60. Leonardo Falcini (1)
Entsetzt lasse ich den Brief sinken. „Niemals", flüstere ich. Die Welt um mich herum kommt mir so weit weg vor. Ich kann gar nicht glauben, dass das, was ich soeben erfahren habe, wahr sein soll.
Wortlos reiche ich den Brief an meinen Vater weiter und reiße Pietro dann die fehlenden Seiten von Marias Tagebuch aus der Hand. Ich muss wissen, ob das, was sie geschrieben hat, stimmt. „Hey", mault er und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Wie wäre es denn, wenn du deine Erkenntnisse mit uns allen teilst?", fragt Lucca und sieht mich stirnrunzelnd an. Unverwandt starre ich in sein Gesicht. Warum habe ich es nicht früher erkannt? Die schmale, große Nase und die buschigen Augenbrauen hätten mir doch einen Hinweis geben müssen. Jetzt, da ich Bescheid weiß, ist die Ähnlichkeit beinahe unverkennbar. Er sieht aus wie Giacomo Falcini. In diesem Moment kommt er mir so fremd vor. Ganz anders als der Lucca, den ich kennen gelernt habe und auch anders als der Lucca, der der Anführer der Cinquenti ist.
Mein Vater lässt den Brief sinken. Auch er starrt Lucca an, als würde er ihn zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Ich bin mir sicher, er sucht nach genau denselben Ähnlichkeiten in seinem Gesicht wie ich.
Hastig durchblättere ich die fehlenden Seiten von Marias Tagebuch und finde endlich die Hinweise, nach denen ich so lange gesucht habe. Pietro und Lucca sehen mir dabei über die Schulter. Wie gebannt lesen sie mit.
Mittwoch, 16. September 1992
Er ist in Sicherheit. Endlich. Ich habe es geschafft. Leonardo kann niemand mehr etwas anhaben. Ernesto und ich haben ihn gefunden. Ich bin dankbar dafür, nicht allein zu sein, auch wenn Ernesto nicht erfahren darf, wo sich Leonardo gerade befindet und welche Identität er angenommen hat. Zumindest nicht jetzt.
Nachdem wir Hinweise fanden, dass die Cinquenti Leonardo in ein Waisenheim brachten, haben wir uns direkt auf den Weg dorthin gemacht. Ich habe mit einem Sozialarbeiter gesprochen und durfte Leonardo besuchen. Ernesto blieb währenddessen auf unserem Hotel, da wir zu zweit vermutlich mehr Aufmerksamkeit erregt hätten.
Gerade als ich zu meinem Enkel trat, traf ich allerdings auf die Cinquenti. Es waren die Tellonis, die Leonardo bereits in Schottland entführten. Ich trat ihnen in den Weg, bereit mich zu opfern, sollten sie Leonardo etwas antun wollen. Doch Signora Telloni erklärte mir, dass sie bereits in Schottland Leonardo und die Familie Falcini hätten töten sollen. Allerdings konnten sie und ihr Mann dem Baby nichts antun, weshalb sie ihn hierher, in das Waisenheim gebracht hätten. Nun drohte Bernardo allerdings dahinter zu kommen, dass Leonardo noch am Leben war und sie mussten ihn an einen anderen Ort bringen, wo er in Sicherheit war.
Zuerst wollte ich ihnen nicht glauben, doch als ich den Blick sah, den sie auf den friedlich schlafenden Leonardo warfen, konnte so viel Liebe und Fürsorge in ihren regenbogenfarbenen Augen erkennen. Es ist seltsam, ich kann nicht mal sagen, woher ich es weiß. Die Tatsache ist bloß, dass die Tellonis keine Unmenschen sind. Sie könnten niemals einem wehrlosen Baby etwas antun, das weiß ich.
Die Experimente, die mein Exmann mit ihnen durchführte, veränderten nicht nur ihr äußerliches Erscheinungsbild, sondern machten die beiden auch unfruchtbar. Sie können keine eigenen Kinder bekommen und dennoch wollten sie meinen Enkel schützen.
Gemeinsam mit ihnen entwarf ich einen Plan. Wir wollten Leonardo mit einem der anderen Kinder austauschen. Der kleine Junge, den wir auswählten, litt unter einer angeborenen Krankheit, die mit schweren Fehlbildungen der Organe einhergeht, und hatte keine hohe Lebenserwartung. Seine Eltern wollten kein krankes und behindertes Kind, das seinen zweiten Geburtstag vermutlich niemals erleben würde und so landete der Junge schließlich in dem Waisenhaus.
Falls Falcini Leonardo also nun fand und wir ihn mit dem kranken Kind austauschten, dann wäre der Junge, den er eigentlich für Leonardo hielt, vermutlich bereits tot.
In ungefähr einem Jahr, wenn die beiden Jungs lang genug vertauscht wären, würden die Tellonis dann Leonardo adoptieren und ihn unter seinem neuen Namen Lucca-Orvieto aufziehen. Ich weiß, manch einer würde es nicht für klug halten, dass ich meinen Enkel in die Obhut unserer Feinde gebe, aber ich glaube nicht mal, dass wir die Cinquenti als Feinde bezeichnen sollten. Es gibt keine Seiten mehr in diesem Krieg. Auch die Tellonis haben furchtbar unter dem gelitten, was Bernardo ihnen angetan hat und ich weiß einfach, dass ich ihnen vertrauen kann.
Ernesto habe ich nichts von dem Kindertausch erzählt. Der Einzige, der davon wusste, war ein Sozialarbeiter, den die Tellonis bestachen, damit er die Babys vertauschte.
„Er wird niemandem etwas sagen", verriet mir Signora Telloni, „er ist schwerkrank und wird in einem halben Jahr schon nicht mehr leben." Noch sah ich ihm von außen seine Krankheit nicht an, aber ich nahm an, dass das, was Signora Telloni sagte, stimmte. Dadurch fühlte ich mich noch grausamer, aber ich sah und sehe immer noch keine andere Möglichkeit, Leonardos Leben zu retten.
Nachdem wir die Babys vertauschten, fuhr ich wieder zu Ernesto ins Hotel. Er wollte wissen, was ich im Waisenheim gemacht hätte und verlangte, dass ich ihm alles erzählte. Bisher war er immer sehr diskret und zurückhaltend, doch trotzdem konnte ich ihn nicht einweihen. Jeder Mensch, der über Leonardos wahren Aufenthaltsort Bescheid weiß, ist ein Risiko für meinen Enkel.
In der Nacht gab es, nachdem ich ins Hotel zurückkehrte, einen Brand im Waisenhaus. Dabei kamen Lucca-Orvieto, der bereits mit Leonardo Falcini vertauscht wurde, sowie zwei andere Kinder ums Leben. Als ich am nächsten Morgen davon erfuhr, machte ich mich natürlich sofort auf den Weg zurück in das Waisenhaus. Ich hoffte, die Tellonis dort anzutreffen und wollte sie zur Rede stellen. Allerdings traf ich nur den Sozialarbeiter, den sie bestochen hatten und der sprach auch kein Wort mehr mit mir. Fakt ist, dass mein Enkel, Leonardo, überlebte und das ist, worauf es in diesem Moment ankommt. Mein größeres Problem ist jedoch der Geheimbund.
Wir haben die Mitglieder im Glauben gelassen, dass die Cinquenti bei ihrer Aufgabe, Leonardo zu beseitigen, erfolgreich gewesen sind. Zu diesem Zweck mussten wir Giacomo auch glauben lassen, Leonardo sei tot. Sein eigenes Kind zu verlieren, das hat ihm das Herz zerrissen. Und ich konnte nicht einmal etwas sagen, um ihm den größten Schmerz seines Lebens zu nehmen. Ich fühle mich schrecklich und furchtbar schuldig.
Freitag, 15. Oktober 1993
Heute ist Lucca-Orvietos zweiter Geburtstag. Leonardo ist erst anderthalb und trotzdem ist er so groß geworden. Seine Adoptiveltern, die Tellonis, haben ihn vor einer Woche zu sich genommen und wollen ihn nun wie ihren eigenen Sohn aufziehen. Sie wohnen ganz in der Nähe, in Grosseto. Ich habe sie neulich beim Einkaufen getroffen. Als ich sie mit dem Kinderwagen sah, habe ich die Einkäufe sofort zur Kasse getragen und bin nach Hause gefahren. Ich fühle mich so schuldig. Ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe. Diese Gedanken quälen mich jeden Tag beim Einschlafen und auch wenn ich aufwache, sind sie da. Außerdem habe ich zu sehr Angst, dass Bernardo dahinterkommen könnte, wer der Adoptivsohn seiner Spione tatsächlich ist.
Aber viel mehr Angst habe ich vor meinen eigenen Gefühlen. Ich habe Angst, dass sie mich innerlich auffressen und dass ich in meiner Schuld ertrinke. Noch immer kann ich Giacomo nicht in die Augen sehen, weil ich ihm so viel genommen habe. Unser Verhältnis hat ziemlich gelitten seit Leonardo weg ist. Ich weiß nicht, ob er etwas von meiner Schuld spürt und ich wünschte, ich hätte mich anders entschieden. Ob das besser wäre, kann ich nicht sagen, aber die Verzweiflung ließ mir keine andere Wahl.
Seit Leonardo unter falschem Namen lebt, haben die Angriffe der Cinquenti auf den Geheimbund aufgehört. Vorher konnten wir kein normales Leben führen, was nun möglich ist. Doch der Preis, den wir alle zahlen mussten, erscheint mir dafür zu hoch zu sein.
Sonntag, 07. Juli 2002
Heute habe ich ihn zum ersten Mal wieder gesehen nach so langer Zeit, Leonardo. Mittlerweile hört er auf den Namen Lucca. Er hat zwei kleine Geschwister bekommen, Ludo und Serafino. Scheinbar waren die Cinquenti doch nicht so unfruchtbar wie sie dachten. Es tat gut zu sehen, dass er ein vollwertiges Mitglied seiner neuen Familie ist. Gleichzeitig tat es aber auch ziemlich weh. Er könnte Teil meiner Familie sein und mit Giacomo und Susanna zusammen zum Strand laufen statt mit Signor und Signora Telloni.
Ich war mit Alessandro am Hafen unterwegs, als ich sie sah. Alessandro hat Leonardo nicht erkannt und die Familie Telloni schenkte uns generell keine Aufmerksamkeit.
„Jetzt kriegen die auch noch Kinder", regte sich Alessandro auf.
Ich verteidigte die kleine Familie vor Alessandro und er zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht hast du ja Recht. Wusstest du, dass Lucca, der Älteste von ihnen, der kleinen Caterina das Leben gerettet hat?"
Er erzählte mir, dass sich Caterina Peterson-Lombardini beim Spielen an einer Glasscherbe geschnitten hatte. Lucca hatte versucht, ihr Lebenzu retten. Dabei hat er sich selbst auch geschnitten. Ich habe gar nicht gewagt, zu fragen, ob zwischen den beiden Blut ausgetauscht wurde, aber es muss so gewesen sein. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Das bedeutet, ich habe ein Problem. Vor ein paar Wochen hat sich bei Alessia zum ersten Mal die Gabe eines Elements gezeigt. Sie beherrscht das Feuer. Alessia ist Luccas biologische Schwester. Das bedeutet, Lucca ist ein Elementträger und es ist gut möglich, dass er seine Fähigkeit an Caterina weitergegeben hat. Ich muss dringend mit Ernesto sprechen. Immerhin handelt es sich hier um seine Tochter. Irgendetwas muss ich tun.
Montag, 08. Juli 2002
Ernesto hat meine Nachricht gar nicht gut aufgenommen. Die ganze Wahrheit konnte ich ihm schließlich nicht verraten. Aber als ich ihm sagte, er und seine Familie, müssten das Land verlassen, hat er nur verärgert geschnaubt und mir mitgeteilt, dass er das nicht machen werde. Seit wir Leonardo vor den Cinquenti retteten, hat er sich immer mehr aus dem Geheimbund zurück gezogen. Er weiß nicht, was ich getan habe, aber er ahnt es. Ihm müssen all die Lügen und das geheime Leben, das eine Mitgliedschaft im Geheimbund mit sich bringt, zu viel geworden sein und ich kann es ihm nicht verübeln. Den Wunsch nach einem normalen Leben habe ich schon lange aufgegeben, doch er scheint mit seiner kleinen Familie ein Stück Normalität und Geborgenheit gefunden zu haben, das er sich unbedingt bewahren will. Dass dies spätestens dann vorbei sein wird, wenn seine jüngste Tochter erwachsen wird, kann ich ihm nicht sagen. Deshalb ist es wichtig, dass sie nicht länger hier leben. Wer weiß, wann sich bei ihr die Fähigkeit zu einem Element zeigen wird und wenn es so weit ist, dann muss sie weit weg von Bernardo Falcini sein, damit er nicht dahinter kommt, wer Leonardo tatsächlich ist und woher Caterina ihre Fähigkeiten hat.
Wenn Ernesto sich weiterhin weigert, das Land zu verlassen, dann werde ich härtere Geschütze auffahren müssen.
Donnerstag, 11. Juli 2002
Ich habe mit Signor Telloni gesprochen. Er ist derselben Meinung wie ich. Auch wenn er und seine Frau Leonardo unbedingt beschützen wollen, der Rest der Cinquenti weiß nichts von seiner Existenz und würde ihn vermutlich direkt ausliefern, sobald sie die Wahrheit erführen. Deshalb müssen die Lombardinis das Land verlassen. Signor Telloni hat mir versprochen, dass er Ernesto auflauern wird und ihm drohen wird, damit er schließlich geht. „Keine Angst, ich werde ihm nichts antun", versprach er mir, „aber wenn Ernesto glaubt, dass die Gefahr real ist, dann können wir ihn vielleicht zum Handeln zwingen."
Montag, 21. Oktober 2013
Ich habe ihn wieder gesehen, Leonardo. Er war mit den anderen hier, den Cinquenti. Bernardo konnte es nicht lassen, er musste weiter mit Menschen experimentieren. Und das ausgerechnet mit Leonardo. Wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn in eine so große Gefahr bringe, dann hätte ich niemals zugelassen, dass er von den Tellonis adoptiert wird. Aber er scheint das alles ganz gut weg zu stecken.
Wie die anderen Diener Falcinis trägt er einen Ohrring, geschmiedet aus dem Diamant, der einmal Podoeris Herz war. Das erlaubt ihm, das fünfte Element zu kontrollieren. Damit ist er zwar nicht so mächtig wie Falcini, aber das fünfte Element scheint stark genug zu sein, um seine wahre Fähigkeiten zu unterdrücken. Als Elementträger wird er wohl vorerst nicht auffallen.
Trotzdem war ich überrascht, ihn wieder zu sehen. Er sieht meinem Giacomo so ähnlich. Am liebsten hätte ich ihm jetzt schon von seiner wahren Herkunft erzählt, aber das kann ich nicht. Mir fehlt die Kraft dazu, vielleicht bin ich auch einfach nur zu feige. Ich weiß es nicht. Alles, was ich tun kann, ist für ihn da zu sein.
Kraftlos lasse ich die zerfledderten Seiten sinken. Ich kann nicht glauben, was ich da lese und zugleich macht es trotzdem Sinn. Die Blätter des Lindenbaums, unter dem wir sitzen, rascheln über meinem Kopf. Eine heftige Windböe fegt über unsere Köpfe hinweg. Luft. Es ist aber nicht das Element, das ich kontrolliere, sondern das Element, das Lucca kontrolliert. Oder sollte ich ihn besser Leonardo nennen?
Jetzt wird mir so einiges klar. Warum es oft so windig war, wenn ich mit ihm zusammen war. Das war nicht ich, sondern er und zwar jedes Mal, wenn er seinen Ohrring abgelegt hat und die Macht des fünften Elements nicht mehr das Element unterdrückte, das eigentlich in ihm schlummert. Außerdem war nicht ich diejenige, die mein Leben gerettet hat, nachdem ich mit dem fünften Element vergiftet wurde, sondern er. Ich bin keine Elementträgerin. Meine Schwester hingegen schon, weil Lucca die Fähigkeit, ein Element zu kontrollieren vor vielen Jahren an sie weiter gegeben hat. Damals hat er ihr das Leben gerettet und sein Blut mit ihrem vermischt, wodurch er einen Teil seiner Fähigkeit an sie weiter gegeben hat. Es fühlt sich an, als würde eine unglaubliche Last von meinen Schultern genommen und gleichzeitig dennoch so befremdlich.
„Das glaube ich jetzt nicht", entfährt es Pietro. Nur zögerlich sieht er zu Lucca hinüber. Der sagt gar nichts. Er sitzt nur regungslos da und starrt in die Ferne. Pietro und ich wechseln einen hilflosen Blick. Niemand von uns weiß, wie wir auf das, was wir soeben erfahren haben, reagieren sollen. Der Erste, der sich rührt, ist mein Vater. Er beugt sich vorsichtig nach vorn und nimmt den Umschlag, der an Leonardo Falcini adressiert ist aus der Box und hält ihn Lucca entgegen. Der schnappt ihn, ohne jedoch genau hinzusehen oder Anstalten zu machen, den Brief zu öffnen. Es ist schwer zu sagen, was gerade in ihm vorgeht. Irgendwie kommt er mir fremd vor. Ich will gar nicht so recht glauben, dass er derjenige ist, den wir die ganze Zeit gesucht haben. So nah vor meiner Nase. Ich hätte es wissen müssen. Warum habe ich das nicht schon früher gesehen? Warum hat es niemand von uns erkannt?
„Das stimmt aber nicht, oder?", fragt Pietro. Darauf kann ich nur mit den Schultern zucken. Ich weiß genauso viel wie er. Was soll ich denn jetzt darauf sagen?
Da wendet sich Lucca auf einmal uns zu. Er wirkt abwesend. Gleichzeitig tut er mir unglaublich leid. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, aber ich lasse es bleiben. In mir ist etwas, das mich zurückhält.
„Ich glaube schon, dass es stimmt", sagt er langsam, „das würde so Vieles erklären. Warum Falcini nie vollkommen die Kontrolle über mich ergreifen konnte und warum mir manchmal so seltsame Dinge passieren." Er streckt die flache Hand aus. Ich kann regelrecht dabei zusehen, wie sich auf seiner ausgestreckten Handfläche ein Minitornado bildet, der immer größer wird, bis er schließlich in sich zusammensackt.
„Seit ich den Ohrring ausziehen kann, habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich habe es irgendwie geahnt. Aber vermutlich wollte ich es einfach nicht wahrhaben", fährt er fort.
Mein Vater räuspert sich. „Vielleicht öffnen Sie den Brief. Dann wissen wir mehr", wirft er ein.
„Wir öffnen aber keine Briefe von anderen Leuten", entgegnet Pietro und ahmt dabei meine Stimme nach. Ich verdrehe die Augen.
„Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist dieser Brief ja sehr wohl an ihn adressiert", entgegne ich. Lucca zuckt mit den Schultern und hält mir den Brief entgegen. „Wenn der wirklich für mich ist, dann öffne du ihn und lies ihn vor." Für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke. Er nimmt meine Hand und drückt fest zu. Vorsichtig erwidere ich diesen Händedruck und nehme den Brief von ihm entgegen. Nur ganz langsam schiebe ich meinen Schlüssel unter den Umschlag und schlitze das Papier auf. Ich seufze. Auf einmal ist es wieder wie in dem Moment, in dem ich meinem Vater zum ersten Mal nach dreizehn Jahren gegenüber stand. Ich bin vollkommen isoliert von meinen Gefühlen und existiere nur noch. Das macht mich allerdings handlungsfähig. Ich hole tief Luft und lese dann vor, was Maria ihrem Enkel geschrieben hat.
Mein lieber Lucca,
ich weiß, das alles muss ein ziemlicher Schock für dich sein. Aufzuwachsen, in dem Glauben, genau der zu sein, der man ist, nur um dann herauszufinden, dass man in Wahrheit jemand ganz anderes ist. Oder ist man es doch nicht? Dass ich dich mit all diesen Fragen zurück lassen muss, tut mir furchtbar leid. Wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr da sein, um dir die Antworten zu geben, die du brauchst und verdienst.
Du fragst dich sicherlich, warum ich dir nie verraten habe, wer du eigentlich bist. Ich versuche mir immer zu sagen, dass du mir vermutlich sowieso nicht glauben würdest, aber ich denke, damit belüge ich mich nur selbst. Ich bin eine alte Frau und ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht. Dir die Wahrheit zu verschweigen ist mit Sicherheit einer davon. Bitte verzeih mir, ich kann nicht anders.
Vermutlich fällt es dir schwer, mir zu glauben. Warum solltest du auch? Aber ich bitte dich, nur für einen kurzen Moment, nimm den Ohrring ab, der deine wahren Fähigkeiten unterdrückt und du wirst entdecken, wer du wirklich bist.
Es ist wichtig, dass du es zumindest einmal versuchst, dann wirst du es sehen. Wenn du das tust und wenn du immer noch meinem Exmann Falcini das Handwerk legen möchtest, dann geh zu deinen leiblichen Eltern! Geh zu Giacomo! Genau wie dir habe ich ihm einen Brief geschrieben, in dem ich alles erklärt habe. Er wird dich mit offenen Armen empfangen, ich weiß es, er ist schließlich mein Sohn. Unterstütze ihn und unterstütze deine Geschwister im Kampf gegen das fünfte Element. Sie brauchen dich und ich brauche dich auch.
Mein lieber Lucca, oder sollte ich besser Leonardo schreiben? Mit diesem Namen kannst du vermutlich nicht viel anfangen.
Im Grunde genommen kommt es auch nicht darauf an, wer deine leiblichen Eltern sind und wie sie dich vor vielen Jahren einmal genannt haben. Es kommt nur auf dich an, auf den, der du bist und den, der du sein möchtest. Ich hoffe wirklich, du entscheidest dich dazu, zu deiner Familie zurück zu finden und den Geheimbund zu unterstützen, aber verlangen kann ich das natürlich nicht von dir. Du bist mittlerweile erwachsen geworden, das kann ich schließlich mit eigenen Augen sehen. Und du triffst auch deine eigenen Entscheidungen.
Was auch immer du tun wirst, ich liebe dich, mein Schatz. Ich habe dich immer geliebt und ich werde es auch immer tun.
Deine Großmutter, Maria Iana Vecca
P.S.: Manchmal ist es der erste Weg, auf dem weiß und rot einander berühren.
Ich kann sehen, wie sich die Härchen auf Luccas Armen zu einer Gänsehaut aufstellen, obwohl es selbst im Schatten ziemlich heiß ist. Außerdem zittert er leicht, so als hätte ihn eine innere Kälte befallen. Noch immer blickt er in die Ferne, ohne zu blinzeln. Ich frage mich, ob er mir überhaupt zugehört hat. Das alles führt dazu, dass ich mich hilflos fühle. Auch mein Vater und Pietro wechseln einen ratlosen Blick. Für sie ist Lucca schließlich ein Fremder, aber für mich nicht. Wir waren einander so nah. Dafür scheinen wir jetzt umso weiter voneinander entfernt zu sein.
Schließlich fährt er sich mit der Hand einmal übers Gesicht und atmet tief ein. Nun scheint er nicht mehr weit weg, sondern eher sachlich und zielorientiert. Es ist, als hätte er seine Gefühle zurückgedrängt. Ganz langsam wendet er sich uns zu.
„Irgendwie macht das für mich Sinn", wiederholt Lucca, „ich habe mich mein ganzes Leben lang falsch gefühlt. Nicht richtig. Ich bin der Einzige, der Falcini widerstehen konnte. Und ich bin der Einzige der Cinquenti, der seinen Ohrring abnehmen kann. Was, wenn der wahre Grund dafür ist, dass ich eigentlich ein Elementträger bin?"
Niemand von uns sagt ein Wort. Noch immer kann ich nicht glauben, was Maria getan hat. Sie wusste die ganze Zeit über, wer Lucca wirklich ist und nicht mal dann, als er in direkten Kontakt mit ihr getreten ist, hat sie ihm etwas verraten. Stattdessen hat sie eine riesige Schnitzeljagd organisiert.
„Ich wusste, dass ich adoptiert bin", fährt Lucca fort, „meine Eltern haben es mir gesagt, als ich so ungefähr fünfzehn war. Sie haben mir erzählt, meine leiblichen Eltern seien ihre besten Freunde gewesen, die bei einem Zugunglück ums Leben gekommen sind. Ich habe das nie hinterfragt und ich wollte auch nie sonderlich viel darüber wissen. Allein der Gedanke, ich könnte nicht zu meinen Eltern gehören, hat sich so falsch angefühlt. Aber ich wusste immer, dass es da jemand anderes gibt oder gab. Bloß haben sie mir halt eine falsche Geschichte erzählt." Er greift nach einem Stock und stochert mit ihm in der Erde zu seinen Füßen. Es wirkt fast so, als wollte er irgendetwas tun. Seine Bewegungen werden energischer und er schleudert regelrecht Erdklumpen in die Luft.
Mein Vater schnappt sich die letzten Seiten von Maria Veccas Tagebuch, blättert sie durch und seufzt. Er sieht nicht wirklich verärgert, sondern wie immer traurig aus, doch als er spricht, klingt seine Stimme bitter. „Da hat Maria ein ziemliches Spiel mit unsgetrieben. Ich weiß nicht, wen ich schlimmer finden soll, sie oder Falcini. Fakt ist, dass wir die Leidtragenden in dem Krieg sind, den die beiden mit einander geführt haben. Am besten wir fahren so schnell wie möglich zu Giacomo und beenden diesen Unsinn."
Mit nüchternem Erstaunen stelle ich fest, dass an seinen Worten etwas Wahres dran ist, das die Folgen von Marias Handlungen ziemlich präzise beschreibt. Erneut wird mir bewusst, wie anders mein bisheriges Leben verlaufen wäre, wenn Maria sich nicht eingemischt hätte. Und nicht nur meins. Auch das von Lucca.
Lucca nickt langsam. Scheinbar ist er mit dem Plan meines Vaters einverstanden. „Ich brauche nur noch einen kurzen Augenblick, um den ersten Schreck zu verdauen", gesteht er und fährt sich mit den Händen immer wieder übers Gesicht. Er schüttelt mit dem Kopf und stemmt sich langsam auf die Beine. Dann schnappt er sich den billigen Wein aus dem Supermarkt und füllt einen Plastikbecher randvoll. Beinahe in einem Zug stürzt er das Getränk hinunter. Am liebsten hätte ich auch etwas davon zu mir genommen, doch ich halte mich zurück.
Da klingelt plötzlich ein Handy. „Pietro hast du nicht gesagt, dass du dein Handy auf stumm stellen wolltest?", frage ich an ihn gewandt.
„Das ist nicht meins", sagt er. Verwirrt sehe ich mich um. Es braucht einen Moment, bis ich begreife, dass es mein Handy ist, was da klingelt. Hastig krame ich in meiner Tasche danach. Der Geheimbund kann es nicht sein, denn ich habe die Nummern eines jeden Mitgliedes blockiert, als wir nach Siena los gefahren sind. Tatsächlich ist es mein Großvater, der mich anruft. Sofort schlägt mein Herz schneller. Eine ungute Vorahnung beschleicht mich.
Bevor ich abnehmen kann, hat er allerdings schon aufgelegt. Hastig tippe ich seinen Namen bei den Kontakten ein und rufe zurück. Das Telefon tutet nicht ein einziges Mal, bis er abhebt.
„Brionny. Gottseidank!", höre ich ihn sagen. Allein am Klang seiner Stimme merke ich direkt, dass etwas nicht stimmt.
„Grandpa, was ist denn los?"
„Der Geheimbund der Elemente wird angegriffen", antwortet er ohne zu zögern.
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