69. Geschmack der Veränderung (2)
Anfang Juni werden die Zwillinge Davide und Vittoria sechzehn Jahre alt. Zu dieser Gelegenheit wollen sie mit ihrer Familie und Freunden feiern. Aufgrund der jüngsten Ereignisse sind sie sich allerdings lange Zeit nicht sicher, ob sie das wirklich tun sollen. Letztendlich haben sie sich aber dazu entschieden. Je eher wir uns an die Veränderungen gewöhnen und das Leben ganz normal weitergehen lassen, desto besser, meint Davide.
Das ist ein Punkt, in dem ich ihm zustimme, wobei ich mir nicht sicher bin, ob mein Leben jemals wieder normal sein wird. Normalität scheint Lichtjahre von mir entfernt zu sein. Aber daran, dass sich alles von jetzt auf gleich ändert, sollte ich mittlerweile ja eigentlich gewöhnt sein.
Auf jeden Fall findet in der Villa Belluco am Nachmittag des Geburtstags der ZWillinge ein Kaffeetrinken in etwas größerem Rahmen stat. Auch meine Großeltern, Mum, Antonio, Kate und ich sind eingeladen.
Wenn mein Vater da gewesen wäre, häte er bestimmt auch mit auf den Geburtstag kommen können, doch er ist in seinem Haus am See bei Bethany. An dem Tag, an dem wir von Apice zurückgehert sind, ist Bethany tatsächlich nach Castiglione della Pescaia gefahren. Sie war bei der Versammlung des Geheimbundes dabei, hat sich unsere Erzählungen angehört und schließlich sogar ihre eigene Version der Geschichte preisgegeben. Allerdings ist sie dem Geheimbund nicht beigetreten, sehr zum Missfallen von Giacomo, der wohl hoffte, sie für seine Sache begeistern zu können. Abends war sie dann mit meinem Vater im Tre Panocchie, dem Restaurant meiner Großeltern, um mit uns allen gemeinsam zu essen.
Nonna hat sich zunächst geweigert, sich mit meinem Vater an einen Tisch zu setzen.
„Das ist ja schön, wenn ihr alle ihm unbedingt verzeichen möchte, aber ich kann einfach nicht vergessen was er unserer Familie angetan hat", hat sie nur gemeint und dabei stur die Arme vor der Brust verschränkt. Daraufhin gab es zwischen Mum und Nonna eine heftige Auseinandersetzung, die sogar lauter geworden ist, aber schließlich ließ sich Nonna dann doch dazu überreden, mit uns zu essen. Trotzdem hat sie an diesem Abend kaum einen Bissen heruntergebracht.
Ich war dabei eher auf Nonnas Seite, doch ich habe nichts gesagt, um meiner Familie die ganze Sache nicht noch schwerer zu machen. Die Stimmung war an jenem Abend sowieso schon angespannt genug. Mein Vater saß mit eingezogenem Kopf zwischen Kate und Bethany und wirkte irgendwie elend. Wann immer er etwas sagte, zuckte sein Blick zu Nonna hinüber, die ihn mit dunklen Augen anfunkelte. Kate, Bethany und mein Großvater waren um eine oberflächliche, freundliche Konversation bemüht. Trotzdem wollte keine behagliche, familiäre Atmosphäre aufkommen. Schließlich haben sich mein Vater und Bethany kurz nach dem Dessert schon verabschiedet und sich für das Abendessen bedankt. Danach habe ich die beiden nicht wieder gesehen.
An den darauffolgenden Tagen habe ich manchmal gemeint, Mum weinen zu hören, wenn ich an ihrem Zimmer vorbeiging, doch ich habe mich nie getraut, bei ihr zu klopfen und nachzusehen. Ich glaube sowieso, dass es ihr unanngenehm gewesen wäre, zuzugeben, wie nahe ihr das Wiedersehen mit Ernesto geht.
Seit dem ist Antonio öfter bei uns als vorher und ich merke, dass er ihr Halt gibt. Obwohl ich einen seltsamen Start mit ihm hatte, muss ich feststellen, dass wir langsam wärmer miteinander werden. Wenn ich ehrlich bin, finde ich ihn sogar ziemlich witzig. Außerdem tut er meiner Mutter gut. Mit ihm ist sie auf einmal viel ausgelassener udn glücklicher als früher. Ein bisschen ist es, als würde er ihr einen Bezug zur Realität geben und als könnte sie mit ihm endlich einen sicheren Hafen ansteuern.
Was meinen Vater betrifft, so ist er mit Bethany nach unserem gemeinsamen Abendessen wieder nach Vatenna gefahren. Bisher hat er sich nur sehr spärlich bei uns gemeldet. Kate hat ein paar Mal bei ihm angerufen, um zu quatschen, aber die Telefonate der beiden waren nie besonders lang. Von ihm selbst kam nur selten die Initiative zu einem Gespräch, wodruch sich mir die Frage aufdrängt, ob er einfach nur unsicher ist, wie er sich nun nach dreizehn Jahren Funkstille verhalten soll oder ob er eigentlich keinen Kontakt zu uns möchte. Dieses Verhalten macht mich wütend und manchmal muss ich meine Gefühle regelrecht wie bittere Galle herunterschlucken. Das ist genau die Situation, vor der ich meine Schwester beschützen wollte.
Kate ist ziemlich enttäuscht darüber, dass unser Vater sie nicht mit offenen Armen empfängt, aber sie gibt sich alle Mühe, das zu verbergen oder sich irgendwelche Entschuldigungen für ihn zurecht zu legen. „Weißt du, für ihn ist das alles ja auch mega ungewohnt. Da sollte ich vielleicht nicht zu viel von ihm erwarten", hat sie eines Nachmittags beim Spazieren mit John Lennon zu mir gesagt. Dadurch wurde ich nur noch wütender. Es ist nur natürlich, eine Beziehung zum eigenen Vater aufbauen zu wollen.
Wobei, was das angeht, so habe ich allerdings nicht das Bedürfnis danach. Beinahe jedes Mal, wenn über ihn gesprochen wird, fühle ich mich, als wäre er ein Eindringling in meinem Leben. Jemand, der nicht dazu gehört und den ich ungern dabei haben möchte.
Doch gleichzeitig spüre ich, dass sich bereits so viel verändert hat. Der Geschmack dieser Veränderung ist bitter und schal.
Seit ich aus Apice zurück bin, fühle ich mich unausgeglichener denn je und irgendwie rastlos. Manchmal fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Ständig rasen die Gedanken hinter meinem Kopf und verfangen sich in Knoten, die ich nicht lösen kann. Woran das liegt, kann ich nicht wirklich benennen und diese Tatsache macht mich beinahe noch mehr verrückt als die Ruhelosigkeit an sich.
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich in letzter Zeit so schlecht schlafe. Die Wunde, die der Giftpfeil des fünften Elements hitnerlassen hat, verheilt zwar ziemlich gut, aber die Haut an dieser Stelle schmerzt noch immer. Des Öfteren schrecke ich nachts schweißgebadet vor Schmerzen hoch, nur um dann stundenlang nicht weiterschlafen zu können.
Das beunruhigt mich ziemlich doch trotzdem habe ich mich zuerst nicht getraut, mit jemandem darüber zu sprechen. Schließlich hat Kate jedoch mitbekommen, wie ich nachts aufgewacht und durchs Haus geschlichten bin. Als sie mich mit großen, besorgten Augen angesehen hat, konnte ich nicht anders, als ihr zu erzählen, was mich beschäftigt. Das hat natürlich nur dazu geführt, dass sie sich noch mehr Sorgen um mich gemacht hat. „Vielleicht solltest du mal mit Lucca darüber reden", schlug sie vor, „der kennt sich doch mit dem fünften Element aus und kann dir sagen, ob so etwas normal ist."
Was Lucca angeht, so habe ich tatsächlich kaum mit ihm gesprochen, seit wir aus Apice zurück sind. Es ist nicht so, dass ich es nicht wollte, bisher hat sich bloß nicht die Gelegenheit dazu ergeben. An dem Tag, nach dem wir Marias Geheimnis gelüftet haben, waren wir beinahe ununterbrochen damit beschäftigt, den Mitgliedern des Geheimbundes Rede und Antwort zu stehen und unsere Geschichte zu erzählen.
Das alles hat mich so erschöpft, dass ich die nächsten Tage erstmal komplett im Bett verbracht habe. In der Zwischenzeit kam das Ergebnis des Vaterschaftstests von Giacomo und Lucca. Als Reaktion darauf ist die Familie Falcini für zwei Wochen nach Sizilien geflogen, wo Giacomo und Susanna ein Haus haben. Dort wollten sie sich erstmal ein bisschen Zeit für sich nehmen, um die Neuigkeiten gemeinsam zu verdauen.
Ich weiß, ich hätte Lucca anrufen und mit ihm sprechen können, doch irgendetwas hat mich davon abgehalten. Schließlich wurde gerade seine ganze Welt auf dem Kopf gestellt. Er hat seine leibliche Familie kennengelernt und gleichzeitig seine andere Familie und Freunde verloren. Was aus den Cinquenti geworden ist, weiß nämlich niemand. Ich kann mir nur annäherungsweise vorstellen, wie es Lucca wohl gehen muss und ich möchte ihm unbedingt den Freiraum geben, den er braucht.
Außerdem hätte er sich ja wohl bei mir gemeldet, wenn er mit mir reden wollte. Dadurch fühlt es sich irgendwie so an, als hätten wir die Sache, die zwischen uns lief pausiert, auch wenn wir nie persönlich darüber gesprochen haben. Vielleicht ist das ja sogar besser so. Dann können wir uns erstmal auf uns selbst und unsere Familien konzentrieren.
Wie dem auch sei, auf jeden Fall werde ich ihn auf dem Geburstag der Zwillinge zum ersten Mal wiedersehen. Deshalb bin ich entsprechend nervös vor unserem Aufeinandertreffen. Wie wird es sich anfühlen? Werde ich eher eine Distanz oder Anziehung zu ihm spüren? Und vor allem, was soll ich zu ihm sagen? Was sagt man zu jemandem, dessen Leben gerade auf den Kopf gestellt wurde und der nun keine Ahnung hat, wie es für ihn weitergehen soll? Habt ihr da eine Idee?
Bevor wir an diesem Tag zu den Bellucos fahren, glätte ich ausnahmsweise meine Haare und lege ein dezentes Make-Up auf. Während ich das Auto zur Villa Belluco lenke, flattert mein Herz und mein Magen kribbelt unangenehm. Doch als wir auf der Party eintreffen, sind die Falcinis noch nicht da. Dafür tummeln sich aber Freunde von Davide und Vittoria bereits um Tische, die auf der Terasse und im Esszimmer aufgestellt wurden. Es gibt gleich sechs verschiedene Kuchen und sogar eine Schokotorte, die von der Sommerhitze bereits ziemlich mitgenommen aussieht.
„Oh wie schön, dass ihr da seid", begrüßt uns Gaia Belluco, sobald sie uns sieht, „nehmt doch etwas von der Torte, die hält sich nicht mehr so lange." Mit diesen Worten schaufelt sie jedem von uns ein Stück Schokotorte auf die Teller.
Mum probiert sogar gleich begeistert einen Bissen. Genüsslich verdreht sie die Augen. „Oh mein Gott", stöhnt sie, „da könnte ich mich reinsetzen. Ihr habt euch mal wieder selbst übertroffen." Auch Kate ist hellauf begeistert, während mir die Torte einfach zu möchtig ist und ich das Stück nur mit Mühe in meinen Mund schiebe.
Kaum dass ich fertig gegessen habe, kommen auch schon Davide und Vittoria auf uns zu. Wir umarmen die beiden herzlich und ehe wir ihnen ihre Geschenke überreichen können, zieht Davide Kate und mich auch schon mit sich. Er möchte uns unbedingt etwas von der Weinbowle zum Probieren geben, die er gemacht hat.
„Das Rezept habe ich im Internet gefunden", erklärt er, „mein Vater war gar nicht begeistert davon. Er meint, so etwas mache man mit Wein nicht, aber ich finds echt gelungen. Auf jeden Fall haben wir eine Wette daraus gemacht. Wenn ich mehr als die Hälfte aller Gäste von der Bowle überzeugen kann, tauschen wir die Händis. Er hat ein neueres iPhone als ich." Er lächelt verschmitzt, worüber ich nur den Kopf schüttele.
Trotzdem folge ich ihm auf die Terrasse der Villa, wo im Schatten eine große Schüssel steht, die mit einer hellen Flüssigkeit gefüllt ist, auf der Zitronen-, sowie Limettenscheiben und Minze schwimmen. Davide greift nach zwei Bechern und schöpft uns großzügig etwas von seiner Bowle dort hinein. Dankbar nehme ich das Getränkt von ihm entgegen und stoße dann mit ihm und meiner Schwester an.
„Auf das Leben und darauf, dass sich letztendlich alles zum Guten gewendet hat", meint Davide. Unsere Becher stoßen klingend gegeneinander und die Weinwohle rennt süß-lieblich an meiner Kehle vorbei. Was auch immer Alessandro meint, die Bowle ist echt super. In diesem Fall werde ich wohl zu Davide halten müssen.
„Vor allem mit ihm haben wir eine echte Chance gegen das fünfte Element." Davide nickt zur Villa Belluco hinüber. In der Terrassentür lehnt sich Lucca lässig gegen den Türrahmen. Bei seinem Anblick pocht mein Herz laut und schnell in meiner Brust und in meiner Magengegend kribbelt es wie verrückt. Meine Handflächen schwitzen und mein Mund fühlt sich auf einmal so trocken an. Hastig nehme ich noch einen Schluck Wein, um meine Gefühle darin zu ertränken.
Lucca steckt in schicken Klamotten, die so gar nicht zu ihm passen. Seine Hose schlackert über den Knöcheln und das Polo-Shirt, was er trägt, ist um die Schultern etwas zu weit. Jede Wette, dass das eigentlich Pietros Klamotten sind.
Hinter ihm steht Giacomo, der ihm nun ein Bier in die Hand drückt. Mit einem Lächeln nimmt Lucca es entgegen. Dann stößt er mit Giacomo an und beide trinken einen Schluck. Es ist ein seltsames Bild, wie Vater und Sohn da nebeneinander stehen. Obwohl ich es nicht möchte, versetzt es mir einen kleinen Stich.
Augenblicklich muss ich an meinen Vater denken, der hunterte von Kilometern entfernt mit seiner neuen Frau am See sitzt und sich nicht mal die Mühe macht, eine Bindung zu Kate und mir aufzubauen. Schnell kippe ich den Rest meiner Wein-Bowle auf es herunter und schöpfe gleich noch einen neuen Becher aus der Schüssel.
„Die verstehen sich aber gut", bemerke ich. Wie schafft es Lucca nur, so leicht mit den Veränderungen umzugehen? Es wirkt beinahe, als mache ihm all das gar nichts aus. Wenn ich daran denke, wie sehr ich dahingegen in den letzten Tagen mit mir selbst zu kämpfen hatte, kriecht Scham in meinen Eingeweiden hoch.
„Ja schon", gesteht Davide, „Giacomo hat ihn letztendlich ganz gut in der Familie aufgenommen. Ein bisschen ist es, als hätte er schon immer dazu gehört. Ich bin ziemlich froh, dass wir ihn haben. Mit ihm haben wir eine echte Chance gegen das fünfte Element."
Ich seufze. Die Sonne bennt erbarmungslos vom Himmel. Damit steht das Wetter beinahe im Widerspruch zu dem, wie ich mich fühle. Doch egal, was passiert und egal, wie sehr sich alles verändert, Davide hat Recht. Das Leben geht weiter. Vielleicht ist das ja auch gar nicht so schlimm, überlege ich. Veränderung ist die einzige Konstante, auf die ich zählen kann. Und egal, was noch kommt, der Geheimbund hat gerade einen großen Sieg über das fünfte Element errungen. Das ist doch Grund genug, um zu feiern.
„Ich glaube, ich gebe den beiden auch was von meiner Bowle", überlegt Davide und füllt zwei weitere Becher mit dem süßen Getränk.
Da gleitet Luccas Blick plötzlich zu mir hinüber. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, bei dem es in meiner Magengegend erneut wild kribbelt. Wieder seufze ich, während ich Luccas Lächeln erwidere. Vielleicht hat sich ja nicht alles verändert und vielleicht gibt es noch ganz viele gute Sachen, die auf mich warten. Mit diesem Gedanken gehe ich zu Lucca und Giacomo hinüber.
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