40. Team Leonardo (1)
Am nächsten Morgen erwache ich mit dem Wecker. Irgendwie gelingt es mir, die Gedanken an Lucca, Pietro und meinen Vater beiseite zu schieben. Gestern Abend und heute Morgen haben mir jede Menge Leute geschrieben. Unter anderem Maddie, ein paar entfernte Verwandte und Klassenkameraden. Alle wünschen mir viel Glück und Erfolg für die Prüfungen. Pietro ist der Einzige, der sich nicht bei mir meldet, was ich ihm wohl nicht verübeln kann, aber andererseits ärgert es mich, dass er sich so sehr anstellt.
Trotzdem freue ich mich über die lieben Worte meiner Freunde. Besonders aber heitert mich eine bestimmte Nachricht auf. „Viel Erfolg für die nächsten Tage wünsche ich dir. Fände es schön, wenn wir uns bald wieder sehen könnten. LG L." L. Lucca. Mein Herz schlägt höher. Er hat tatsächlich an mich gedacht. Niemals hätte ich erwartet, dass er mir schreibt.
Ein warmes Kribbeln breitet sich in meinen Eingeweiden aus, das ich nicht ganz zuordnen kann. Ich schiebe es auf die Prüfungen, obwohl ich eine andere Ursache im Verdacht habe. Denn schließlich ist es vollkommen normal, vor seinen Abschlussprüfungen nervös zu sein, oder etwa nicht?
Die Biologieprüfung am Dienstagmorgen fällt mir relativ leicht und als ich das Schulgebäude verlasse, scheine ich fast zu schweben. Auch Geographie am Mittwoch läuft gut. Mit den Aufgaben, die ich in der Vorbereitungszeit bearbeiten soll, bin ich allerdings erst fertig, als mich unsere Lehrerin zur Prüfung abholt. Die Prüfungskommission besteht aus zwei weiteren Lehrerinnen, die in einem der Klassenräume auf mich warten. Als ich Platz nehme, stelle ich fest, dass sich jemand auf dem Tisch, an dem ich sitze, verewigt hat. Mit den Fingern fahre ich behutsam über die Buchstaben und Zahlen, die hier mit einem Messer eingeritzt wurden. M.I.V. 05.12.1953.
Für einen kurzen Moment bin ich erstaunt. MIV sind unverkennbar die Initialen von Maria Vecca. Hat sie etwa einst an diesem Tisch gesessen? Ist diese Schule tatsächlich so alt? Doch dann beginnt auch schon die Prüfung und ich vergesse schnell wieder, was ich entdeckt habe, sondern konzentriere mich auf den Prüfungsstoff.
Nachmittags gehe ich zum Training der Rettungsschwimmer. Ich rechne schon damit, Pietro wieder zu sehen, aber er hat sich beim Training entschuldigt, weil er noch lernen möchte. Insgeheim ärgert es mich, dass er abgesagt hat, denn ich hätte gerne persönlich mit ihm gesprochen. Bei Massimo, Pietros bestem Freund, erkunde ich mich nach ihm, doch er meint, er habe selbst schon seit Tagen nichts mehr von Pietro gehört. Worum es denn ginge, will er wissen. Ich winke jedoch ab und meine, es sei nichts Wichtiges. Massimo ist eine Labertasche. Wenn ich ihm erzähle, dass Pietro und ich uns gestritten haben, weiß es morgen das ganze Schwimmteam und das kann ich nicht gebrauchen.
Obwohl ich mich im Training komplett auspowere, bin ich abends nicht müde. Bis nach Mitternacht sehe ich mir Sachen für meine letzte Prüfung an. Dann schlafe ich endlich ein. Auch der letzte Prüfungstag läuft gut. Als ich mit den Worten, dass ich in den nächsten Tagen die Ergebnisse erhalte, entlassen werde, kann ich es selbst kaum glauben.
Wie oft habe ich in den letzten Monaten an genau diesen Augenblick gedacht und mich nach ihm gesehnt. Nun ist er endlich da, aber doch eben ganz anders, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Es fühlt sich nicht so überschwänglich und gut an wie in meinen Vorstellungen, sondern fast schon nüchtern.
Vor dem Schulgebäude erwartet mich ein kleines Empfangskomitee. Stella, Ana und Maria sind gekommen und sogar Massimo, Pietro, sowie zwei andere Jungs von den Rettungsschwimmern. Aber noch mehr verwundert es mich, dass Kate, Vittoria und Davide da sind. Sogar meine Großeltern holen mich ab und sie haben John Lennon mitgebracht, der ganz aufgeregt anfängt zu bellen.
Alle jubeln und singen, als sie mich sehen, dabei sind meine Freunde selbst noch gar nicht mal fertig mit ihren Prüfungen. Grandpa hat eine Flasche Prosecco dabei, deren Korken er unter lautem Gejubel knallen lässt und den er in Plastikbechern verteilt. Jeder nimmt einen Becher und stößt dann mit mir an.
Pietro umarmt mich sogar. Ob er noch sauer auf mich ist, kann ich nicht erkennen. Falls ja, so zeigt er seine Gefühle nicht offen, denn er schlägt bei mir ein, als wäre nie etwas gewesen und meint: „Was fängst du jetzt mit deiner ganzen freien Zeit an?"
„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen schwimmen", antworte ich darauf nur. Auf unseren Streit möchte ich ihn in dieser Situation nicht ansprechen. Stattdessen genieße ich diesen Moment.
Schon bald verabschieden sich jedoch die ersten wieder. So fahren Pietro, Ana, Stella und Massimo nach Hause, um weiter zu lernen. Ein bisschen schade finde ich es schon, als Erste von allen mit den Prüfungen fertig zu sein, weil ich dann nicht mit den anderen zusammen feiern kann. Doch dafür ist ja meine Familie da und Nonna scheint sich mehr über das Ende der Prüfungen zu freuen als ich. Ständig wischt sie Tränen aus ihren Augenwinkeln und seufzt. „Es ist so schön, dass du es geschafft hast, Liebes", meint sie und nimmt mich zum bestimmt dutzendsten Mal an diesem Tag in den Arm.
Nachdem meine Freunde verschwunden sind, verfrachten meine Großeltern Kate und mich ins Auto und fahren mit voll aufgedrehtem Radio und heruntergelassenen Fenstern zurück nach Castiglione. Dabei singen Nonna und Kate aus vollen Kehlen mit. Obwohl ich finde, dass ich das grässlich anhört, muss ich lächeln. Der Tag ist einfach viel zu schön, um schlechte Laune zu haben.
Zu Hause angekommen wartet im Restaurant meiner Großeltern eine kleine Überraschung auf mich. Wie bei jedem Anlass, den man feiern kann, haben Nonna und Grandpa jede Menge Tische in den Garten hinter dem Haus gestellt und alle möglichen entfernten Verwandten von uns eingeladen. Meine Mutter und Antonio haben gekocht und es gibt ein kleines Festmahl, unter anderem Bruschetta, Salat, Oliven, Honigmelone mit Speck, gegrillte Zucchini, Auberginen und einiges mehr. Ich probiere sogar die Garnelenspieße und Austern, obwohl ich Meeresgetier nicht so wirklich mag. Als Aperitiv werden Sekt und Aperol Spritz gereicht. Danach kommen noch Pasta und Fleisch auf den Tisch, sowie jede Menge Wein.
Obwohl ich die Aufmerksamkeit, die mir entgegen kommt, ziemlich unangenehm finde, freut es mich dennoch, dass wir als Familie zusammen sitzen und den Abend gemeinsam genießen.
Es wird ausgelassen getrunken, getanzt und gefeiert. Da ich komplett überwältigt bin, lasse ich alles einfach geschehen und mache mit. Ich lasse sogar zu, dass mich einer meiner Großcousins zum Tanzen auffordert und mich dann nach dem Lied an den Bruder meiner Großmutter weiterreicht.
Schließlich befreit mich Mum jedoch aus den Fängen ihres Onkels und raunt mir ins Ohr: „Wenn er einmal angefangen hat zu tanzen, kann er nicht mehr damit aufhören. Besser, man ergreift schnell die Flucht." Dabei zieht sie verschwörerisch die Augenbrauen hoch und wir beide müssen kichern. Welch ein seltsamer Moment der Zweisamkeit.
Meine Mutter wirkt ausgelassen und glücklich. Während wir feiern, kümmert sie sich gleichzeitig um die Bewirtung des Restaurants, doch trotzdem sieht sie ein paar Mal bei uns vorbei und setzt sich sogar für ein paar Minuten mit an den Tisch. Ihr Lachen klingt laut und glockenhell. Es scheint aus den Tiefen ihrer Seele zu kommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals so lachen gehört zu haben. Ihre gute Laune wirkt beinahe ansteckend wie ein Virus, das sich in Sekundenschnelle von Mensch zu Mensch verbreitet. Ihre Ausstrahlung ist ganz anders als ich sie sonst kenne.
Viel zu schnell verwandelt sich der ausgelassene Abend in eine frühe, beschwipste Nacht. Während die Nachspeise serviert wird, dämmert es bereits und kurz darauf ist es auch schon dunkel. Trotzdem brechen die lauten, heiteren Gespräche meiner Verwandten nicht ab. Im Gegenteil, sie wirken nun noch ausgelassener, da die Sonne untergegangen ist und sich die milde Nachtluft wie eine warme Decke über uns legt. Die Familie beschließt, auf ein Eis hinunter zum Hafen zu gehen, aber ich möchte mich eigentlich nur noch in mein Bett fallen lassen und schlafen.
Deshalb verabschiede ich mich so leise, dass nur Kate es mitbekommt. Zum Abschied drückt sie mir einen Kuss auf die Wange und verspricht, die anderen so gut abzulenken, damit sie mein Fehlen gar nicht bemerkten. So schlendert meine Familie weiterhin vergnügt durch die Gassen zur Eisdiele, während ich mich leise und heimlich die Treppenstufen zu unserem Haus hinaufschleppe.
Am nächsten Morgen fühle ich mich trotz all der Feierei am Vortag ausgeruht und frisch. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätte jemand eine schwere Last von meinen Schultern genommen, auch wenn ich das im ersten Moment nach der Prüfung gar nicht so empfunden habe. Ich bin voller Tatendrang und zum ersten Mal seit einer Woche fühle ich mich dazu bereit, mich wieder meiner Aufgabe zu widmen, nämlich Leonardo zu finden. Weder von Lucca, noch von meinem Vater habe ich etwas gehört. Ein bisschen versetzt mir das einen Stich, doch ich versuche, dieses Gefühl abzuschütteln. Meinen Vater werde ich schließlich in knapp zehn Tagen wiedersehen und von Lucca möchte ich schon gar nichts erwarten.
Neugierig hole ich die Tasche meines Vaters unter den Dielen hervor und sichte, was er mir mitgegeben hat. Es sind hauptsächlich Fotos und alte Zeitungsartikel, sowie Publikationen von Professor Falcini. Sogar ein Buch über die Legenden von Pergula ist dabei. Es ist schon ziemlich alt, brüchig und sieht so aus, als hätte es jemand aus dem geheimen Raum in den Ruinen stibitzt.
Vorsichtig schlage ich das Buch auf und blicke auf die erste Seite, auf der weitere Informationen in vergilbten Lettern stehen. Der Einband ist rissig und die Seiten dünn. Trotzdem lese ich gespannt, was dort geschrieben steht. Die Sätze sind lang und verschachtelt, aber sie erzählen immer dasselbe. Hier stehen bestimmt vier verschiedene Auffassungen der Legenden, nach denen Podoeri, der Herrscher des fünften Elements, die ersten Elementträger schuf. In einer der Versionen ist Podoeri sogar eine Frau. Ehrfürchtig fahre ich mit den Augen über die Seiten. Dann bekommt das Buch einen Platz in der zweiten Reihe meines Regals.
Als nächstes überfliege ich die Zeitungsartikel. Die meisten von ihnen berichten über das plötzliche Verschwinden von Leuten, die wohl alle Elementträger gewesen sind. Auch von dem Massenmord an Elementträgern, bei dem Professor Falcini seinen eigenen Sohn Giacomo opfern wollte, wird geschrieben. Die Taten werden der Mafia oder einem satanistischen Teufelskult zugeschrieben und die Ermittlungen alsbald eingestellt.
Unter einen der Artikel hat jemand mit krakeliger Schrift die Worte „Infiltration von Polizei und Justiz?" festgehalten. Zum ersten Mal frage ich mich, ob die Anhängerschaft von Falcini nicht vielleicht auch so groß ist, wie die des Geheimbundes und damit ebenso gut vernetzt. Vorstellbar wäre es zumindest. Wenn ich Lucca wiedersehe, muss ich ihn unbedingt danach fragen.
Auf den Fotos, die mein Vater mir mitgegeben hat, sind Maria Vecca und ihre Familie zu sehen. Sie entstammen ganz unterschiedlichen Jahren. Das Älteste ist in schwarz-weiß und zeigt Giacomo Falcini noch als kleines Kind. Auf dem Jüngsten ist er selbst mit seiner Familie abgebildet. Es muss kurz nach Leonardos Geburt, aber vor dessen Entführung aufgenommen worden sein, denn es zeigt die Familie Falicini zu fünft.
Nachdem ich die Fotos auf meinem Schreibtisch ausgebreitet habe, blättere ich durch ein kleines Notizbuch, in dem mein Vater seine Überlegungen zum Aufenthaltsort Leonardos festgehalten hat. Dabei hat er ziemlich viel herumgerechnet und kombiniert. Allerdings ohne auf die Lösung zu kommen. Die meisten Gedankengänge hat er wieder verworfen und sogar die Begründungen, warum seine Annahmen nicht stimmen können, dazugeschrieben.
Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich viele Überlegungen meines Vaters nicht. Andere dagegen leuchten auch mir ein. Umso mehr finde ich es schade, dass er sie wieder verwerfen musste.
Da ich nicht weiß, wie ich in Sachen Leonardo weiterkommen soll, rufe ich bei Pietro an. Vielleicht gelingt es mir ja wenigstens, unseren Streit zu schlichten. Doch noch immer will er mich nicht sprechen, denn er drückt meinen Anruf weg.
Frustriert lasse ich es sein und frage Maddie stattdessen, ob sie mit mir skypen möchte. Sie hat jedoch keine Zeit, weil sie auf einem Wettkampf mit dem Schwimmteam ist. Wieder steigt in mir das Gefühl auf, dass ich auf einem Punkt stehe und nicht weiterkomme. So langsam bin ich davon richtig genervt. Das ärgert mich so sehr, dass ich erst mal laufen gehen, um die angestaute Energie los zu werden. Als ich wieder nach Hause komme und die Fitnessapp auf meinem Handy checke, stelle ich fest, dass ich in zwei neue WhatsApp-Gruppen hinzugefügt wurde. Scheinbar wollen Pietro und Stella am Montag das Ende ihrer Prüfungen mit unserem Freundeskreis groß feiern. Als ich das sehe, schnaube ich nur wütend. Um mit mir zu telefonieren, findet Pietro keine Zeit, aber auf seine Feier kann er mich einladen?
Ich versuche die Wut und den Ärger herunterzuschlucken, die in mir aufkochen, doch es gelingt mir nicht. Noch immer scheint in meinen Knochen und Muskeln eine unglaubliche Energie zu stecken, weshalb ich beschließe, nach dem Laufen eine Runde Fahrrad zu fahren. Außerdem packe ich meine Schwimmsachen ein. Wer weiß, vielleicht finde ich ja einen ruhigen, abgelegen Ort mit einem Zugang zum Meer.
So schnappe ich mir Kates Fahrrad aus dem Keller und schwinge mich auf den Sattel. Dabei lasse ich mich einfach treiben. Ohne Plan oder Ziel fahre ich los über die Serpentinenstraßen, die sich die Hügel rund um Castiglione hoch und runter schlängeln. Schon bald werden meine Beine schwer und träge. Die Mittagssonne brennt auf meine Schultern hinab und Schweiß läuft meinen Rücken in kleinen Rinnsalen hinunter. Doch ich genieße dieses Gefühl und trete noch kräftiger in die Pedale, bis ich mich völlig ausgelaugt fühle. Schließlich lenke ich das Fahrrad auf einen kleinen Schotterweg, der von den Straßen abführt.
Erst nach einem Augenblick erkenne ich, dass es sich bei dem Schotterweg um die Auffahrt zum Palazzo Lido handelt. Luccas Refugium. Langsam steige ich vom Fahrrad und stelle es im Gebüsch ab.
Wie in Trance laufe ich die Auffahrt weiter entlang. Es ist, als gäbe es etwas, das mich magisch anzieht. Ein bisschen fühle ich mich wie fremdgesteuert. Trotzdem nehme ich meine Umgebung gestochen scharf wahr. Im Hellen sieht alles hier ganz anders und noch ein bisschen unwirklicher aus als bei Nacht. Ich erkenne richtig, wie die Natur sich in dem unfertigen Haus eingenistet hat und nun versucht, verlorenes Terrain zurück zu erobern.
Vorsichtig trete ich durch die Haustür und laufe bis zu der großen Terrasse vor. Wie bei meinem ersten Besuch hier fühle ich mich, als würde ich in einen kleinen Wald treten. Um mich herum wachsen die verschiedensten Pflanzen in ihren Töpfen. Hinten am Horizont liegt das Meer, das in der Mittagssonne glitzert. Dieser Anblick ist so schön, dass er mich beinahe vollkommen gefangen nimmt. Deshalb bemerkte ich zunächst gar nicht, wie jemand von hinten an mich herantritt und mir eine Hand auf die Schulter legt. Doch dann wirbele ich erschrocken herum.
Hinter mir steht Lucca. In seinem linken Ohrläppchen blitzt der Stecker des fünften Elements und über seinen Augen liegt ein seltsamer Glanz.
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