25. Zugfahrt ins Ungewisse (1)
Am Freitagabend des ersten Maiwochenendes lerne ich bis spät in die Nacht. Dann packe ich einen Rucksack mit Sandwiches, Sonnenbrille, Wechselkleidung, Zahnbürste, genug Geld und einem aufklappbaren Taschenmesser. Für den nächsten Morgen lege ich mir eine schwarze Stoffhose und ein ebenfalls schwarzes T-Shirt plus Kapuzenpulli heraus. Zunächst einmal wird bequeme Kleidung ja wohl von Nutzen sein.
Am Samstag klingelt mein Wecker bereits um vier. Obwohl ich eine absolute Frühaufsteherin bin und auch am Wochenende niemals länger als bis acht Uhr im Bett liegen bleibe, verfluche ich diese Uhrzeit. Für einen Moment erwacht in mir der Drang, einfach auf die Snooze-Taste des Weckers zu drücken und mich umzudrehen, damit ich für fünf weitere Minuten schlafen kann. Aber dann erinnere ich mich an das, was ich an diesem Tag vorhabe. Sofort bin ich hellwach und setze mich kerzengerade in meinem Bett auf.
Schnell schlüpfe ich in meine Kleidung und schnappe meinen Rucksack. Im Treppenhaus mache ich kein Licht an. Stattdessen leuchte ich mit meiner Handytaschenlampe den Weg. Ich will weder Mum noch Kate aufwecken. Ich habe ihnen erzählt, dass ich das Wochenende bei Stella verbringen werde, um mit ihr meinen Powerlernplan durchzuziehen. Ungern würde ich erklären, warum ich schon nachts um vier zu ihr aufbreche.
Ich putze leise meine Zähne und schnappe mir in der Küche eine Banane, die ich mir zwischen die Wangen schiebe. Aus dem Keller hole ich mein Fahrrad. Als ich es die Treppe hinauf trage, verliere ich auf einer Stufe kurz das Gleichgewicht und taumele damit gegen die Wand. Beinahe wäre mir das Fahrrad aus den Händen gerutscht, doch ich festige meinen Griff und kann es gerade noch so halten. Schweiß bricht auf meiner Stirn aus und ich bete, dass mich niemand gehört hat. So leise es mit einem Fahrrad in den Armen eben möglich ist, manövriere ich es die Stufen hinauf und durch den Flur nach draußen.
Erst als die milde Nachtluft in meine Lungen strömt, beruhigt sich mein Herzschlag. Erleichtert atme ich aus. Bis hierhin hat zumindest schon mal alles geklappt. Ich schwinge mich auf den Sattel und fahre los.
Zu so früher Stunde ist so gut wie niemand unterwegs, weshalb ich mitten auf der Straße fahre. Nur ein paar Mal kommt mir ein Auto entgegen oder überholt mich. Die meisten Menschen schlafen schon oder noch um diese Uhrzeit. Die ersten Pendler werden sich vermutlich erst in ein paar Stunden in ihre Autos setzen. Die verlassene, im Licht des abnehmenden Mondes vor mir liegende, grau-weiße Landschaft wirkt trostlos und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich am liebsten wieder in mein warmes Bett zurück kriechen würde, um die Decke über meinen Kopf zu ziehen und all das hier zu vergessen.
Das ungute, flaue Gefühl in meiner Magengegend verstärkt sich. Ich kann spüren wie mein Puls durch meinen Körper jagt. Obwohl ich mitten auf der Straße fahre, schließe ich meine Augen für einen Moment und atme tief ein. Mit aller Kraft ziehe ich die frische Luft durch meine Nase in die Lungen. Egal, was heute passiert, es wird mich einen Schritt weiter nach vorn bringen. Ich werde nicht länger das Gefühl haben, auf der Stelle zu treten, so wie in den letzten Monaten. Endlich wird mein Leben weiter gehen.
Schließlich erreiche ich den Bahnhof in Grosseto. Das Fahrrad verstecke ich in einem Busch in der Nähe. Ich habe Angst, dass jemand es entdeckt und hinter das kommt, was ich vorhabe. Dabei weiß ich selbst, dass dieser Gedanke absolut idiotisch ist. Trotzdem kann es ja nicht schaden, vorsichtig zu sein.
Am Gleis warten außer mir noch zwei andere Leute auf den Zug. Ein älterer, etwas zerstreut wirkender Herr mit schmuddeliger Kleidung und ein junger Mann im Anzug. Über diesen Widerspruch muss ich schmunzeln. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Die beiden Männer schenken mir keinerlei Beachtung. Der Jüngere von ihnen ist mit seinem Handy beschäftigt, während der Ältere stumpf vor sich hinstarrt.
Der Zug fährt pünktlich auf dem Gleis ein, gerade als die ersten Sonnenstrahlen auf die Schienen fallen. Ich steige zusammen mit dem jungen Mann im Anzug in das hintere Abteil des Zuges. Er trägt Kopfhörer und murmelt vor sich hin, als würde er telefonieren und jemandem Anweisungen geben. Ich überlege, ob er zu den Cinquenti gehören könnte oder ein Mitglied des Geheimbundes ist. Nur eine Sekunde später schüttele ich über diesen Gedanken den Kopf. So misstrauisch bin ich nun also schon geworden. Vermutlich ist er einfach nur ein Mann, der von Grosseto nach Siena mit dem ersten Zug zur Arbeit fährt.
Suchend durchkämme ich das Abteil. Um diese Uhrzeit sind noch nicht viele Menschen unterwegs. Die meisten sehen aus, als ob sie zur Arbeit müssten. Viele sind schick angezogen oder tragen Arbeiterkleidung.
Auf einem einsamen Platz entdecke ich Lucca. Gedankenverloren schaut er aus dem Fenster. So wie ich ist er ganz in schwarz gekleidet. Über seinen Schultern liegt seine dunkle Lederjacke. Der Diamantanstecker in seinem linken Ohrläppchen fehlt. Außerdem ist sein Haar kürzer als bei unserer letzten Begegnung. Mit dieser Frisur sieht er ziemlich gut aus und rasiert hat er sich außerdem. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, einfach die Hand auszustrecken und seine Haarspitzen zu berühren oder über seine glatten Wangen zustreichen.
Da wendet er den Blick von dem Fenster ab und mir zu. Als er mich sieht, lächelt er und ich merke, wie mein Herz vor Aufregung ein bisschen schneller schlägt. Warum ist mir vorher nicht aufgefallen, dass er so gut aussehen kann? Hat das alles nur mit seiner neuen Frisur zu tun?
„Guten Morgen", sagt er und deutet auf den Platz neben sich als Zeichen, dass ich mich hinsetzen soll.
„Hey", antworte ich und gleite vorsichtig auf den freien Platz. Meine Knie sind etwas zittrig. Ich schiebe das flaue Gefühl auf meinen leeren Magen. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen oder tun soll, deshalb stelle ich meinen Rucksack auf dem Boden ab. Nervös verschränke ich die Arme vor der Brust.
Währenddessen sieht Lucca mich nur lächelnd, aber schweigend von der Seite an. Ich fühle mich wie ein Trottel. „Also möchtest du mir vielleicht verraten, warum wir heute den Zug nach Siena nehmen?", fragt Lucca und lächelt mich dabei an. Im ersten Moment bin ich, erleichtert darüber, dass es uns nun doch gelungen ist, ein normales Gespräch zu starten.
„Wir fahren kreuz und quer durchs Land bis zu unserem Ziel", erkläre ich Lucca, „ich habe mal einen Plan gemacht." Ich krame in meiner Jackentasche und falte einen Zettel auseinander, auf dem ich Zugverbindungen aufgeschrieben habe, mit denen wir gegen Abend in Mailand ankommen werden. Von Siena geht es weiter nach Florenz, über Florenz dann nach Bologna und von dort aus schließlich nach Mailand.
„Okay", entgegnet Lucca lahm, „warum fahren wir nicht direkt?"
„Falls uns jemand folgt, können wir sie abschütteln. Außerdem sind die Schnellzüge zu teuer", antwortet ich.
„Und in Mailand?", fragt Lucca.
„Suchen wir Antonio Toscani und fragen ihn nach seiner Verbindung zum Geheimbund."
„Clever", meint Lucca. Dabei lächelt er breit. Er wirkt viel gesünder als bei unserem letzten Zusammentreffen. Wie ausgetauscht. Für einen Moment sitzen wir wieder in einem unangenehmen Schweigen nebeneinander.
„Kaffee?", fragt Lucca schließlich und hält mir eine Thermoskanne unter die Nase. Ich nicke, obwohl ich nicht das Gefühl habe, Kaffee zu brauchen, um wach zu werden. Mein Herz rast auch so schon und ich stehe unter Hochspannung. Trotzdem nehme ich die schwarze Brühe, die er in eine Tasse schüttet, gerne an.
„Wie geht es dir sonst?", fragt er.
„Gut", antworte ich, „und dir?"
„Ebenso." Er lächelt.
„Du siehst auch besser aus", gebe ich zu.
„Das will ich doch meinen", sagt er grinsend und fährt mit einer Hand über sein Haar, „und wie hast du die Prüfungen und die Feierei verkraftet?"
„Ganz gut." Ich lächele nervös. Noch immer weiß ich nicht, was ich sagen soll. Was ist denn bloß los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so um Worte verlegen.
„Ja, und was hast du so gemacht? Weiter für Falcini spioniert?", frage ich ihn, nur um etwas gesagt zu haben. Eigentlich wollte ich das scherzhaft rüber bringen, aber einen Moment später wird mir bewusst, dass das vermutlich genau das trifft, was Lucca in den letzten Wochen getan hat.
Er stockt kurz und das Lächeln auf seinem Gesicht erstirbt. Am liebsten hätte ich meine Worte zurück genommen, doch das geht leider nicht.
„Nicht ganz", seufzt er, „unser Unterricht für den April ist ausgefallen. Falcini hat uns abgesagt. Warum weiß ich nicht. Sonst habe ich mich viel um meine Mutter gekümmert. Seit letzter Woche ist sie wieder im Krankenhaus, was auch ganz gut ist, denke ich." Es ist, als hätte ich einen Redeschwall bei ihm ausgelöst. Die Worte sprudeln einfach so aus ihm heraus. Ich frage mich, ob ich die erste und einzige Person bin, der er davon erzählen kann.
„Und dann sind da ja auch noch meine Brüder", fährt er fort, „Serafino und Ludo machen mir Sorgen. Auf Anraten Falcinis ist Ludo kurz vor der Matura von der Schule abgegangen und auch Serafino hat die Schule geschmissen. Ich wollte die beiden davon abhalten, aber es scheint Falcinis Wille zu sein, dass die beiden ihren Abschluss nicht machen, deshalb habe ich mich nicht getraut, zu viel dagegen zu sagen." Lucca sieht so aus, als würde ihm das besonders Bedenken bereiten. Ich weiß, wie viel ihm seine jüngeren Brüder bedeuten. Er tut mir leid und obwohl er so viel besser und glücklicher wirkt als bei unserem letzten Treffen, legt sich ein Schatten über sein Gesicht.
„Weißt du, wenn es um meine Brüder geht, dann hört meine Toleranz echt auf. Ich durfte wenigstens den Schulabschluss noch machen. Falcini hat mir dann nur verwehrt zu studieren. Aber meinen Brüdern versaut er damit ihr ganzes Leben."
„Oh man, Lucca, das tut mir total leid", sage ich. Die Worte klingen lahm in meinen Ohren. Damit kann ich ihm nicht helfen, das weiß ich genau. Doch er zuckt nur mit den Schultern, als versuchte er all die negativen Gedanken damit abzuschütteln und grinst mich dann an. Wie kann er nur so lächeln bei all dem, was bei ihm zu Hause abgeht?
„Das ist nun mal so", meint er, „aber mir geht es gut, mach dir da mal keine Sorgen!"
„Naja, schon ein bisschen." Erst nachdem ich das ausgesprochen habe, stelle ich fest, dass es stimmt. Ich mache mir Sorgen um ihn.
„Bei deiner Familie war ja auch ne Menge los in letzter Zeit", entgegnet er, so als wollte er damit von sich selbst ablenken.
„Das geht ja noch. Meine Mutter hat halt einen neuen Stecher, aber sonst ist nicht viel los."
„Ihr neuer Stecher." Lucca gluckst über meine Wortwahl. „Denkst du nicht, dass das ein bisschen hart ausgedrückt ist?" Mit fast schon ernsthaft gerunzelter Stirn sieht er mich von der Seite an. Daraufhin verdrehe ich die Augen. Es ärgert mich, dass er auf der Seite meiner Mutter steht. Manchmal frage ich mich, wie man so viel Verständnis für andere aufbringen kann.
„Dir ist klar, dass du heute vielleicht deinen Vater zum ersten Mal nach dreizehn Jahren wiedersehen könntest, oder?", fragt Lucca.
Ich schlucke. Das Herz rutscht mir in die Hose. Klar, diesen Gedanken hatte ich auch schon. Aber noch weiß ich ja gar nicht, ob es sich bei Toscani überhaupt um meinen Vater handelt, auch wenn ich es für sehr wahrscheinlich halte, dass er derjenige ist, den ich suche. Wie wird es sein, ihm gegenüber zu stehen? Wird er mich erkennen? Und falls ja, wie wird er reagieren? Wird er sich entschuldigen, in Tränen ausbrechen oder noch schlimmer, so tun, als würde er mich gar nicht kennen? Hat er tatsächlich die Seiten gewechselt und unterstützt nun Falcini Senior oder muss ich nichts vor ihm befürchten?
„Ich weiß", antworte ich, „und dafür brauche ich dich. Falls er wirklich auf die Seite von Professor Falcini übergewechselt ist, dann musst du mit ihm reden."
Für einen kurzen Moment huscht ein Ausdruck der Enttäuschung über Luccas Gesicht. Das Leuchten in seinen Augen wird dunkler und er atmet tief ein. „Weil ich ein Cinquenti bin", stellt er trocken fest.
Ich nicke und fühle mich gleichzeitig schlecht. Trotzdem erkläre ich ihm, was ich vorhabe. „Zuerst möchte ich mit ihm reden und abtasten, was und wie viel er weiß. Wenn er tatsächlich auf der Seite der Cinquenti steht, dann musst du mit ihm reden und falls nicht, mache ich das."
Daraufhin nickt Lucca nur. Er rückt ein Stück von mir fort, so als könnte er meine Nähe nicht ertragen. Ich schaffe es fast nicht, ihm in die Augen zu schauen, doch ich zwinge mich dazu. „Ich würde diese Reise mit niemand anderem machen wollen", sage ich langsam, „wenn er wirklich mein Vater ist, ganz egal, auf welcher Seite er nun stehen sollte, dann will ich, dass du bei mir bist." Diese Worte klingen nur weit entfernt in meinen Ohren, obwohl ich diejenige bin, die sie ausspricht. Noch immer schlägt mein Herz laut und schnell.
Ganz langsam breitet sich wieder ein Lächeln auf Luccas Mund und in seinen Augen aus. „Ich bin gerne auf dieser Reise bei dir", sagt er. Da muss auch ich lächeln. Dass Lucca da ist, tut mir gut. Es ist, als würde ich mit ihm an meiner Seite meine Probleme aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Sie sind auf einmal nicht mehr der Berg, den ich erklimmen soll, sondern ich stehe auf dem Gipfel und blicke von oben auf sie herab.
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