43. Der Verräter (2)
„Du meinst, jemand der Informationen an Professor Falcini und die Cinquenti weitergibt?" Es überkommt mich heiß und kalt. Das Herz rutscht mir in die Hose. Ist es etwa möglich, dass Informationen von mir über Lucca zu Professor Falcini gelangt sind? Lucca hat mir doch versichert, dass Falcini nichts über unsere Zusammenarbeit weiß.
Doch Giacomo schüttelt nur den Kopf. „So weit geht es zum Glück noch nicht. Aber das Tagebuch meiner Mutter ist verschwunden." Er sieht mich durchdringend an. „Du hast es dir nicht genommen, oder?"
„Nein", entgegne ich sofort, „wann soll ich es mir denn genommen haben?"
„Letztes Wochenende war hier ein Treffen des Geheimbundes", erklärt Giacomo, „wir haben uns spontan zusammen gefunden, um über die aktuellen Entwicklungen zu sprechen. Und am Sonntagabend nach dem Treffen war es verschwunden."
„Brionny war das ganze Wochenende bei einer Freundin zum Lernen", sagt Pietro an meiner Stelle. Verwundert sehe ich ihn an. Er weiß doch ganz genau, dass das nicht stimmt. Wieso lügt er dann für mich?
„Ich weiß", seufzt Giacomo, „ich dachte nur, ich lasse dich das lieber wissen. Es ist besser, in diesen Zeiten so wenig Leuten wie möglich zu vertrauen. Vorallem jetzt, da uns irgendjemand aus den eigenen Reihen verrät." Dabei sieht er explizit mich an. Augenblicklich fühle ich mich schlecht. Weiß er etwa von Lucca und mir? Falls ja, hätte er das doch anders gesagt. Oder etwa nicht? Ich muss ziemlich betroffen aussehen, denn Giacomos Frau Susanna legt mir eine Hand aufs Knie. Unter der Berührung zucke ich leicht zusammen.
„Mach dir bitte keine Sorgen, wir versuchen das alles so schnell wie möglich zu klären. Eigentlich wollten wir euch das nur mitteilen. Du und deine Schwester solltet das als Elementträger ja schließlich wissen", meint sie. Sie hat bisher kaum ein Wort mit mir gewechselt. Beinahe jedes Mal, wenn ich sie gesehen habe, war sie still und hielt sich lieber im Hintergrund. Nun kommt es mir vor, als würde ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnehmen.
Ihre Augen wirken stumpf und ihre Haut kräuselt sich in kleinen Fältchen. Die bereits ergrauten Locken trägt sie in einem modernen Kurzhaarschnitt. Trotzdem wirkt sie so unscheinbar, dass man sie leicht übersieht. Schnell wende ich den Blick von ihr ab, da es bestimmt unhöflich ist, sie so anzustarren.
„Hey Leute", ruft Alessia in diesem Moment, „das Essen ist fertig."
„Na dann mal los", meint Giacomo und lächelt uns an.
Beim Essen gibt es jede Menge Wein, Fleisch, Gemüse, Käse und Oliven. Zum Nachtisch stellt Gaia eine riesige Schokotorte, sowie selbstgemachtes Panna Cotta auf den Tisch.
Obwohl sich jeder bemüht, gelassen zu bleiben, bemerke ich die angespannte Stimmung deutlich. Philippe und Alessia ziehen sich ständig gegenseitig auf und einmal ist er so böse zu ihr, dass sie danach Tränen in den Augen hat und sich abwenden muss. Vor allem nachdem Alessias Freundin sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet, um zur Nachtschicht im Krankenhaus aufzubrechen, wo sie als Ärztin arbeitet, wird die Stimmung zwischen den Geschwistern noch angespannter.
Susanna Falcini sagt wie immer kaum ein Wort und Giacomo sieht nachdenklich aus. Er spricht ziemlich ernste Themen an, wie die Tagespolitik und fragt Pietro und mich, was wir nach der Schule machen wollen. Auf diese Fragen haben wir bereits stichfeste Antworten parat. Pietro möchte Landwirtschaft und Weinbau studieren und in das Weingut seiner Eltern einsteigen. Mein Traum ist es immer noch, Medizin zu studieren.
„In Bologna gibt es eine sehr gute medizinische Fakultät", meint Giacomo, „dann wärst du zwar ziemlich weit weg, aber die Lehre dort ist vielversprechend. Cristina und Alessia haben dort studiert und ich selbst auch. Ich kann dir ein Studium dort nur wärmstens empfehlen." Ich seufze. Nur weil er in Bologna studiert hat, muss ich da ja nicht gleich auch hin. Meine Pläne sehen anders aus. „Eigentlich habe ich ans Ausland gedacht. Am liebsten London, aber ich habe auch schon mal überlegt, nach Deutschland zu gehen."
Wie immer stößt dieses Vorhaben auf Missverständnis. Wie kann man nur so jung nur schon so weit von den Eltern wegziehen? Was wird denn aus dem Geheimbund und den Elementträgern, wenn ich nicht mehr da bin? Ich antworte nicht auf die Fragen. Um ehrlich zu sein, habe ich im Moment tatsächlich andere Sorgen. Die Elemente, der Geheimbund und die Legenden machen mir ganz schön zu schaffen.
„Das Wichtigste ist, dass wir jetzt alle zusammenhalten", bestimmt Giacomo, „gibt es denn etwas Neues bezüglich deiner Fähigkeit?"
Mein Magen verkrampft sich schmerzhaft, als er meine Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element anspricht. Natürlich hat sich da nicht sonderlich viel getan. Um ehrlich zu sein gar nichts. Doch als ich das sage, seufzt Giacomo nur. Ich kann erkennen, wie enttäuscht er ist. „Nun gut, dann ist dem wohl so", meint er, „am Wochenende wollen wir eine Exkursion nach Apice machen, um die Kräfte der Elementträger ungestört ausprobieren zu können. Es wäre schön, wenn du uns dennoch begleiten könntest."
Darauf nicke ich nur, obwohl ich nicht sonderlich viel Lust habe, Giacomo auf eine Exkursion zu begleiten. Bei dem Gedanke, ein ganzes Wochenende mit ihm zu verbringen, graust es mich. Vor allem, weil Philippe dann auch dabei sein wird.
Alessandro und Gaia bemühen sich, die angespannte Atmosphäre etwas zu entspannen. Ständig gießen sie Wein nach, woraufhin Alessia und Philippe nur noch streitsüchtiger werden und Giacomo über philosophische Weltanschauungen diskutieren möchte. Susanna dahingegen verstummt vollkommen. Sie scheint keinem der Gespräche mehr zu folgen, sondern ist nur noch mit ihrem Handy beschäftigt.
Pietro und seine Geschwister verwandeln sich jedoch in Komödianten. Vermutlich versuchen sie, genau wie ihre Eltern, die Stimmung etwas aufzulockern. Tatsächlich sind sie sogar ziemlich lustig. Mehr als einmal brechen wir in lautes Gelächter aus und Kate muss sich nach einem Witz von Davide schließlich Lachtränen aus den Augenwinkeln wischen. Trotzdem scheinen die Falcinis noch immer gereizt und Alessia erklärt schließlich knapp, dass es ihr leid täte, aber sie müsse am nächsten Tag wieder früh raus, weshalb sie sich nun auf den Weg nach Grosseto machen würde. Auch Philippe verzieht sich mit einer Entschuldigung auf sein Zimmer. „Ich werde morgen auch früh aufstehen. Wenn wir am Wochenende verreisen, möchte ich die Korrektur meiner Thesis bis dahin abgeschlossen haben. Außerdem wollen wir mit meiner Arbeitsgruppe ein Paper publizieren. Das werde ich bis zum Wochenende wohl außerdem lektorieren müssen", erklärt er.
„Manchmal habe ich das Gefühl, er hat ein Fremdwörterbuch für Spießer verschluckt", flüstert Vittoria mir zu. Damit trifft sie den Nagel so sehr auf den Kopf, dass ich kichern muss. Wütend dreht sich Philippe zu uns um. Dann verschwindet er allerdings ohne noch ein Wort zu sagen.
„Na kommt, dann räumen wir auch mal zusammen", meint Gaia und löst damit die Runde auf. Kate ich ich helfen den Bellucos noch dabei, das dreckige Geschirr ins Haus zu tragen.
Gerade als ich die Teller ein bisschen abwasche, bevor ich sie in die Spülmaschine räume, höre ich Pietro hinter mir flüstern: „Komm mal kurz mit." Erstaunt drehe ich mich zu ihm um. Er legt einen Finger auf die Lippen und bedeutet mir, leise zu sein. Dann winkt er mit der Hand als Zeichen, dass ich ihm folgen soll.
So leise wie möglich schleichen wir uns hoch in sein Zimmer. Hier sieht es ziemlich unordentlich aus. Sein Bett ist nicht gemacht und überall liegen offene Ordner und Unterlagen herum. Vermutlich noch Überbleibsel von seiner Prüfungsvorbereitung.
Vorsichtig schließt er die Tür hinter sich. „Du Brionny, tut mir leid, dass ich sauer auf dich war", beginnt er.
„Es tut dir leid?", frage ich und kann gar nicht glauben, was ich da höre. Eigentlich müsste doch ich diejenige sein, die sich bei ihm entschuldigt. Andererseits war sein Verhalten mir gegenüber an diesem Tag schon unmöglich.
„Ja... ich... ich war einfach ein bisschen gekränkt, weil du mir nicht erzählt hast, wo du warst. Dabei ist das ja keine große Sache. Ich weiß, dass du nicht gern über so etwas redest. Und egal, mit wem du unterwegs warst, du wirst mir bestimmt davon erzählen, wenn du soweit bist." Oder auch nicht. Pietro muss nicht wissen, dass ich das vorletzte Wochenende – und das letzte eigentlich auch – mit seinem ärgsten Feind verbracht habe.
„Ja, das werde ich bestimmt. Tut mir auch leid. Ich hätte nicht lügen sollen. Ich.... ich hab nur diese Sache am Laufen und ich weiß noch nicht genau, was daraus wird und deshalb möchte ich noch niemandem davon erzählen."
„Das ist auch in Ordnung. Ich meine, ich muss ja nicht alles wissen. Hauptsache ist doch, er macht dich glücklich." Da muss ich lächeln. „Das tut er", deutet Pietro meine Gefühle.
„Ja... irgendwie schon." Es ist seltsam, mit Pietro über Lucca zu sprechen, ohne seinen Namen dabei zu nennen. Unwillkürlich frage ich mich, was Lucca wohl davon halten würde, wenn er es wüsste.
„Das ist doch schön", meint Pietro und ergreift meine Hand.
„Und du hast jetzt wieder was mit Ana?", lenke ich das Thema von mir ab. Pietro wird rot und sieht zu Boden. Nun stammelt er noch ein bisschen mehr als sonst. „Ich... ich.. ja... also, ich find sie schon toll... so schon lange... und jetzt... ja jetzt sind wir uns halt wieder.... ein bisschen näher gekommen."
„Das ist doch schön." Nun bin ich diejenige, die ihm gut zuredet. Ich freue mich wirklich sehr für ihn. Noch mehr freut es mich aber, dass wir jetzt wieder ganz normal miteinander reden können. So wie Freunde es halt tun.
„Ja, mal sehen wie das läuft. Sie fliegt im Herbst zu ihren Verwandten nach Peru, um dort für sechs Monate zu reisen. Aber naja, ist ja jetzt auch egal. Du Brionny... ich... ich muss dir was sagen, werd aber bitte nicht böse auf mich." Oh je, wenn es schon so anfängt, dann kann ich ihm leider nichts versprechen.
„Letzte Woche war ja der Geheimbund hier und da habe ich..." Er läuft zu seinem Bett und steckt die Hand in den Kopfkissenbezug. Ich ziehe scharf die Luft ein, als er Maria Veccas Tagebuch zum Vorschein bringt. „Du hast das geklaut!", entfährt es mir.
„Pssst", faucht Pietro, legt seinen Finger an die Lippen und sieht mich erschrocken an. Seine Augen funkeln regelrecht. „Das soll keiner wissen."
„Es gibt gar keinen Maulwurf im Geheimbund", stelle ich fest.
„Nicht, dass ich wüsste", gesteht Pietro, „am Wochenende waren wieder alle so komisch drauf und haben von einem geheimen Archiv geredet. Als ich wissen wollte, was es damit auf sich hat, haben sie mir nur ausweichen geantwortet und... naja... ich hatte halt die Schnauze voll... da hab ich mir das Tagebuch einfach heimlich geschnappt." Ich staune nicht schlecht. Normalerweise ist er ein kleiner Angsthase und manches Mal hat mich diese Eigenschaft an ihm auch ziemlich genervt. Doch nun hat er es sogar gewagt, seinen Onkel zu bestehlen.
„Du hattest Recht, dass wir nur auf der Stelle treten und nicht voran. Ich habe gehofft, durch das Tagebuch weitere Hinweise zu finden."
„Und?", flüstere ich. Mein Herz schlägt schneller vor Aufregung. Hat Pietro nicht versucht, mich anzurufen, um mir etwas mitzuteilen? War es nur, weil er das Tagebuch geklaut hat oder auch weil er da drinnen einen Hinweis gefunden hat, den ich übersehen habe?
„Sie hat ein paar Seitenzahlen umkreist, aber scheinbar ohne System. Das gibt nicht sonderlich viel Sinn, deshalb habe ich dann noch einmal genauer hingeschaut." Er winkt mich zu sich heran und holt eine Lupe aus seinem Nachttisch. „Ich war mir zuerst unsicher, aber eigentlich ist es glasklar", meint er. Er schlägt das Buch auf der letzten Seite auf. Wie es aussieht, ist er mit einem Bleistift über die ganze Seite gefahren. „Siehst du das hier?", möchte er wissen. Nun ja, das ist ja auch schwer zu übersehen, so sehr wie er sich daran künstlerisch ausgetobt hat. Doch dann erkenne ich, dass jemand etwas in die Seite eingeritzt hat. Auf den ersten Blick ist es kaum zu erkennen, doch jetzt, wo die Seite angemalt ist, dafür umso sichtbarer.
„Wow,Pietro. Das ist super. Ich hab das selbst gar nicht bemerkt." Die Worte, die hervortreten, sind so deutlich, dass ich mich frage, warum ich sie nicht schon vorher entdeckt habe. „Auf dem Pult", steht da. Ich weiß sofort, wo ich nachschauen muss, um hinter das nächste Geheimnis zu kommen.
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