Kapitel 1
Es war hell im Zimmer. Viel zu hell. Hatte ich vergessen, das Rollo herunterzuziehen? Widerwillig schlug ich die Augen auf und blinzelte dann ein paar Mal. Es waren nicht die Sonnenstrahlen und auch nicht der darin in einem warmen Ton aufleuchtende Kleiderschrank oder der grün-blau-gestreifte Läufer vor dem Bett, die mir verrieten, dass etwas nicht stimmte. Es waren die Fensterscheiben, die so klar und durchsichtig waren, dass sie niemals zu einer Wohnung gehören konnten, in der ich lebte.
Von daher: wo war ich? Ich rieb mir mehrmals die Augen und dann glitt mein Blick über die Bettdecke mit kleinen rosafarbenen Karos bis hin zum Fußende des hölzernen Bettrahmens, in dem unsagbar kitschig ein Herz ausgeschnitten war. Fuhr mit den Augen einen hellen Holzfußbuden entlang hin zu einem altmodischen Schreibtisch, dessen zwischendrin taillierte Beine immer schmaler wurden. Der davorstehende Stuhl war von gleicher Machart, hatte Seitenlehnen, die in einem eleganten C ausliefen, und war mit einem flachen Sitzkissen versehen. Gemütlichkeit sah anders aus. Aber egal, dies war nicht meine Wohnung und somit konnte es mir egal sein.
Was aber immer noch nicht erklärte, wo ich nun war. Zu Bett gegangen war ich definitiv zu Hause und der gestrige Alkoholkonsum beim Spieleabend hatte sich in Maßen gehalten. Denn heute hatte ich in den Urlaub fahren wollen... Das musste es sein! Mein Urlaubsort. Wobei – ich rümpfte die Nase – so eine altmodische Ferienwohnung hätte ich mir nie im Leben ausgesucht. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es ja wüsste, wenn ich die Nacht durchgefahren wäre. Offenbar war ich einfach noch nicht ganz wach. Seufzend schloss ich die Augen und spürte unverändert das helle Sonnenlicht hinter meinen geschlossenen Lidern. Ein angenehmer Duft von Tanne drang durch das offenstehende Fenster ins Zimmer und irgendwelche Vögel gaben sich in der Nähe ein zwitscherndes Stelldichein.
Als ich die Augen langsam wieder öffnete, hatte sich leider nichts an dem Anblick im Raum geändert. Es war schon sehr kurios, wo ich offenbar in irgendeiner geistigen Umnachtung gelandet war, aber es musste sich mit Sicherheit um einen Buchungsirrtum handeln. Wie automatisch fuhr meine Hand zu dem Nachtschränkchen neben dem Bett – und blieb mitten in der Luft hängen. Irritiert zog ich sie zurück. Wo war mein Handy? Erneut suchte ich mit meinen Augen den ganzen, relativ kargen Raum ab, der außer Schrank, Bett und Tisch und Stuhl nicht mehr zu bieten hatte, und spürte langsam Panik in mir aufsteigen. Ich war davon nicht abhängig – natürlich nicht! – und konnte anders als meine Kinder auch mal ohne das Gerät sein. Aber jetzt hier irgendwo im Urlaub ohne Handy, das war etwas, worüber ich dann doch nicht nachdenken wollte.
Rasch schob ich die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Irgendwo musste es ja sein, vielleicht war es auf den Boden gerutscht. Die Dielenbretter fühlten sich angenehm unter meinen nackten Füßen an, aber im Moment stand mir nicht der Sinn nach Achtsamkeit. Zunehmend hektischer schritt ich durch das kleine Zimmer, aber das Einzige, was sich außer mir hier noch befand, waren eine kleine schwarze Bibel, ein flaches Büchlein mit offenstehendem Schloss und ein dunkler, mir unbekannter Koffer mit Schnallen um seinen Körper. Ich spürte, wie mir langsam der Schweiß ausbrach, obwohl eine leichte Brise die Gardinenschals am Fenster bewegte. Wenn ich nicht wusste, wo ich hier war, dann würden es sicher auch nicht meine Eltern und Kinder wissen und erreichen konnten sie mich auch nicht. Verdammt! Ich würde irgendwo im Ort ein Telefon suchen müssen. Falls es so etwas überhaupt noch gab. Wie lange hatte ich in Hamburg schon keine Telefonzellen mehr gesehen?
Entschlossen ging ich zum Schrank hinüber und öffnete ihn. Und erstarrte. Was mich auf den Bügeln hängend anlachte, waren alles – Dirndlkleider. Wo, verflucht, waren meine Jeans? Meine T-Shirts? Doch auf dem Regal daneben befanden sich nur noch Blusen. Und Unterwäsche. Von der Art, die meine Tochter als Oma-Wäsche betiteln würde. War hier vielleicht irgendwo eine versteckte Kamera? Argwöhnisch sah ich mich um. Doch alles, was ich gewahrte, war eine Amsel, die draußen auf dem Fensterbrett herumhüpfte und ein unmelodisches Pfeifen von sich gab. Blöder Vogel! Meine Finger umfassten das Longshirt, das ich trug. So würde ich jedenfalls nicht in den Ort gehen können. Ein Seufzer entrang sich meiner Kehle. Gezwungenermaßen würde ich also mit einem Dirndl vorlieb nehmen müssen.
Wahllos zog ich eine Bluse und eines dieser Kleider heraus, dunkelblau, mit hellblauer Schürze, und schlüpfte in beides hinein. Zu meiner Überraschung passten mir die Sachen so gut, als wären sie extra für mich geschneidert worden. Keck umspielte der weite Rock meine Füße und für einen kleinen Augenblick dachte ich dran, wie überraschend angenehm dieses Kleidungsstück zu tragen war... Absurd. Ich hatte noch nie ein Dirndlkleid getragen. Misstrauisch warf ich einen Blick in den ovalen Spiegel, der über einem Waschbecken an der Wand hing und mir mein zerzaustes Selbst präsentierte. Meine gestrige Flechtfrisur hatte sich in ein Nest verwandelt, das die Amsel vor dem Fenster bestimmt gern ihr eigen genannte hätte.
Mit geübten Finger löste ich die verknoteten Strähnen und flocht mein Haar neu. Ich liebte die verschiedenen Frisurvarianten, die mir mein langes blondes Haar ermöglichte, und hatte seit meiner Kindheit schon unzählige Flechtkreationen ausprobiert. Schließlich enthüllte mir mein Spiegelbild eine zwar etwas irritiert aussehende, aber ansonsten präsentable Frau. Fehlte noch ein wenig Schminke... Mehr verärgert als besorgt musste ich feststellen, dass ich keine bei mir hatte. Was zum Kuckuck – ich ging nie ohne ein Minimum an Verschönerung aus dem Haus. Das war doch nun echt nicht normal! Die kurzzeitig abgeflaute Panik meldete sich zurück. Hastig trat ich zum Fenster, das mir eine sonnenbeschienene Wiese und dahinter ein beeindruckendes Bergmassiv enthüllte. In die Berge hatte ich fahren wollen, das also war richtig... Aber an den Anblick dieses hohen Gebirges auf der Website konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Als ich mich umdrehte, streifte meine Hand etwas, das mit einem Poltern zu Boden fiel. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Es war das kleine Büchlein, das nun mit dem Rücken nach oben gelandet war und dalag wie ein kleines Zelt. Ich nahm es in die Hand und drehte es langsam um. Da, wo sich ein handgearbeitetes Lesezeichen befand, glitten die Seiten auseinander. Ein Tagebuch! Ein leichtes Kribbeln bemächtigte sich meiner, ohne dass ich es einordnen konnte. Ich schrieb zwar selbst keines, aber hatte über Romane genug an Tagebüchern verschlungen, dass ich behaupten konnte, dass sie eigentlich immer etwas Geheimnisvolles in sich bargen. Dennoch waren die Notizen hier drin nur spärlich. Wie jemand, der es versucht, aber rasch wieder aufgegeben hatte. Ichstolperte kurz über die ungewohnte Schrift - mit der ich mich als Jugendliche mal spaßeshalber beschäftigt hatte – aber schnell hatte ich mich wiedergefangen.
23. Mai
Mist! Habe es wieder nicht rechtzeitig geschafft. Herr Meier schaut strafend wie immer. Ob ich den wohl jemals zufriedenstellen kann? Louise immerhin zwinkert mir zu.
31. Mai
Ein Neuer ist da, zur Unterstützung. Ich mag ihn nicht. Er hat so einen scharfen Blick drauf, als würde ihm nichts entgehen.
10. Juni
Wieder Ärger mit Herrn Meier. Ein richtiges Donnerwetter entlud sich über mir. Ich kriege das fehlerlos einfach nicht hin. Die Kolleginnen tuscheln schon. Helmut meint, ich solle mir das nicht so zu Herzen nehmen.
20. Juni
Es wird immer schlimmer. Vor lauter Nervosität gelingt mir fast gar nichts mehr. Mit einem falschen, übertrieben freundlichen Lächeln hat mir Herr Meier eine Ruhezeit empfohlen. Will er mich loswerden? Ich könnte es ihm nicht verdenken, bei meinen ganzen Fehlern auf der Arbeit.
Die Arme! Sie tat mir richtig leid.
22. Juni
Auch Helmut meint, eine Auszeit täte mir gut... Oh Gott, ich bin so eine Enttäuschung. Dabei wollte ich das alles doch. Auf eigenen Füßen stehen. Aber vielleicht bin ich einfach doch nicht dafür gemacht. Ich könnte ja auch einfach kündigen und dann zu Hause bleiben. Kinder kriegen. Wie meine Freundinnen. Den Staat würde es freuen. Helmut erst recht...
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Diese Zeiten waren zum Glück schon lange vorbei. Wenn ich nicht trotz Kindern gearbeitet hätte, wer weiß, wo ich dann nach meiner Scheidung gelandet wäre.
29. Juni
Bin seit gestern krank zu Hause. Also eigentlich nicht richtig krank. Nur „seelisch erschöpft", wie der Arzt gesagt hat. Ich würde mir zu viele Gedanken machen. Wenn der wüsste, was für Gedanken mir so durch den Kopf gehen...
Ja, sag's mir! Gespannt las ich weiter.
30. Juni
Helmut hat mir eine Broschüre über die Berge hingelegt. Dort kannst du dich mal ausruhen, hat er gesagt. Er würde aber in Hamburg bleiben. Unabkömmlich natürlich. Aber ich alleine in den Urlaub...? Oder wie auch immer man es nennen sollte.
Später: Jedenfalls ist es kein Sanatorium oder so. Einfach ein Hof oben in den Bergen zur Erholung, in der Nähe von Berchtesgarden. War da nicht irgendwas? Hab es vergessen, werde heute Abend mal Helmut fragen.
2. Juli
Himmel, ganz alleine. Ich muss verrückt sein. Aber Mutti meint auch, das wäre gut. „Da kannst du in Ruhe herausfinden, was du wirklich willst", sagt sie. Vielleicht hat sie Recht...
4. Juli
Bin in der Bahn. Im gleichen Abteil ein ganzer Trupp Mädels in ihrer üblichen Kluft. Sie lachen ausgelassen, fröhlich. Als hätten sie nicht eine Sorge in der Welt. Beneidenswert. Andere hingegen...
Die nächsten drei Sätze weckten meine Neugier. Sie waren so dick durchgestrichen, dass sie nicht mehr zu lesen waren. Was hatte die Schreiberin verbergen wollen? Schließlich überflog ich die letzten Worte.
Egal. Es wird schon alles gut werden. ALLES!!!
Das klang überaus rätselhaft und ich fand es schade, dass das Tagebuch damit endete. Denn damit musste ich mich nun wieder meinem persönlichen Dilemma widmen, von dem mich die Sorgen dieses unbekannten Jemands für ein Weilchen abgelenkt hatten. Seufzend klappte ich das Büchlein zu, sah dann zum ersten Mal genauer auf den Einband, wo in das dafür vorgesehene Feld ein paar schwungvoll geschriebene Buchstaben gesetzt waren, und stutzte:
Magdalena Köhler.
Mein Name!
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