7. Die Versammlung (4)
Für einen Augenblick bleibt mir die Spucke weg. Ich kann gar nicht glauben, was Philippe da sagt. „Erpresst du mich etwa?!", entfährt es mir.
„Erpressung ist ein hartes Wort", entgegnet Philippe. Am liebsten hätte ich mich sofort umgedreht und wäre gegangen. Glaubt er etwa, dass ich mit ihm ausgehe, wenn er mir ein Geheimnis verrät? Gleichzeitig bin ich aber unglaublich neugierig. Ich wüsste schon gerne, was Grandpa von Giacomo wollte.
„Warum willst du mit mir ausgehen?", hake ich nach.
„Naja... du gefällst mir. „Und ein Rendezvous scheint mir eine gute Gelegenheit, dich besser kennen zu lernen", gesteht er. Wieder wendet er den Blick ab und beschäftigt sich mit den Kieselsteinen zu seinen Füßen.
Ich schnaube. „Und mich mit irgendwelchen Geheimnissen neugierig zu machen scheint dir der richtige Weg zu sein?"
Völlig perplex sieht Philippe wieder auf. „Ich wollte dich nicht insultieren. Sofern ich zu energisch war, tut mir das leid."
„Insultieren ist ein hartes Wort", äffe ich Philippe nach. Wieder zieht er den Kopf ein. Trotzdem tut er mir nicht länger leid. Es fällt mir schwer, Philippes Angebot nicht sofort auszuschlagen. Deshalb schlucke ich nur schwer.
„Ich denke darüber nach", antworte ich und verfluche mich dafür, so einfach nachgegeben zu haben, „ich melde mich bei dir." Mit diesen Worten drehe ich mich um und laufe zum Auto, wo Kate bereits auf mich wartet.
Schwungvoll reiße ich die Autotür auf und lasse mich auf den Fahrersitz plumpsen. „Na, hat er dir gesagt, dass er dich gut findet? Magst du ihn auch?", fragt Kate und zieht verschwörerisch die Augenbrauen hoch.
„Halt die Klappe!", raune ich ihr zu und starte den Motor. In mir hat sich eine Menge Energie aufgestaut, die nun nur darauf wartet, frei gelassen zu werden. Deshalb fahre ich auch nicht auf direktem Weg nach Hause, sondern zu dem Ort, an dem ich im Winter immer all meine aufgestaute Energie loswerde.
~
Ich atme ein paar Mal tief ein und schließe die Augen. Da ist es wieder. Das vertraute, wohlige Kribbeln in meiner Magengegend, das langsam durch meinen Körper pulsiert. Ich weiß genau, was gleich auf mich zukommt und ich kann es kaum noch erwarten. Es ist viel zu lange her, seit ich zum letzten Mal so hier stand. In freudiger Erwartung hebe ich die Arme hoch über meinen Kopf. Die Augen halte ich geschlossen. Fast schon automatisch gehe ich in die Hocke. Ich liebe diese einfachen, fließenden Bewegungen. Als würde gleich etwas Großes, Wundervolles beginnen.
Dann stoße ich mich kräftig ab und springe. Meine Fingerspitzen berühren das Wasser zuerst, bevor sie eintauchen. Danach folgen meine Arme, der Kopf und schließlich der Rest meines Körpers.
Sobald ich vollkommen unter Wasser bin, lasse ich die Luft aus meinen Lungen strömen. Dann beginne ich mit den ersten kraftvollen Schwimmzügen, die mich rasch voran bringen. Die Bahnen ziehen an mir vorüber wie in einer Trance, bis schließlich das aufregende Kribbeln in meinem Körper abflaut und einer unglaublichen Ruhe Platz macht. Ich liebe es einfach, zu schwimmen, mich für einen Moment nur auf meine Bewegungen und meine Atmung zu konzentrieren und alles andere zurück zu lassen. Obwohl ich mich dabei oft total verausgabe, merke ich dennoch, wie alles in mir ruhig wird und ich zu mir selbst finde. Für einen Moment ist alles gut.
Ich merke beim Schwimmen meist gar nicht, wie die Zeit vergeht oder was eigentlich um mich herum geschieht. Fast schon als wäre ich abgeschnitten von der Welt. Wie in einer Trance. Eine Bahn nach der anderen gleitet an mir vorüber, bis ich plötzlich spüre, wie sich das Wasser um mich herum verändert. Zunächst sind es nur kleine Luftblasen, die meinen Bauch kitzeln, dann wird das Wasser für einen Augenblick so kalt, dass es mir in die Haut sticht. Im darauffolgenden Moment wird es wieder heiß, sodass ich erschrocken aufschreie. Panisch tauche ich auf. Die Bewegungen, mit denen ich nun an den Beckenrand paddele, haben überhaupt nichts Elegantes mehr an sich. Vor Schreck zitternd klammere ich mich an den kühlen Fließen fest.
Da erscheinen ein paar weiße Flipflops und rot lackierte Zehennägel in meinem Blickfeld. Meine Augen gleiten über weiße Shorts und ein rotes T-Shirt hoch bis ins lächelnde Gesicht meiner Schwester.
„Das ist nicht lustig, Kate!", fauche ich, „ich hätte ertrinken können." Fast schon übertrieben theatralisch verdreht sie die Augen. „Hättest du nicht", meint sie und beugt sich zu mir hinab, „ich kann so etwas verhindern, schon vergessen?"
„Und wenn jemand etwas mitbekommen hätte, was dann?", frage ich. Immer noch zitternd drehe ich mich um. Das Schwimmbecken ist vollkommen ausgestorben. Das Wasser liegt glatt und ruhig im Becken und auch in der Schwimmhalle ist kein einziger Mensch zu sehen. Nicht mal einen Bademeister kann ich entdecken.
Kate und ich sind im Hallenbad von Grosseto. Beinahe jedes Mal, wenn ich mich über den Unterricht bei Giacomo geärgert habe, muss ich mich danach abreagieren. Da der Weg nach Hause direkt an Grosseto und somit auch am Schwimmbad vorbei führt, ist es für mich schon fast zur Gewohnheit geworden, hier Halt zu machen. Nach ein paar Bahnen geht es mir meist viel besser.
Weil Kate bei mir im Auto mitfährt, muss sie zu meinen Abstechern ins Schwimmbad mitkommen. Doch sie findet das gar nicht schlimm. Im Gegenteil. Meist nutzt sie die Zeit, um das Wasser in dem kaum besuchten Schwimmbecken zu verzaubern. Das stört mich total, aber nicht nur mich, sondern auch andere Schwimmgäste hat sie damit schon vertrieben. Im Gegensatz zu mir wissen sie schließlich nicht, warum das Wasser plötzlich seine Temperatur ändert oder warum es kurz vor ihren Köpfen in einer Fontäne aufsteigt.
„Der Bademeister ist schon längst in die Duschen gegangen, um dort sauber zu machen", meint sie und zuckt mit den Schultern, „er hat gesagt, wenn ich dich nicht aus dem Wasser kriege, dann schließt er uns hier ein. Das wäre eigentlich auch ganz lustig, hab ich mir überlegt, aber dann hatte er so einen bösen Gesichtsausdruck drauf und ich hab dich gerufen, aber du hast mich nicht gehört, also musste ich etwas anderes probieren." Wieder grinst sie frech. Doch ich bin viel zu aufgewühlt, um zurück zu lächeln. Noch immer zittern meine Arme. Nur mir Mühe stütze ich mich auf dem Beckenrand ab und schwinge meine Beine aus dem Wasser.
„Ich meine es ernst", knurre ich, sobald ich vor Kate stehe, „keine Experimente mehr, wenn ich im Wasser bin!" Im nächsten Moment stellen sich alle Härchen an meinem Körper auf. Ein kribbliger, warmer Schauer läuft über meine ganze Haut. Ehe ich mich versehe, bin ich vollkommen getrocknet. Nicht mal meine Haare sind noch nass. Kate schon wieder. Sie hat das Wasser trocknen lassen. Das ist eine andere nervige, neue Angewohnheit von ihr. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, benutzt sie ihr Element. Ich weiß nicht mal, wann ich mich das letzte Mal nach dem Schwimmen abgetrocknet oder mir die Haare geföhnt habe.
Ich muss mich nicht mal anstrengen, um Kate einen meiner berühmtberüchtigten Killerblicke zu zuwerfen. Augenblicklich zeigt er Wirkung. Meine Schwester sieht ein bisschen schuldbewusst, wenn nicht sogar betroffen aus. „Du bist gar nicht mehr im Wasser", nuschelt sie reumütig, „das zählt eigentlich gar nicht."
~
„Was auch immer Grandpa mit Giacomo besprochen hat, es muss ja ein ziemlich großes Ding sein, wenn er nicht will, dass wir davon erfahren. Sonst wäre es ihm ja egal gewesen, ob du zuhörst oder nicht", gibt Kate auf der Heimfahrt zu bedenken, „so ein Mist, dass wir das nicht noch mit abgehört haben. Wir dachten, das treffen sei vorbei." Nachdem ich mich beim Schwimmen abreagiert habe, habe ich ihr erzählt, was Philippe von mir wollte. Genau wie ich ist sie neugierig, was er mir wohl über Grandpa und Giacomo verraten möchte.
„Ja schon." Darauf nicke ich nur. „Allerdings glaube ich nicht, dass ich mit Philippe ausgehen sollte."
„Warum denn nicht?", gibt Kate zu bedenken, „Philippe ist eigentlich ganz nett. Na gut, die Art und Weise, wie er dich gefragt hat, ob du dich mit ihm treffen willst, war ein bisschen plump. Aber so ist er halt. Ich glaube nicht, dass er das böse gemeint hat. So ist er halt." Ich schnaube. Das ist ja eine schöne Entschuldigung für sein Verhalten.
„Siehs doch mal so. Vielleicht überrascht er dich ja und dann ist es so wie mit Lucca. Von dem warst du am Anfang doch auch nicht begeistert und am Ende mochtet ihr euch ganz gerne", fährt Kate fort. Meine Finger um das Lenkrad verkrampfen sich. Zum einen hat Kate Recht und zum anderen trifft sie damit meinen wunden Punkt. Vielleicht sollte ich Philippe eine Chance geben.
Als wir wieder zu Hause sind und mein Handy sich ins WLAN eingeloggt hat, schreibe ich ihm, dass ich am nächsten Freitag Zeit habe, woraufhin er nur antwortet, er würde mich dann um 19 Uhr zu Hause abholen. Beim Abendessen könnte er mir mehr verraten.
Am nächsten Tag skype ich mit meiner besten Freundin Maddie aus England und erzähle ihr sofort von Philippe und unserer Verabredung. „Ich weiß wirklich nicht, ob das so eine gute Idee ist", gestehe ich.
„Ich kann dich verstehen", pflichtet Maddie mir bei, „aber Kate hat auch Recht. Philippe war bisher immer ziemlich nett, aber halt ein bisschen zurückhaltend und unsicher. Du kannst es mit ihm ja einfach mal ausprobieren."
„Denkst du wirklich?"
„Ach Nini... sieh's mal so, vielleicht verrät er dir nächste Woche ja wirklich etwas Neues. Das wäre doch was. Du beschwerst dich schon seit Längerem, dass es nicht so wirklich vorangeht beim Geheimbund. Vielleicht ist damit jetzt ja endlich Schluss", sagt sie. Da muss ich grinsen. Maddie hat wie meine kleine Schwester Kate die Eigenschaft, allem etwas Positives abgewinnen zu wollen. Gleichzeitig erinnert sie mich aber auch oft an unangenehme Wahrheiten. „Außerdem habt ihr beiden euch doch an Silvester so gut verstanden. Seit du in Italien bist, hattest du nur diesen kurzen Flirt mit Lucca und das hat sich ja wohl endgültig erledigt."
Was Maddie sagt, stimmt. Lucca und ich waren einander letzten Sommer ziemlich nahe und er hat mich sogar einmal geküsst. Aber mehr ist da nicht gelaufen und jetzt ist er weg.
Vielleicht hat sie Recht und ich sollte Philippe noch eine Chance geben. Viel zu oft lag ich schon mit meiner ersten Einschätzung von Leuten falsch und habe sie zu schnell verurteilt.
Trotzdem bin ich nicht sonderlich erpicht auf das Treffen mit Philippe und hätte er mich nicht damit geködert, dass er mir von dem Gespräch zwischen meinem Großvater und Giacomo erzählen möchte, wäre ich vermutlich niemals mit ihm ausgegangen. Als ich Pietro frage, worum es sich bei diesem geheimen Gespräch denn gehandelt haben könnte, zuckt er nur mit den Schultern. „Keine Ahnung", sagt er dazu.
Na super, falls Philippe das nur gesagt hat, um mich rumzukriegen, haue ich sofort wieder ab und lasse ihn stehen. Wenn er mit mir ausgehen möchte, dann muss er mir schon etwas bieten. Dieser Meinung ist auch Kate, die meint, ich könnte während meiner Verabredung mit Philippe jederzeit schreiben. Falls ich eine Ausrede bräuchte, um früher nach Hause zu gehen, würde sie mich einfach anrufen und mir einen Grund liefern, ihn sitzen zu lassen. Gleichzeitig lässt mich jedoch eine Frage nicht los: Was ist es bloß, das Grandpa vor uns verbirgt?
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