Kapitel 6
"Kommen Sie! Ich helfe Ihnen hoch zur Straße."
Wie selbstverständlich hakte sie mich unter und kurz darauf standen wir an der Straße, von der aus ich Eva entdeckt hatte. Etwas ermattet sank ich auf einen Baumstamm und war über Evas Angebot erleichterter als ich nach außen hin zeigte. Ein längerer Fußmarsch wäre in der Tat ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Eva betrachtete kritisch meinen in Schonhaltung nach vorn gestreckten Fuß und klang ein wenig schuldbewusst, als sie verkündete:
"Ich glaube, das Beste ist, dass da mal ein Arzt draufschaut. Ich nehme Sie mit zum Berghof, da können Sie dann noch mit uns essen und anschließend lasse ich Sie zurück zum Hof dieser Frau Huber bringen."
Wer zum Kuckuck war diese Frau? Ich wollte auf keinen Fall irgendwie in das Leben einer wie auch immer gearteten Prominenz treten. Abwehrend schüttelte ich daher den Kopf.
"Das ist lieb von Ihnen, danke, aber nicht nötig. Wenn Sie mich zurückbringen... oder zurückfahren lassen könnten, ist das alles, was ich brauche."
"Auf keinen Fall!", widersprach Eva. "Ich bin schuld an Ihrer Verletzung und das ist daher das Wenigste, das ich tun kann, um es wieder gutzumachen."
Sie sah so entschlossen aus, dass ich es aufgab, ihr die Idee ausreden zu wollen. Ehrlicherweise war ich sogar ein klein wenig neugierig darauf geworden, wie Eva wohnte, wenn sie sogar einen Chauffeur ihr eigen nannte.
Die nächste halbe Stunde verging damit, dass wir uns über Urlaube austauschten - ich hielt mich dabei an bewährte Wanderurlaube mit meinen Eltern, bei denen ich nicht viel falsch machen konnte. Eva hingegen wusste von aktuellen Italienaufenthalten mit ihrer Mutter und Schwester zu berichten, zu denen sie offenbar eine enge Beziehung hatte. Mit einem Mal war das Geräusch eines Motors zu vernehmen und gespannt blickte ich die Straße entlang. Ein altmodisches, schwarzes Auto näherte sich, mit elegantem, geschwungenen Kotflügel, Trittbrett und einem Mercedes-Stern auf der Motorhaube.
Es wäre untertrieben zu behaupten, dass ich nicht beeindruckt war. Ich war zwar kein großer Autofan, aber dieses offene Gefährt, das langsam auf uns zurollte und dann anhielt, war definitiv eindrucksvoll. Einen Moment später war ein Chauffeur mit eleganter Schirmmütze aus dem Auto getreten, um den Wagen herum gekommen und öffnete Eva zuvorkommend die Tür.
"Danke, Reinke", gab diese nachlässig zurück und verkündete dann: "Wir nehmen Frau...", fragend sah Eva mich an.
„Köhler", half ich rasch.
„...Frau Köhler mit. Sie hat sich den Fuß verletzt. Der Doktor soll sich das mal anschauen."
Der Kopf des Chauffeurs schwang zu mir herum. Aus unerfindlichen Gründen hatten sich seine Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengezogen und seine Augen verrieten leichtes Befremden. Laut sagte er jedoch nur:
"Der Doktor ist noch immer unterwegs..."
"Aber sein Assistent ist da", unterbrach Eva, ohne ihm eine Chance zu geben, seinen Satz zu beenden. Ihr Kinn war energisch nach vorne gestreckt.
"Ich weiß nicht, ob das so..." Erneut der abschätzende Blick auf mich. Ich hätte blind sein müssen, um nicht zu erkennen, dass er nicht viel davon hielt, mich mit zu Evas Zuhause zu nehmen.
"Schon gut, Eva, das ist wirklich nicht nötig...", wiegelte ich daher verlegen ab.
"Pappalapapp!", widersprach Eva und warf dem Chauffeur einen Blick zu, der ihren Ärger kaum verhehlte. "Ich kümmere mich schon!"
"Wie Sie wünschen, Fräulein Braun", erwiderte Herr Reinke schließlich mit einer Stimme, der nichts weiter anzuhören war. Ich runzelte indessen nachdenklich die Stirn, aber der Name Braun sagte mir nichts.
"Kommen Sie, Lena!", forderte mich Eva nun wieder gut gelaunt zum Einsteigen auf. Vorsichtig ließ ich mich in die weichen Polster fallen, während Eva hinter mir das Innere des Wagens betrat und der Chauffeur die Tür schloss. Mit einem sanften Schnurren rollte der Mercedes an und dann glitten wir mehrere Minuten die schmale Straße entlang, die sich inzwischen sanft in die Höhe wand. Ich warf einen verstohlenen Blick auf Eva, der der leichte Fahrtwind durch die Locken wehte. Wer war diese Frau, die anscheinend nicht alles bestimmen, aber den Einwand des Chauffeurs dennoch beiseitewischen konnte?
Einen Moment später umrundeten wir eine Biegung, die Bäume fielen hinter uns zurück und gaben die Sicht auf ein eindrucksvolles Bergmassiv frei. Der Wagen folgte den Serpentinen der Straße, die direkt auf ein helles, zweistöckiges Gebäude mit Spitzdach zuführten. Und dann - mir stockte der Atem in der Brust und ich krallte unwillkürlich die Hände ineinander - fiel mein Blick auf einen Fahnenmast, an dem eine kurz aufgeflatterte Fahne gerade wieder in sich zusammenfiel. Eine rote Fahne mit, wenn mich nicht alles getäuscht hatte, dem Hakenkreuz der Nazis.
Kaum bekam ich mit, dass wir langsam an einer Freitreppe vorbeirollten und um eine Kurve bogen, die uns an die Seite des Gebäudes brachte. Mein Kopf war auf einmal wie leer gefegt und mehr als alles andere wünschte ich mir, jetzt weit fort in meiner gemütlichen Wohnung in Hamburg zu sein. Mit Noah, Emily und einer Tüte Chips vor dem Fernseher zu sitzen und einen unserer Lieblingsfilme zu schauen.
Stattdessen hielten wir direkt neben zwei weiteren, schwarzen Wagen. Ich schaute zu Eva hin, deren Mienenspiel eine Mischung aus überraschter Freude und Besorgnis zugleich widerspiegelte. Während der Chauffeur nun stoisch ausstieg und die Wagentür öffnete, raunte ich Eva mit belegter Stimme zu:
"Es reicht wirklich, wenn Sie mich zurück zum Hof der Frau Huber fahren lassen."
Eva lachte. "Das kommt gar nicht in Frage! Erst möchte ich sichergehen, dass mit Ihrem Fuß alles in Ordnung ist."
Sie stieg aus und reichte mir dann die Hand, die ich zögernd ergriff. Das Herz schlug mir bis zum Halse und eingeschüchtert sah ich mich um. Wir befanden uns am Fuß des aus hellem Naturstein gebauten Hauses, das von hier aus ungemein hoch aussah. Die gleißende Sonne stand direkt über uns, so dass ich gezwungen war, die Augen zuzukneifen. Der Blick in die Ferne offenbarte bewaldete Berge, war aber nicht ganz so imposant wie zuvor und ging daher vermutlich in die Gegenrichtung. Die verhängnisvolle Fahne war von hier aus nicht mehr zu erkennen. Hatte mir die Vorstellung einen Streich gespielt? Doch irgendwie glaube ich nicht recht daran.
Ein weiteres Mal hakte Eva mich unter und wenig später verschwanden wir durch eine Tür ins Innere des Gebäudes, wo uns die angenehme Kühle eines fensterlosen Flures empfing. Während mein Puls galoppierte als wäre er ein Rennpferd auf der Zielgeraden, stiegen wir langsam eine hölzerne Stiege empor, woraufhin mich Eva in ein schmales, mit Tisch und Stuhl versehenes Zimmer führte. Ein leichter Geruch nach Zwiebeln und Karotten hing in der Luft.
"Setzen Sie sich, ich sage Herrn Heinrichs Bescheid", erklärte Eva und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass sich nun doch eine leichte Nervosität in ihre Stimme geschlichen hatte. Was mich nicht ruhiger machte. Ich setzte mich auf den Stuhl und umklammerte dabei das darauf befindliche Sitzkissen. Wenn nun jemand von der SS auftauchte, würde ich schreien, fuhr es mir leicht panisch durch den Kopf. Stattdessen erschien eine junge Frau, höchstens so alt wie die Magdalena, die ich immer noch verkörperte, und warf mir einen neugierigen Seitenblick zu.
"Hannah, würden Sie Fräulein Köhler einen Tee bringen?", wies Eva an und versicherte mir dann, gleich mit dem besagten Arzt zurückzukehren. Einen Augenblick später waren beide Frauen verschwunden. Meine Finger spielten mit den Fransen der Tischdecke, während mein Blick aus dem Fenster glitt und auf dem noch immer strahlend blauen Himmel verharrte. Sobald der Arzt meinen Fuß untersucht hätte, würde ich darauf bestehen, sofort zurück zum Hubertschen Hof gebracht zu werden, schwor ich mir im Stillen.
Kurz darauf betraten Eva, ein Mann in meinem eigentlichen Alter und Hannah nahezu gleichzeitig den Raum. Letztere stellte mir eine Tasse dampfenden Tees auf den Tisch und verschwand sofort wieder. Nach ein paar einleitenden Worten von Eva begrüßte mich Herr Heinrichs mit einem festen Händedruck und besah sich dann aufmerksam meinen Knöchel.
"Ich komme gleich wieder", versprach Eva und verschwand, bevor ich noch etwas einwenden konnnte. Der Arzt drückte an meinem Fuß herum, fragte nach Beschwerden und konstatierte schließlich ein paar Minuten später:
"Eine leichte Verstauchung. Nichts Schlimmes, aber es wird ein paar Tage schmerzen. Schonen Sie den Fuß. Ich mache Ihnen eine Bandage, das sollte beim Gehen behilflich sein."
Ich nickte nur, unfähig, irgendwelche Worte von mir zu geben. Der Arzt verabschiedete sich schließlich freundlich und mir blieb nichts anderes übrig, als auf Evas Rückkehr zu warten. Unruhig ließ ich meinen Blick von der karierten Tischdecke über das an der Wand angebrachte Bild eines fliegenden Adlers hin zu einer schmalen Kommode gleiten. Unter einer Vase mit einem kleinen Strauß Blumen - offenbar von einer Bergwiese gepflückt - lag eine Zeitung. Mit wieder erwachter Neugier erhob ich mich, um einen Blick auf das Datum zu werfen: 1. Juli 1938.
Ich schluckte, trat zurück zum Tisch und trank hastig einen Schluck Tee. 1938 also. Da hatte der Krieg noch nicht begonnen, oder? Alle Menschen, die ich bisher getroffenen hatte, wirkten jedenfalls ungemein entspannt. Ich hoffte daher inständig darauf, mich noch in Friedenszeiten zu befinden. Evas Hereintreten unterbrach meine Überlegungen.
"Und...?", wollte sie mit ernster Miene wissen, fand jedoch schnell ihr Lächeln wieder, als ich ihr von den Worten des Arztes berichtete. "Wunderbar." Strahlend fügte sie anschließend hinzu: "Sie essen noch mit zu Abend und dann lasse ich Sie zurückfahren."
Angesichts meines Protests zog Eva nur amüsiert die Augenbrauen hoch und versicherte lässig: "Es ist bereits alles geregelt." Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: "Wir beißen nicht."
Da war ich mir nicht so sicher, schwieg jedoch resigniert. Immerhin hatte ich Marc dann etwas zu erzählen. Vorausgesetzt, ich fand nachher zügig einen Weg zurück in die Gegenwart. Aber dieses Problem war im Moment ohnehin nicht zu lösen. Zunächst galt es, ein Abendessen mit Leuten hinter mich zu bringen, von denen ich annahm, dass es sich um stramme Nazis handeln würde. Eva ignorierte meinen leisen Seufzer. Sie warf mir einen auffordernden Blick zu, bis ich Anstalten machte, ihr zu folgen.
Nach einem längeren, mit gezeichneten Skizzen versehenen Korridor, in dem unsere Schritte auf dem Holzfußboden widerhallten, betraten wir einen großen, hellen Raum. Der Duft nach Käse und Wurst stieg mir von einer reichhaltig gedeckten Tafel in die Nase. Direkt davor stand eine Gruppe von vier miteinander ins Gespräch vertieften Anzugträgern, die sich durch unser Eintreten jedoch nicht stören ließen.
"Tante Eva!"
Ein kleines, etwa fünfjähriges blondes Mädchen mit großer Schleife im Haar kam auf meine Begleiterin zugerannt, die sich sofort zu ihm hinunterbückte. Drei der Männer wendeten die Köpfe in unsere Richtung, der Vierte, der uns bislang den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um. Sofort hatte ich das Gefühl, zu Eis zu erstarren, während mir gleichzeitig ein Schauder den Rücken hinunterlief. Der Mann, der mich aus etwa fünf Metern Entfernung abschätzend musterte, war - Adolf Hitler.
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