62. Der verlorene Sohn (1)
Für einen Moment halten wir kurz inne. „Lasst uns gehen!", beschließe ich letztendlich. Ich sehe in die Gesichter der anderen. Sie wirken entschlossen, doch zugleich scheint Apice in diesem Moment der abstoßendste Ort der Welt zu sein. Als wollte die Stadt nicht, dass wir ihre zerrütteten Straßen betreten. Nur langsam nicken wir einander zu. Der Hauch einer Bestätigung, dass wir das, was wir vorhaben, tatsächlich durchziehen werden. Dann setzten wir uns in Bewegung. Die nassen Pflastersteine von Apice vecchia fühlen sich rutschig an unter meinen Turnschuhen.
Plötzlich, als hätte sie nur auf uns gewartet, tritt eine große Gestalt mit dunkler Jacke und Kapuze vor uns auf die Straße. Hinter ihr schält sich eine zweite, etwas kleinere Gestalt aus dem Schatten eines Hauseingangs.
„Brionna, Pietro. Wer sind die Leute bei euch?", donnert die Stimme der Gestalt. Erst da erkenne ich sie. Alessandro Belluco. Ich kann förmlich spüren, wie Pietro sich neben mir entspannt, als er die Stimme seines Vaters hört.
"Es ist alles gut!", rufe ich Alessandro entgegen. Genau in diesem Moment zieht die Gestalt hinter ihm die Kapuze vom Kopf und ich identifiziere sie als Alessias feste Freundin. Regen klatscht in ihr Gesicht und drückt das nasse Haar fest gegen ihre Stirn. "Sandro, das ist Lucca Telloni!", ruft sie aus.
Sofort zieht Alessandro eine Pistole aus seinem Gürtel und richtet sie auf uns. Fast schon reflexartig hebe ich die Hände. „Was macht der denn hier?!", pfeffert Alessandro uns entgegen. Die Mündung seiner Waffe deutet nun zielgenau auf Lucca. Scharf ziehe ich die Luft ein.
Da macht Pietro auf einmal etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte. Er stellt sich schützend vor Lucca. Die straffen Schultern seines Vaters beginnen zu zittern. Augenblicklich lässt er die Pistole sinken. „Pietro, geh aus dem Weg!", befiehlt er seinem Sohn. „Weißt du denn nicht, wer das ist? Das ist Lucca Telloni." Nun redet er, als würde er mit einem Kind sprechen.
„Nein", sagt Pietro bestimmt und wirkt auf einmal so selbstsicher, wie ich ihn noch nie erlebt habe, „das ist Leonardo Falcini."
„Was?!", fragt Alessandro entsetzt. Er sieht Pietro an, als hätte dieser den Verstand verloren. Pietro nickt und geht mit erhobenen Armen auf Alessandro zu. „Es stimmt. Leonardo ist noch am Leben."
„Rede keinen Schwachsinn!", ruft Alessandro, hebt erneut die Pistole, zielt an Pietro vorbei ins Leere. Es ist nur ein schwacher Versuch, denn die Waffe ist nicht mal entsichert. Trotzdem hält er sie schützend vor sich, so als könnte er allein damit Lucca auf Abstand halten. Der hebt kaum merklich die Hand. Ein magisches Knistern bäumt sich auf wie eine Welle am Horizont. Alessandros Arm wird ganz plötzlich von einem Windstoß beiseite gerissen. Seine Finger um den Griff der Waffe lösen sich und die Pistole fliegt scheppernd gegen die Hauswand, wo sie abprallt und schließlich vor meine Füße kullert. Ohne nachzudenken, greife ich nach ihr. Schwer und kalt pulsiert sie in meiner Hand. „Los jetzt!", ruft Pietro und beginnt zu rennen. Lucca und ich hechten ihm hinterher, über Moos und Steine, vorbei an Alessandro und Alessias Freundin, die uns verdutzt hinterher blickt, so als würde sie die Welt nicht mehr verstehen. Wo mein Vater bleibt, kann ich in dem Regen nicht erkennen. Es sieht beinahe so aus, als wäre er bei Alessandro, um ihm die Situation zu erklären.
Die Straße ist so sehr mit Unkraut überwuchert, dass ich aufpassen muss, nicht zu stolpern. An einer Stelle wächst sogar ein Baum mitten auf dem Weg. Immer weiter tragen mich meine Füße. Angetrieben werden wir von dem Rückenwind, den Lucca heraufbeschwört. Er bläst mir die nassen Strähnen meiner Haare ins Gesicht. Schließlich haben wir die Kirche fast erreicht. Vor dem Haupteingang stehen zwei Mitglieder des Geheimbundes. Sie tragen beide Militäruniformen und sind bewaffnet. Von den monatlichen Treffen des Geheimbundes weiß ich, dass es sich dabei um zwei hochrangige Offiziere des Militärs handelt.
Kaum dass ich sie sehe, bleibe ich stehen und packe die beiden Jungs am Kragen, damit sie nicht weiter auf die Kirche zustürmen und ins Sichtfeld der Offiziere gelangen. „Sie sind bewaffnet!", zische ich. So ein Mist! Was machen wir jetzt? Wir wechseln einen besorgten Blick. Schließlich nickt Pietro, als wüsste er, was zu tun ist.
„Ich lenke sie ab!", brüllt er uns zu. Dann stürmt er weiter, ohne dass ich ihn aufhalten kann. Ich ziehe Lucca in einen Hauseingang, wo wir von den Blicken der Offiziere geschützt sind. Vorsichtig spähen wir um die Ecke und beobachten Pietro. Der rennt schreiend und wild gestikulierend auf die beiden Offiziere zu. Im ersten Moment erkennen sie ihn scheinbar nicht, denn sie heben ihre Waffen und richten sie auf ihn. Doch davon lässt sich Pietro nicht beeindrucken. Noch immer rennt er auf sie zu. Mein Herz stolpert vor Sorge. Hoffentlich schießen die beiden nicht auf ihn.
„Die Cinquenti, sie kommen von dort!", kreischt er und deutet aufgeregt nach links, „die Elementträger brauchen eure Hilfe." Im ersten Moment rühren sich die beiden nicht vom Fleck. „Was steht ihr denn noch da? Kommt schon!", ruft Pietro, „Alessia selbst hat mich angewiesen, euch zu holen."
Von unserem Versteck aus können wir erkennen, dass die beiden einen überraschten Blick miteinander wechseln. Dann gehen sie langsam und sehr vorsichtig in die Richtung, in die Pietro gezeigt hat. Für einen kurzen Augenblick lassen sie das Kirchentor unbewacht. Diese Gelegenheit nutzen Lucca und ich und stürmen los. Ohne uns noch einmal zu den Offizieren umzusehen, rennen wir auf die Kirche zu. Lucca hebt seine Hand und zielt auf die Kirchentür. Krachend fliegt sie aus den Angeln und wir stürmen hinein ins Trockene.
Die Kirche selbst ist nicht sonderlich groß. Trotzdem hat sie eine hohe Decke. Scheinbar hat sich nach dem Erdbeben 1980 niemand die Mühe gemacht, Bänke und Gemälde mit zu nehmen. Selbst auf dem Altar stehen noch Kerzen, deren flackernde Flammen die Szenerie in ein schauriges Licht tauchen. Staub kriecht über den Boden. Lediglich das verrät, dass schon lange Zeit niemand mehr hier war.
Vor dem Altar stehen Giacomo, seine Frau Susanna, Gaia Belluco, sowie zwei andere Frauen und Männer. Sie sehen uns mit großen Augen an und wirken deutlich erschrocken. Giacomo ist der Erste von ihnen, der sich wieder fängt. Genau wie sein Bruder zieht er eine Pistole, mit der er auf uns zielt. Doch auch er schießt nicht. Reflexartig hebe ich die Pistole, die ich in der Hand halte und ziele ebenfalls.
„Brionna, lass den Quatsch!", bricht es aus ihm raus.
„Du bist es, der den Quatsch lassen sollte!" Vorsichtig gehe ich auf ihn zu. Lucca hält sich dicht hinter mir. Da drückt Giacomo tatsächlich ab. Die Kugel schlägt unter ohrenbetäubendem Lärm neben Lucca in einer der Holzbänke ein. Wie angewurzelt bleiben wir stehen. Meinem Mund entschlüpft ein erschrockener Schrei. Für einen kurzen Moment lasse ich die Waffe in meiner Hand sinken.
Kaum einen Augenblick später kann ich ein magisches Knistern spüren. Erneut feuert Giacomo eine Kugel ab. Die Luft vor meinen Augen flimmert und die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Es ist, als hätte Lucca die Luft zu einem unsichtbaren Schutzschild verfestigt, an dem die Kugel abprallt.
„Ich kann das erklären", sagt Lucca mit fester Stimme.
Da betreten die beiden Offiziere, die den Eingang der Kirche bewacht haben, den Mittelgang. Ihnen folgt ein zerknirscht wirkender Pietro, der von Alessandro am Arm hereingeschleift wird. Auch mein Vater läuft atemlos hinter ihnen her. Er wechselt einen knappen Blick mit mir und hebt ratlos die Arme, so als wollte er mir durch diese Geste mitteilen, dass es ihm nicht gelungen ist, Alessandro von der Wahrheit zu überzeugen.
„Sandro, was macht Telloni hier?", fragt Giacomo.
„Ich weiß es nicht", antwortet Alessandro. Er ist klatschnass und sieht verängstigt aus. Über seine Stirn zieht sich eine tiefe Sorgenfalte. Er verzieht den Mund, als sei ihm übel. Der Blick, mit dem er Lucca ansieht, ist so bitterböse, dass selbst ich eine Gänsehaut bekomme.
„Pietro hat es Ihnen schon gesagt", entgegnet Lucca.
„Er hat behauptet, Sie seien Leonardo Falcini." Alessandro klingt nicht so, als würde er das glauben. Man sieht ihm deutlich an, dass es ihm allein schon unangenehm ist, diese Vermutung laut auszusprechen.
„So ist es auch", entgegnet Lucca. Für einen Moment zeichnet sich Ungläubigkeit in Giacomos Gesicht ab. Fast, als würde er hoffen, dass das, was sein Bruder gesagt hat, wahr ist. Doch er fängt sich schnell wieder und seine Züge werden steinhart. Seine Wangenknochen treten stärker hervor als ohnehin schon. Ich kann erkennen, dass er angestrengt die Zähne zusammen beißt. Ein Blitz, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner, zuckt über den Himmel. Er taucht Giacomos fratzenartig verzerrtes Gesicht in ein gruseliges, grelles Licht.
„Was bilden Sie sich ein?! So etwas zu behaupten! Leonardo ist tot!", bricht es aus ihm heraus. Seine Stimme ist so kalt wie sein Gesicht. So als würde er sich alle Mühe geben, die Hoffnung, die in ihm aufkeimt, zu ersticken. Ganz anders reagiert jedoch seine Frau Susanna. Ihre Augen weiten sich und ihre Kinnlade klappt zitternd herunter. Sie wimmert leise, doch Giacomo beachtet sie nicht.
„Das dachte ich auch, aber Maria hat ihm das Leben gerettet", erkläre ich, „ich habe Beweise." Mit ein paar Handgriffen ziehe ich die letzten Seiten ihres Tagebuchs sowie den Brief, den die an Giacomo geschrieben hat, aus meinem Rucksack. Doch der macht keine Anstalten, die Sachen von mir entgegen zu nehmen. Stattdessen legt er nun auch eine zweite Hand um seine Pistole. Vorsichtig platziere ich das Papier auf der nächsten Kirchenbank und hebe dann ebenfalls meine Waffe. Ich habe zwar keinenWaffenschein, aber bei dem Training mit dem Geheimbund hat Giacomo uns verraten, wie man eine Pistole benutzt. Mit nur einem Finger löse ich die Sicherung. Jetzt müsste ich nur noch abdrücken, wenn ich es wollte. Die Situation ist absolut lächerlich.
„Ich brauche keine Beweise. Lucca Telloni hat euch alle verzaubert!", ruft Giacomo. Ein irres Leuchten liegt in seinen Augen. Fast so, als hinge sein Verstand an einem seidenen Faden, der jeden Moment zu zerreißen droht. Er wehrt sich mit aller Kraft gegen die Vorstellunh, dass Lucca Leonardo und damit sein tot geglaubter Sohn sein könnte. Schützend stelle ich mich vor Lucca. Er legt vorsichtig einen Arm um meine Schultern, so als wollte er, dass ich nah bei ihm bleibe.
Wieder ertönt ein ohrenbetäubender Knall. Diesmal zucke ich so sehr zusammen, dass mir die Waffe aus der Hand fällt und über den Boden davon rutscht. Luccas Schutzschild wird dabei für keine Sekunde schwächer. Sein Griff um meine Schultern festigt sich allerdings.
Erneut prallt Giacomos Kugel an der erhärteten Luft ab und kullert über den Boden. Fassungslos starre ich ihn an.
„Brionna, das ist ein schlechter Zeitpunkt, deine Fähigkeiten als Elementträgerin zum ersten Mal auszuprobieren", bellt Giacomo mir entgegen, „jetzt bring dich in Sicherheit!"
„Ich bin keine Elementträgerin", erkläre ich ihm langsam und mit gezwungen ruhiger Stimme, „es ist Lucca... also äh... Leonardo." Es ist das erste Mal, dass ich diese Wahrheit ausspreche. Sie fühlt sich gut an. Ungemein erleichternd. So als würde damit eine große Last von meinen Schultern genommen, die drohte, mich zu erdrücken.
„Lüg nicht so frech! Ich spüre doch, wie du zauberst!"
„Ich bin derjenige, der hier zaubert", entgegnet Lucca, noch bevor ich etwas sagen kann. Ich spüre förmlich wie angespannt er ist. Ohne mit nur einem Muskel zu zucken, erwidert er den kalten, verrückten Blick von Giacomo. Dabei wirkt Lucca fast, als würde Giacomo ihm leid tun. In diesem Moment scheint uns beiden gleichzeitig bewusst zu werden, dass wir Giacomo nicht von der Wahrheit überzeugen können, egal was wir tun.
„Ich denke, wir haben genug von den Teufeleien des fünften Elements. Sandro, schnapp ihn dir!", brüllt Giacomo.
Dann geschehen mehrere Sachen gleichzeitig. Giacomo feuert wieder Kugeln auf uns ab, währen Alessandro und die beiden Offiziere von hinten gegen das Schutzschild rennen. Der Ansturm ist so groß, dass Lucca es nicht länger aufrecht halten kann. Ich spüre, sie zwei Hände mich packen und mich von Lucca weg reißen. Ich werde zu Boden geworfen. Unsanft schlägt mein Kopf auf den Steinen auf. Für einen kurzen Moment sehe ich nichts.
Als ich die Augen wieder öffne, erkenne ich, dass Lucca neben mir liegt. Auf seinem Rücken sitzt Alessandro, der ihm ein Messer gegen die Kehle drückt. Seine Beine werden von einem der Offiziere umklammert.
Der andere Offizier drückt mich zu Boden. Ich versuche mich zu wehren, doch es ist zwecklos. Dazu habe ich nicht genug Kraft. So ein Mist! Was jetzt? Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Der Puls rast in meinem Kopf. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Plötzlich kommt aus dem Nichts ein heftiger Wind auf. Er ist so stark, dass mir die Luft weg bleibt. Als ich versuche zu atmen, schmerzt es lediglich in meinen Lungen. Alessandro und der Soldat, der Lucca festhält, werden von dem Wind erfasst und nach hinten geschleudert. Die Bilder an den Wänden der Kirche wackeln verdächtig. Langsam stemmt sich Lucca auf die Beine. Eine gruselige Macht umgibt ihn. Es ist, als würde sich Luccas Element nun, nachdem es so lange unterdrückt wurde, mit aller Kraft zeigen.
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