42. Der Verräter (1)
Ich bleibe noch einen Moment vor dem Palazzo stehen und werfe einen Blick zurück über meine Schulter zu unserem Refugium. Dann schnappe ich mir das Fahrrad und mache mich auf den Weg zurück nach Hause.
Als ich dort ankomme, brennt im Untergeschoss Licht. Meine Mutter und Antonio sitzen gemeinsam am Küchentisch und trinken ein Glas Wein. „Brionny?", fragt meine Mutter, nachdem ich die Tür aufgeschlossen habe.
„Ja", entgegne ich und will mich ungesehen die Treppe hinauf in mein Zimmer schleichen, doch da kommt sie in den Flur.
„Wo warst du denn so lange?", fragt sie und schneidet mir den Weg nach oben ab. Warum will sie das denn auf einmal wissen? Sonst ist ihr so etwas doch egal. „Ich war mit ein paar Leuten am Strand", lüge ich. Ich hoffe, dass ich sie damit zufriedenstellen kann. Tatsächlich nickt sie, so als würde sie mir glauben. Doch dann fällt ihr Blick auf die Wunde an meinem Bein und sie zieht erschrocken die Luft ein. „Was hast du denn da gemacht?", will sie wissen und weicht ein bisschen zurück, so als wäre ich durch die Verletzung ansteckend.
„Ich bin beim Schwimmen zu nah an die Felsen gekommen und habe mich verletzt", sage ich.
„Wo sind denn bei uns am Strand Felsen?", möchte sie wissen. So ein Mist! Klar, der Strand von Castiglione ist der reinste Badestrand. Hier gibt es keine Strömungen, Felsen oder sonst etwas, das für Urlauber gefährlich werden könnte.
„Ich ähh..." Fieberhaft überlege ich, welche Ausrede ich nun benutzen könnte. „Wir waren am Privatstrand von Massimo."
„Ah... Massimo..." Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. „Wäre der etwas für dich? Er ist der Cousin von Antonio."
„Oh Gott, nein Mum", fauche ich. Wie kommt sie denn auf die Idee, ich könnte mich für Massimo interessieren? Und noch abwegiger, warum möchte sie mit mir darüber reden? „Du bist schlimmer als Nonna und Grandpa!" Mit diesen Worten drehe ich mich auf dem Absatz um und stürme auf mein Zimmer. Noch immer spüre ich die Sonne und das Salzwasser auf meiner Haut, sowie Luccas Küsse, die meine Lippen benetzten.
-
Dieses Gefühl begleitet mich durch die nächsten Tage. Leider verschlimmert sich aber auch die Wunde an meinem Bein. Sie entzündet sich tatsächlich ein bisschen, weshalb ich am Montagmorgen auf Kates Drängen hin zum Arzt gehe. Am liebsten würde ich Lucca unter die Nase reiben, dass das Schwimmen bei den Felsen doch nicht so ungefährlich ist, aber dazu müsste ich ihm eine Nachricht schreiben und irgendetwas hält mich davon ab.
Der Arzt wirkt ziemlich unbeeindruckt, verschreibt mir eine antiseptische Salbe, verbindet die Wunde und meint, falls es mir in zwei Tagen nicht besser geht, soll ich noch einmal vorbei kommen.
Nach meinem Arztbesuch fahre ich mit dem Auto zur Schule, um Pietro und Stella von ihren Prüfungen abzuholen. Um kurz nach zwölf kommen sie beide mit strahlenden Gesichtern aus dem Schulgebäude gestürmt, zuerst Stella und ein paar Minuten später auch Pietro. Wieder sind Ana ,Maria, Massimo und ein paar Jungs von den Rettungsschwimmern da. Es gibt für jeden einen Sekt, außer für die Fahrer, und dann geht es auf Anweisungen von Pietro zur Villa seiner Familie. Dort bekommt jeder von uns ein Weinglas in die Hand gedrückt und wir starten eine Wanderung durch die Weinberge. Dabei machen wir immer wieder Pause, um die Weine von Pietros Familie zu verköstigen, während Pietro und sein Vater Alessandro uns etwas über die verschiedenen Rebsorten und Herstellungsweisen der Weine erzählen.
Unauffällig versuche ich, Pietro dabei näher zu kommen, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich mich letztes Wochenende nicht bei ihm gemeldet habe. Er scheint jedoch noch sauer auf mich zu sein, denn wann immer ich mit ihm rede, ignoriert er mich eiskalt. Manchmal dreht er sich sogar absichtlich von mir weg und fängt einfach an, mit anderen Leuten zu sprechen, während ich etwas sage.
„Wow... was hast du dem denn getan, dass er so böse auf dich ist?", möchte Massimo wissen. Na toll! Also ist ihm das auch aufgefallen. Da kann ich mich jetzt ja auf einige Spekulationen und Gerüchte gefasst machen, die hinter meinem Rücken ausgetauscht werden.
„Keine Ahnung", antworte ich nur. Dabei weiß ich ganz genau, weshalb Pietro sauer auf mich ist. Ich wünschte mir nur, er wäre nicht so nachtragend. Dass er nicht mit mir reden will, quält mich. Zwischen uns liegen beinahe unaushaltbare Spannungen in der Luft. Schließlich gebe ich es auf, Pietros Nähe zu suchen. Stattdessen unterhalte mich mit den anderen.
An unserer letzten Station gibt es Baguette mit Salami, Käse, Tomaten und Oliven. Wir haben eine Picknickdecke auf dem Boden ausgebreitet, während wir die Reste vom Wein trinken. Um mich herum ist alles flau und dumpf, als wäre ich in Watte gepackt. Ich begrüße diese Wirkung des Alkohols, denn so macht mir die schlechte Stimmung zwischen Pietro und mir weniger aus. Trotzdem stört es mich, wie ein Mückenstich, der einfach nicht aufhören möchte, zu jucken.
Pietro hat sich so weit wie möglich von mir weggesetzt und hält Ana im Arm. Sie lacht gerade über einen Witz, den er gemacht hat und füttert ihn mit Oliven.
Grimmig starre ich zu ihm hinüber. Am liebsten würde ich ihn hier vor versammelter Mannschaft auf sein Verhalten mir gegenüber ansprechen, doch ich möchte nicht, dass die anderen etwas von unserem Streit mitbekommen. Dabei ist es für jeden der Anwesenden offensichtlich, dass wir sauer aufeinander sind. Sogar Stella spricht mich darauf an.
„Denkst du, es ist, weil er dich letztes Wochenende nicht erreichen konnte?", möchte sie wissen.
„Was?", frage ich und wende mich zu ihr um.
„Na, Pietro dachte ja, du wärst bei mir und wollte dich unbedingt sprechen. Als ich ihm gesagt habe, dass du nicht da bist, hat er ganz komisch reagiert. Vielleicht ist er deshalb so kühl dir gegenüber", schlussfolgert sie. Obwohl sie damit goldrichtig liegt, tue ich diese Idee ab. „Ach Quatsch. Bestimmt nicht." Auch wenn ich gerne mit Stella über Pietros und meinen Streit gesprochen hätte, kann ich es nicht. Denn dann müsste ich ihr von den Elementen und Marias Geheimnis erzählen und das wäre vermutlich keine sonderlich gute Idee.
„Naja, er verhält sich schon komisch. Wenn du magst, kann ich Ana mal fragen, ob er ihr gegenüber was erwähnt hat. Zwischen den beiden läuft mal wieder etwas. Das geht schon so seit der achten Klasse. On und off. Ich weiß nicht, warum sie sich immer wieder auf ihn einlässt. Fest zusammen waren die beiden schließlich nie."
„Nee... lass mal", sage ich. Davon, dass Pietro und ich Stress miteinander haben, muss Ana nicht unbedingt auch noch wissen. Gleichzeitig bin ich ein bisschen enttäuscht. Einerseits erwartet Pietro von mir, dass ich ihm gegenüber ehrlich bin und andererseits erzählt er mir dann nichts von Ana.
Meine Laune wird immer schlechter, je ausgelassener die Gruppe wird. Alle scheinen eine Menge Spaß zu haben und ich fühle mich dumpf und schlecht. Nicht nur, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, ich habe auch noch das Gefühl, einen schlimmen Fehler begangen zu haben. Deshalb rede ich mit niemandem mehr und ziehe mich von der Gruppe zurück. Allein laufe ich hinter den anderen zur Villa Belluco.
Dort verabschieden sich alle voneinander und wir verabreden uns für übermorgen zu einer Party am Privatstrand von Massimo, auf die ich gerade aber nur so mäßig Lust habe. Dann steigen diejenigen, die noch fahren können in ihre Autos. Der Rest lässt sich von den Eltern abholen.
Ohne mich zu verabschieden, wende ich mich zum Gehen ab. Da spüre ich, wie mich jemand am Handgelenk zurückhält. Erstaunt wende ich mich um und sehe direkt in Pietros Gesicht. Es wirkt irgendwie fremd und weit weg. Andererseits sieht er mich nun zum ersten Mal an diesem Tag direkt an.
„Möchtest du zum Abendessen bleiben?", fragt er. Im ersten Moment bin ich so perplex, dass mein Mund offen steht. Dann werde ich ein bisschen wütend. Am liebsten hätte ich ihn angepflaumt, was er sich denn einbildet, mich den ganzen Tag zu ignorieren und nun zu fragen, ob ich zum Essen bleiben möchte. Ich schaffe es jedoch, die Wut herunterzuschlucken und seine Frage als Friedensangebot zu sehen.
„Ja gern", presse ich heraus. Es klingt unfreundlicher als ich es beabsichtigt habe, doch Pietro nickt und versucht tatsächlich zu lächeln. Noch immer ist da eine Distanz zwischen uns, aber das Eis ist endlich gebrochen.
Ich folge Pietro, während unsere Freunde nach Hause fahren. Im Garten bietet sich mir eine fast schon harmonisch wirkende Szenerie. Nahe des Swimmingpools haben die Bellucos ihre Gartenmöbel aufgebaut. Auf dem Gartentisch stehen jede Menge Salate und noch mehr Wein. Alessandro, Gaia und Alessias feste Freundin wuseln um den Tisch herum und schauen, dass nichts fehlt. Währenddessen steht Alessia am Holzkohlegrill und kümmert sich das Fleisch und Grillgemüse. Ich meine zu sehen, wie sie ein bisschen mit ihrem Element nachhilft, damit die Temperatur optimal eingestellt ist.
Philippe fläzt mit einem Glas Wein in der Hand auf einem Klappstuhl neben dem Grill und gibt Kommentare zu dem ab, was seine Schwester da tut. Vittoria, Davide und sogar Kate sitzen mit Giacomo Falcini und seiner Frau auf den Liegen am Pool. Zuerst bin ich überrascht, meine Schwester hier zu sehen, doch dann fällt mir ein, dass sie vermutlich mal wieder Elementunterricht bei Giacomo hatte und deswegen hier ist. Mit einem flauen Gefühl im Magen denke ich daran, dass ich mit Giacomo vereinbart habe, nach meinen Prüfungen ebenfalls wieder an dem Unterricht teilzunehmen.
Giacomo, seine Frau Susanna, Vittoria, Davide und Kate stecken die Köpfe eng zusammen. Alle machen ernste Gesichter. Ich frage mich, worüber sie gerade sprechen. Die Stimmung ist angespannt. Als er uns sieht, winkt Giacomo uns zu sich herüber. Zur Begrüßung schüttelt er meine Hand, während alle anderen mich herzlich umarmen. „Gut, dass du da bist, Brionna", sagt er, „ich muss auch mit dir reden. Es ist sehr ernst." Dabei legt er die Stirn in Falten. Er sieht aus, als würde er sich große Sorgen machen. Bei der Ankündigung rutscht mir das Herz in die Hose. Ich habe Angst vor dem, was nun kommt.
„Setzt euch doch", meint er und deutet auf die Liegen. Pietro und ich nehmen nebeneinander Platz. Daraufhin verrät uns Giacomo ohne Umschweife, warum er so besorgt dreinblickt. „Wir vermuten, dass es einen Maulwurf im Geheimbund gibt."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro