem Blickfeld verschwunden sind, hinterher und lasse seine Worte immer wieder durch meine Gedanken hallen. Niemals habe ich gedacht, einen kleinen Bruder zu haben.
Das lässt den Kampfgeist wieder in mir wachsen und den Plan aus diesem Land zu verschwinden, wieder neu aufblühen. Bevor ich das tun kann, muss ich verstehen, weshalb ich hier bin. Es hat irgendetwas mit Beynons Kugel zu tun, da bin ich mir sicher. Und somit mit dem Abend des Balles und Caspians Aufzeichnungen. Caspians Aufzeichnungen! Erinnert mich mein Verstand. Das Journal des jungen Prinzen muss immer noch in der Zelle im Keller liegen. Als Beynon mich das letzte Mal von dort abholte, habe ich nicht daran gedacht es mitzunehmen. Die letzten Tage habe ich seine Existenz vergessen und auch das Zeichen auf meinem Arm nicht mehr betrachtet. Da ich die meiste Zeit langärmelige Kleidung trage, wird es nicht immer in mein Gedächtnis gerufen. Zwar kenne ich jedes Wort, jede Seite und jeden noch so unbedeutenden Fleck auswendig, trotzdem will ich es gerne wieder bei mir haben. Immerhin haben Kian und ich viel dafür riskiert. Wie bekomme ich zurück und vor allem wie komme ich an Informationen?
Bibliothek, schlägt mir mein Verstand vor. Auch in Merah haben Kian und ich es in der Bibliothek versucht. Wurden nicht fündig, aber ein Einbruch in die Gemächer des Königs von Evrem ist um einiges riskanter als damals in Merah. Eins nach dem anderen. Zuerst Bibliothek. Ich muss Beynon überreden mich in die Bibliothek zu lassen.
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