39. Refugium (3)
Den Montag verbringe ich beinahe komplett am Schreibtisch. Ich bin wie in einer Trance und stehe nur auf, um mir etwas zum Essen zu machen oder kurz duschen zu gehen. Tatsächlich braucht es Mum, um mich in die Realität zurück zu holen. Gegen Abend stürmt sie mit laut polternden Schritten die Treppe hinauf und reißt dann ohne Vorwarnung oder anzuklopfen meine Zimmertür auf.
„Jetzt hast du dich aber genug in deine Bücher verkrochen", meint sie, „das ganze Wochenende habe ich dich nicht zu Gesicht bekommen." Kein „Hallo, wie geht es dir?" oder „Fühlst du dich fit für morgen?". Allerdings habe ich etwas Derartiges auch nicht von ihr erwartet. Ich brauche einige Sekunden, um im Hier undJetzt anzukommen.
„Ja... hey Mum, ich war bei Stella zum Lernen", stammele ich. Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich sie anlüge. Das hat sie nicht verdient. Nicht nach all dem, was ihr bereits passiert ist. Ich finde es schrecklich, dass Maria und mein Vater ihr Leben manipuliert haben. Dass sie nichts von all dem weiß, macht mich nur noch wütender. Für einen Moment sehe ich meine Mutter direkt an. Es ist, als würde ich sie zum ersten Mal anschauen. Trotzdem bringe ich nicht die Kraft auf, ihr die Wahrheit zu sagen. Ging es Maria und meinem Vater am Ende nicht ähnlich? Sie haben auch die ganze Zeit ein Geheimnis mit sich herumgetragen und es nicht über sich gebracht, ihren Familien davon zu erzählen.
„Also deine Schwester hat gekocht, kommst du zum Essen?", fragt sie. Meine Schwester kann phänomenal gut kochen. Mum dahingegen schafft es selten, etwas Essbares auf den Tisch zu bringen, dabei ist sie Köchin von Beruf. Aber man soll Berufliches und Privates ja bekannterweise trennen.
„Also wenn du das mal nicht super hinkriegst, daran hab ich ja gar keine Zweifel", meint Mum, während wir gemeinsam die Treppen hinuntergehen, „wenn überhaupt, dann hast du zu viel gelernt."
„Ich hab ja eine Woche verloren, weil ich krank war", erinnere ich sie.
„Ach was, du machst das super. So war es doch schon immer. Wann sind nochmal deine Abschlussprüfungen?"
„Morgen, Übermorgen und Freitag", sage ich.
„Wow... alle in einer Woche...", staunt Mum. Sie berührt mich leicht am Oberarm und lächelt mir aufmunternd zu. „Du packst das...", sagt sie. Ich nicke nur und für einen kurzen Augenblick erweckt der Drang in mir, sie zu umarmen. Doch ich trete hastig einen Schritt zurück und ehe ich mich versehe, ist der Moment der Zweisamkeit auch schon vorbei.
Hinter Mum betrete ich die Küche. Antonio sitzt am Tisch und schenkt für alle Wasser und Wein ein. Hätte ich mir ja schon denken können, dass er da ist. Heute habe ich allerdings gar nichts gegen seine Anwesenheit. Im Gegenteil, ich freue mich fast, ihn zu sehen.
Währenddessen steht Kate vor dem Backofen und spät prüfend hinein. Wie es aussieht, gibt es einen Auflauf. Kate sieht sommerlich aus in ihren geblümten Shorts und dem weißen T-Shirt. Ihr Haar wird von einem kirschroten Reif zurück gehalten, wodurch sie beinahe unschuldig und kindlich wirkt. Als ich sie so dastehen sehe, kann ich einfach nicht anders. Ich laufe auf sie zu und schließe sie in meine Arme. Das schlechte Gewissen meiner Familie gegenüber wird damit nur noch größer.
„Hey, bist du auch wieder da", sagt Kate zur Begrüßung und erwidert meine Umarmung, „das war wohl ein ziemlich intensives Lernwochenende, ich hab dich gar nicht erreichen können." Mit einem stetig steigenden schlechtem Gewissen denke ich an meine SIM-Karte, die ich zu Hause gelassen habe. Bis jetzt habe ich sie noch nicht wieder zurück in mein Handy gesteckt.
„Ja", sage ich, „tut mir echt leid. Gab's was Wichtiges?" Am liebsten würde ich so schnell es geht ein anderes Thema anschneiden. Mir ist wohler dabei, meiner Familie nur zu verschweigen, wo ich gewesen bin, statt lügen zu müssen.
„Nein, Pietro hat nur versucht, dich zu erreichen", meinte sie, „er wollte mit dir über irgendetwas reden, aber mir wollte er nicht sagen, worum es geht."
Es überkommt mich heiß und kalt. Oh nein. Hoffentlich war es wirklich nichts Wichtiges. Und hoffentlich bin ich nicht aufgeflogen. Aber das hätte ich doch schon längst gemerkt, oder? Pietro hätte bestimmt den Geheimbund alarmiert, wenn er mich nicht erreichen kann.
„Hast du ihm gesagt, dass ich bei Stella bin?", frage ich.
„Ja", sagt Kate. Ich muss regelrecht an mich halten, um nicht hoch in mein Zimmer zu stürmen, die SIM-Karte ins Handy zu stecken und Pietros Nachrichten zu lesen. Was, wenn er versucht hat, Stella zu erreichen, um mit mir zu reden? Falls er weiß, dass ich gelogen habe, so hat er zumindest Kate nichts davon erzählt, denn sie scheint so gut gelaunt wie immer zu sein. Meine Schwester ist eine miserable Schauspielerin. Wenn sie etwas stört, dann merkt man das sofort.
Fröhlich lächelnd und eine Melodie aus dem Radio vor sich hinsummend wendet sie sich wieder unserer Mahlzeit zu. Als der Auflauf fertig ist, stellt sie ihn auf den Tisch und verteilt ihn. Während dem Essen hört Kate beinahe gar nicht mehr auf zu reden. Mit einem Strahlen in den Augen berichtet sie von ihrem Wochenende am Strand. Gemeinsam mit Vittoria, Davide und ein paar anderen Freunden hat sie Beachvolleyball gespielt und mit Mum, Antonio und John Lennon war sie spazieren. Abends haben sie und Vittoria sich alte Folgen von dem Bachelor angeschaut und sich selbst Gesichtsmasken zusammengerührt. „Aber da muss irgendetwas drin gewesen sein, weil nach kurzer Zeit haben unsere Gesichter total gebrannt und wir haben die Masken dann natürlich sofort runtergemacht, aber Vittoria hat trotzdem drauf reagiert. Ihre Haut war feuerrot. Das sah schlimm aus. Die Arme..."
Nach dem Essen spült sie ab, während Antonio sich ein Handtuch schnappt, um das Geschirr zu trocknen. Mum dahingegen sitzt am Tisch und wischt mit den Fingern über den Bildschirm ihres Smartphones. Währenddessen verziehe ich mich mit der Entschuldigung, noch lernen zu wollen, auf mein Zimmer.
Dort angekommen stürze ich direkt zu meinem Handy und stecke die SIM-Karte ein. Bis es hochgefahren ist, dauert es viel zu lange. Ich ertappe mich dabei, wie ich nervös an meinen Fingernägeln kaue. Danach leuchten die verpassten Anrufe auf meinem Bildschirm auf. Drei von Kate und zwanzig von Pietro. Zwanzig!? Was war da bloß los? Wenn er so hartnäckig versucht hat, mich zu erreichen, muss es wirklich etwas Wichtiges gewesen sein.
Nachdem sich das Handy ins W-LAN eingeloggt hat, kommen schließlich auch die WhatsApp-Nachrichten. Eine ist von Stella. „Pietro hat versucht, mich anzurufen. Scheinbar dachte er, du wärst bei mir. Hat sich bestimmt nur vertan, wollte dir da aber Bescheid geben." So ein Mist! Pietro hat mir gar nicht erst geschrieben. Allerdings weiß er nun vermutlich, dass ich am Wochenende nicht bei Stella war. Mit klopfendem Herzen wähle ich seine Nummer.
Beim ersten Mal nimmt er nicht ab. Als ich ihn aber ein zweites Mal anrufe, geht er ran. „Was?", fragt er genervt, so als hätte ich ihn bei etwas gestört.
„Hey du", sage ich und versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Es gelingt mir allerdings nicht besonders gut.
„Wo zur Hölle warst du?", platzt es aus Pietro heraus.
„Ich... ich war lernen."
„Aber nicht bei Stella... weißt du... ich hab mir richtig Sorgen gemacht, als ich gestern Abend versucht habe, bei dir anzurufen und du nicht drangegangen bist..." Er klingt aufgebracht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ohne mich zu verraten. Dass ich bei meinem Vater war, würde ich ihm zwar gern erzählen, aber wie soll ich ihm das sagen, ohne dabei auf Lucca zu sprechen zu kommen? Außerdem müsste ich Pietro dann auch die ganze Geschichte von Leonardo erzählen. Wenn ich schon mit Kate nicht darüber sprechen kann, dann mit Pietro erst Recht nicht. Die Gefahr, dass er Giacomo alles verraten würde, ist viel zu hoch.
„Weißt du... ich hätte beinahe meinem Onkel Bescheid gesagt, dass du nicht da bist. Dir... dir hätte wer weiß was passieren können..."
„Und hast du?" Hoffentlich weiß Giacomo nicht, dass ich nicht zu Hause war. Andererseits hätte er dann ja wohl wiederum selbst versucht, mich zu erreichen.
„Was?"
„Deinem Onkel Bescheid gesagt?" Stille. Ich bin mir sicher, dass Pietro meinen lauten Herzschlag durch das Telefon hört. Meine Hand zittert beinahe so sehr, dass ich das Handy nicht still am Ohr halten kann. Ich bin ziemlich sauer auf mich selbst. Wie konnte ich nur so dumm sein und so offensichtlich lügen? Da war doch vorprogrammiert, dass das auffliegen würde. Zumindest hätte ich vorsichtiger sein können. Wenn ich gestern Abend nicht mit Lucca zum Palazzo Lido gegangen wäre, hätte ich Pietros Nachrichten vermutlich noch rechtzeitig gekriegt.
„Nein... aber ich hätte es fast... aber Kate hat mir erzählt, dass du heute Morgen wieder nach Hause gekommen bist. Wo zur Hölle warst du?"
„Ich... war unterwegs..."
„Mit wem? Mit Philippe ganz sicher nicht. Der war das ganze Wochenende hier."
„Ich... mit jemand anderem." Warum sollte ich auch mit Philippe unterwegs sein? Wie kommt Pietro auf diese absurde Idee?
„Mit wem denn? Warst du bei einem, mit dem da was läuft?" So wie er das sagt, klingt es fast schon anklagend und vorwurfsvoll. Trotzdem liefert Pietro mir damit eine gute Vorlage. Nun kann ich behaupten, dass ich noch niemanden von meinem neuen Verhältnis erzählen möchte und deshalb nicht gesagt habe, wo ich bin.
„Ich... ja", seufze ich. Damit habe ich wenigstens nicht gelogen. Zu gern hätte ich mit Pietro über Lucca gesprochen oder wenigstens mit meiner besten Freundin Maddie oder mit Kate. Aber ich spüre, dass ich das nicht kann. Niemand würde mich versehen. Um ehrlich zu sein, verstehe ich es ja selbst nicht so genau. Wäre da nicht diese Zuneigung und das wohlig warme Gefühl in meinem Oberkörper, wenn ich an Lucca denke, würde ich mich selbst für verrückt erklären. Wie soll das dann jemand anderes begreifen?
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?", will Pietro wissen, „wir...wir sind doch Freunde... beste Freunde. Da erzählt man sich so was!" Er ist offensichtlich sauer. Ich habe ihn noch nie so aufgebracht reden hören. Dadurch wird mein schlechtes Gewissen nur noch größer. Seufzend fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht.
„Es tut mir leid", sage ich, „ich will nicht, dass so viele Leute davon wissen."
„Tja... mir kannst du aber alles erzählen... alles... und wenn du wissen willst, was ich am Wochenende rausgefunden hab... tja... dann musst du halt warten, weil ich... ich hab jetzt auch keine Zeit. Ich hab nämlich gerade selbst auch was am Laufen. Tschüss!" Mit diesen Worten legt er einfach auf. Als das Freizeichen ertönt, kann ich es zuerst gar nicht fassen. Völlig perplex starre ich das Handy an. Pietro verhält sich wie einkleines, trotziges Kind oder viel mehr eine zickige, pubertierende Göre. Gleichzeitig wüsste ich nur zu gerne, weshalb er versucht hat, mich anzurufen. Was hat er herausgefunden?
Ich versuche, ihn zurück zu rufen. Gleich mehrmals sogar, aber er nimmt nicht mehr ab. Die ersten Male drückt er mich noch weg. Danach hat er das Handy wohl ausgeschaltet, denn ich komme nicht mehr durch. Frustriert lege ich mich aufs Bett, nur um gleich darauf wieder aufzustehen. Wie einverrückt gewordener Tiger laufe ich in meinem Zimmer auf und ab. Zu gerne hätte ich gewusst, was Pietro mir eigentlich erzählen wollte, doch nun werde ich das erst einmal nicht erfahren.
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