9. Wenn es rote Rosen regnet (2)
„Bist du dir sicher?"
„Nein, wie gesagt, es ist nur eine Hypothese."
Trotzdem beunruhigt mich das, was Philippe gesagt hat. Unwillkürlich frage ich mich, wo mein Vater jetzt ist. Warum hat er uns damals verlassen? Hatte es etwas mit dem Geheimbund der Elemente zu tun? Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass meine Schwester und ich Elementträgerinnen sind? Würde er uns verfolgen mit dem Ziel, uns unschädlich zu machen, sowie Professor Falcini seinen Sohn Giacomo?
„Das muss ich jetzt erst mal verdauen", meine ich und ordere beim Kellner eine Runde Schnaps für Philippe und mich. Die klare Flüssigkeit stürze ich schnell herunter. Sie brennt in meiner Kehle und macht es mir dennoch nicht leichter, zu begreifen, was Philippe soeben erzählt hat.
„Weiß Pietro darüber auch Bescheid?"
„Nein, nur mein Vater, dein Großvater, mein Onkel, Alessia und ich", sagt er. Ein bisschen macht mich das schon wütend, dass die anderen von Giacomos und Alessandros Vermutung wussten und niemand Kate und mich eingeweiht hat. Diese ständige Geheimniskrämerei bereitet mir Kopfschmerzen. Auch dass Giacomo mir nicht vertraut, macht mich wütend.
„Es gibt noch mehr", fügt Philippe schließlich hinzu. Ich schnaube. Na, da bin ich mal gespannt. Obwohl ich nicht davon ausgehe, dass mich nachdem, was ich soeben erfahren habe, noch irgendetwas überraschen könnte. Ich nicke und lege die Stirn in Falten als Zeichen, dass Philippe weiter sprechen soll.
„Isabella, die dürftest du auch kennen von den monatlichen Treffen des Geheimbundes, hat eine Professur für Pharmazie an der Universität in Mailand. Seit Oktober arbeitet ein Professor in der Biologie, der sie sehr an deinen Vater, also Ernesto, erinnert", fährt er fort, „sie versuchte bereits ihn zu kontaktieren und diskret nach dem Geheimbund zu fragen, doch er reagierte stets ziemlich abweisend." Daraufhin zuckt er nur mit den Schultern und nippt kurz an seinem Wasserglas. „Vermutlich handelt es sich bei diesem Professor nicht um Ernesto. Das würde auch gar nicht zu seiner Biographie passen. Der Geheimbund hat diese Spur deshalb bereits aufgegeben und trotzdem möchte ich dir davon erzählen. Ich bin der Meinung, dass es dein gutes Recht ist, davon zu erfahren", erklärt Philippe.
„Ja, danke", sage ich. Wir bestellen noch eine Runde Schnaps und ich schlinge den ersten Hauptgang nun nur so in mich hinein.
„Weißt du noch mehr über meinen Vater?", frage ich. Als ich letztes Jahr im Oktober zum ersten Mal von Ernesto Lombardini erfahren habe, wollte ich nicht wirklich viel von ihm wissen. Die Informationen, die ich damals von Giacomo und meinem Großvater bekam, reichten mir. Außerdem war ich damals viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich da noch mehr nachgefragt hätte. Nun aber hat Philippe das Interesse an meinem Vater geweckt.
„Er müsste mittlerweile sechsundfünfzig Jahre alt sein und er war promovierter Humangenetiker", sagt er, „als er noch für den Geheimbund arbeitete, akquirierte er Daten für eine genetischen Studie. Wie du weißt, wird die Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element vererbt. Den genauen Erbgang versteht jedoch niemand und auch dein Vater distanzierte sich schon ziemlich bald von seiner Forschung. Warum, vermag ich nicht zu sagen."
„Was soll ich denn jetzt mit dieser Information anfangen?", frage ich. Das alles ist zwar ziemlich interessant, aber dadurch weiß ich ja trotzdem nicht, wo sich mein Vater gerade aufhält.
„Das vermag ich dir leider auch nicht zu sagen. Ich denke nur, dass du Bescheid wissen solltest", gesteht Philippe. Ich rechne es ihm hoch an, dass er mir das unbedingt erzählen wollte. Nachdenklich betrachte ich sein Gesicht. Wenn ich ehrlich bin, sieht er nicht mal schlecht aus. Seine dunklen Augen wecken in mir die warme Erinnerung an den Sommer. Schnell wende ich mich wieder meinem Essen zu.
Philippes Worte spuken wie Geister in meinem Kopf herum. Das, was er mir erzählt hat, muss ich erst mal verdauen. Für einen Abend habe ich genug erfahren. Da ich mich mit ihm nicht weiter über meinen Vater unterhalten möchte, wechsele ich das Thema.
Schon bald reden wir gar nicht mehr über meine Familie, sondern über Philippes. Er verrät mir, wie es ihm ging, nachdem sein Bruder Leonardo von den Cinquenti getötet wurde. Philippe war damals gerade mal zweieinhalb Jahre alt, weshalb er sich nur noch schemenhaft an seinen kleinen Bruder erinnert.
Leonardo hätte an diesem Tag, dem vierzehnten Februar, Geburtstag gehabt. Deshalb kam es Philippe gelegen, dass ich Freitagabend für unser Treffen vorgeschlagen habe. Wenn es möglich ist, versucht er an diesem Tag mit Freunden auszugehen, um somit wenigstens für ein paar Stunden der bedrückenden Stimmung zu Hause zu entkommen. Da er zur Zeit aber bei seiner Tante und seinem Onkel in der Villa Belluco lebt, um seine Thesis zu schreiben und all seine Freunde noch in Bologna an der Uni sind, fällt diese Option für ihn wohl leider weg.
„Ich war so klein, als Leonardo geboren wurde. Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich gar nicht mehr richtig an ihn", gesteht er, „für mich war er immer schon nur mein toter Bruder."
„Weißt du denn, was damals genau passiert ist?", frage ich. Maria hat nicht sonderlich viel darüber in ihrem Tagebuch geschrieben, fast so als würde es ihr schwerfallen, ihre Gedanken zu dem Verlust ihres Enkels aufzuschreiben. Wenn etwas so Schlimmes passiert, wollen die meisten Menschen es wohl einfach nur vergessen.
„Mein Vater war gerade auf einer Bildungsreise in Schottland. Er wollte dort Anhänger für den Geheimbund der Elemente rekrutieren. Meine Mutter hat ihn mit uns Kindern besucht. Eines Nachts sind die Cinquenti in das Ferienhaus eingebrochen, in dem wir untergekommen waren. Dabei kidnappten sie meinen Bruder. Mein Vater war außer sich und an diesem Tag liquidierte er zwei der Cinquenti." Ich schlucke. Giacomo hat mir gleich bei unserer ersten Begegnung verraten, dass er zwei der Cinquenti getötet hatte, als diese seinen Sohn entführten. Dass er so offen damit umgeht, überrascht mich noch immer. Schließlich hatte er zwei Menschen getötet, Cinquenti hin oder her. Doch dafür wurde er nie belangt. Es ist, als sei der Tod dieser Menschen niemandem wirklich aufgefallen. Allein bei diesem Gedanken schaudert es mich.
Da ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll, nicke ich nur. Philippe sieht das scheinbar als Aufforderung, weiter zu sprechen, denn er holt tief Luft und fährt fort. „Zunächst wussten meine Eltern nicht, was meinem Bruder widerfahren war. Noch hatten sie Hoffnung, dass er am Leben sei. Sie suchten überall nach ihm. Als sie ihn schließlich fanden, war es zu spät. Das Waisenhaus, in dem die Cinquenti ihn übergangsweise untergebracht hatten, war abgebrannt. Leonardo und zwei andere Kinder sind in den Flammen ums Leben gekommen. Mein Vater vermutet, dass die Cinquenti hinter diesem Plan steckten. Damals haben ihn auf einen Schlag all seine Kräfte verlassen. Bis heute kann er keines der Elemente kontrollieren, dabei beherrschte er einmal alle vier. Er hat den Tod Leonardos nie überwunden."
Philippes Geschichte macht mich unglaublich traurig. Wie muss es sein, im Schatten eines toten Bruders aufzuwachsen?
„Und die Cinquenti, was haben die gemacht, nachdem sie Leonardo entführt haben?", frage ich.
„Die Cinqueni waren ein Experiment des Professors. Er hat sie mit Hilfe des fünften Elements so alteriert, dass sie mächtiger wurden als Normalsterbliche. Sie besaßen sogar in gewissem Sinn die Kontrolle über das fünfte Element und konnten ihre Gestalt wandeln. Allerdings hatte das auch einige Nachteile. Bei vielen von ihnen kam es durch die Magie zu malignen Neoplasien, wodurch sie jung verstorben sind."
„Also sie bekamen Krebs?", frage ich, woraufhin Philippe nickt.
„Es war folglich nicht sonderlich lukrativ für den Professor, die Cinquenti einzusetzen. Nur ungefähr eine handvoll wurden nicht krank."
„Und was ist aus ihnen geworden?"
„Zwei von ihnen wurden von meinem Vater getötet, als sie Leonardo entführten. Daraufhin zogen sich die anderen zurück. Wenn das fünfte Element keine Spuren an ihrem Körper hinterlassen hatte, so aber doch an der Psyche der Cinquenti. Mit der Zeit traten bei ihnen häufiger psychiatrische Erkrankungen auf, wie Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie. Somit wurden sie für uns ungefährlich. Ich schätze, sie haben versucht, ganz normal weiter zu leben. Einige von ihnen haben, wie du sicher weißt, sogar eine eigene Familie gegründet." Wieder nicke ich. Erstaunlich, wie viel Philippe über die Cinquenti weiß. Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin, mit ihm darüber zu reden. Er scheint nicht so ein Problem mit dem Thema zu haben wie der Rest des Geheimbunds.
„Und dann hat Falcini neue Cinquenti geschaffen", schlussfolgere ich.
„Ja", sagt Philippe, „in einer zweiten Versuchsreihe experimentierte der Professor mit den Kindern der Cinquenti, also Lucca, Serafino, Ludo, Emma und Hector. Diesmal eliminierte er die Fehler aus der ersten Versuchsreihe und stattete die Cinquenti mit einem Artefakt aus, dem Ohrring, den sie alle tragen und der sie mächtiger macht als wir Elementträger es sind. Bisher haben sie uns noch nie angegriffen oder uns ernsthaft Schaden zugefügt. Allerdings ist es wie eine tickende Zeitbombe. Irgendwann wird sie detonieren und dann werden wir Elementträger gegen die Cinquenti kämpfen müssen."
Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Allein die Vorstellung, ich müsste eines Tages gegen Lucca kämpfen, widerstrebt mir.
Mein Kopf brummt. Das sind eine Menge Informationen, die ich erst mal verdauen muss. Philippe hat Wort gehalten. Er hat mir tatsächlich verraten, worüber mein Großvater mit Giacomo sprechen wollte. Außerdem ist er mir nun um einiges sympathischer als vor unserem Essen.
Während wir uns unterhalten, werden der zweite Hauptgang und die Nachspeise serviert. Beides rühre ich kaum an. Es ist fast so, als wären die neuen Informationen von Philippe für meinen Magen schon schwer genug, da passt dann das Essen nicht auch noch rein.
Obwohl ich heftig protestiere, verlangt Philippe am Ende des Abends eine gemeinsame Rechnung. Grummelnd lasse ich zu, dass er für uns beide bezahlt. Da es zum Essen reichlich Schnaps und Wein gab, bin ich schon wieder ziemlich angeheitert. Das ärgert mich, da ich es dieses Jahr bis jetzt komplett ohne Alkohol ausgehalten habe und nach Silvester nicht so bald wieder etwas trinken wollte. Vor allem nicht, wenn Philippe dabei ist.
Nach der wohligen Wärme im Restaurant kommt es mir draußen auf den Straßen viel kälter vor. Fröstelnd reibe ich mir über die Arme und wickele den Schal fester um meinen Hals. Auf dem Rückweg möchte Philippe wissen, ob es in Ordnung ist, wenn wir noch einen Abstecher über den Friedhof machen. Zuerst will ich widersprechen, doch dann fällt mir ein, dass an jenem Tag ja der Geburtstag Leonardos ist, deshalb willige ich dann doch ein. Außerdem fühle ich mich Philippe gegenüber verpflichtet, nachdem er mir von meinem Vater erzählt hat.
„Danke, Brionna", sagt Philippe zu mir, „das bedeutet mir viel. Weißt du, für mich ist es nicht einfach, jemanden kennen zu lernen. Jedes Mal, wenn ich eine Frau kennen lerne, die mir gefällt, habe ich Angst davor, was sie wohl sagen wird, wenn sie vom Geheimbund und den Elementen erfährt. Aber du bist eine Elementträgerin, genau wie ich. Du verstehst, was es bedeutet, anders zu sein." Also ist das der Grund für Philippes Interesse an mir. Dass ich eine Elementträgerin bin. Gleichzeitig ärgere ich mich darüber, dass er mich immer noch so falsch versteht. Er ist doch nicht dumm und trotzdem will er nicht begreifen, dass das heute Abend kein Date war.
Dadurch sinkt die Stimmung zwischen uns erneut um ein paar Grad. Ich bin maximal angespannt und wünsche mir nur noch, dass der Abend endlich vorbei geht. In meinen Gedanken liege ich bereits in meinem Bett unter der dicken Decke, Kate neben mir und ich erzähle ihr, was ich an diesem Abend herausgefunden habe.
Während wir durch die leeren, dunklen Straßen laufen, wechseln wir kein Wort miteinander. Fast so, als wäre es unangenehm etwas zusagen.
Als wir den Friedhof erreichen, wird es nur noch seltsamer und ich verspreche mir selbst, dass ich mich nie wieder in so eine Situation bringen werde. Auf dem Friedhof stehen überall Schreine für Urnen. Außerdem gibt es traditionelle Gräber. Außer Philippe und mir ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Ein bisschen gruselig ist es schon, doch ich weiß genau, dass ich viel mehr die Lebenden als die Toten fürchten sollte.
Maria Vecca wurde in einem Familiengrab bestattet. Bereits zehn Jahre vor ihr verstarb ihr zweiter Mann, Simone Belluco und noch einmal zehn Jahre zuvor Leonardo Falcini. Seine Überreste liegen hier, bei denen seiner Großmutter. So tragisch seine Geschichte auch ist, auf irgendeine Weise finde ich es beruhigend, dass er nicht allein hier bestattet wurde, sondern mit seiner Großmutter.
Vorsichtig beuge ich mich zu dem Grab hinab und berühre die Buchstaben ihres Namens. Maria Iana Vecca. Philippe hat eine Valentinsrose aus dem Restaurant mitgebracht, die er nun auf dem Grabstein platziert. Ich dahingegen habe nichts. Dadurch fühle ich mich gleich noch schlechter. Ich sehe Philippe von der Seite an. Seine sowieso schon ernsten Gesichtszüge scheinen nun noch härter zu sein, falls das überhaupt möglich ist.
Maria Iana Vecca 05.08.1937 – 01.02.2014 lese ich. Im Vergleich dazu, kommen mir die Lebensdaten ihres Enkels absolut lächerlich vor. Leonardo Valentino Falcini 14.02.1993 – 11.09.1993. So ein kurzes Leben, so viel unausgeschöpftes Potenzial. Fast als hätte man eine Pflanze erstickt, noch bevor sie Blüten tragen konnte.
In diesem Moment verliere ich den Halt und rutsche auf dem matschigen Boden ein bisschen. Zum Glück kann ich mich an der Rückseite des Grabsteins festhalten. Meine Finger schrammen über unebene Einkerbungen in dem rauen Stein. Das erschreckt mich so sehr, dass ich dann doch nach hinten umkippe. Obwohl ich es nicht will, gebe ich ein erschrockenes Quieken von mir. Na toll.
Doch in diesem Moment ist Philippe tatsächlich einmal ganz der Gentleman und sofort an meiner Seite. „Alles in Ordnung?", will er wissen.
„Ja", sage ich, „ich glaube, ich habe etwas gefunden."
In meiner Jackentasche krame ich nach meinem Handy. Sobald ich es in der Hand habe, ziehe ich die Handschuhe aus, um so den Touchscreen besser bedienen zu können und schalte die Taschenlampenfunktion an. Tatsächlich. Auf der Rückseite des Grabsteins sind Buchstaben eingraviert. MIV.
„Das war bei der Beerdigung meiner Großmutter vor einem Jahr noch nicht da. Was ist das?", will Philippe wissen.
„Ich weiß es nicht", sage ich, „vielleicht ist das einfach die Nummer des Grabsteins." Doch ich weiß, dass das nicht so einfach ist. MIV sind Marias Initialen. Vielleicht ist hier der nächste Hinweis für uns versteckt. Zuerst macht das alles gar keinen Sinn für mich, doch dann lese ich den Trauerspruch, der unter Marias Namen steht. „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet." Wie es aussieht, ist das ein Bibelvers. Ich weiß nicht, in welchem Kontext er steht oder was er bedeutet, aber auf einmal weiß ich, wo ich nachschauen muss.
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