20. Das Wiedersehen (2)
Im ersten Moment denke ich, meine verkaterten Augen spielen mir einen Streich, doch als er lächelt, erkenne ich, dass es sich bei dem Spaziergänger tatsächlich um Lucca handelt. Niemand lächelt so wie Lucca. Wenn er sich freut, dann erkennt man das an seinem ganzen Gesicht und seine Augen strahlen so sehr, dass ich nicht anders kann, als das Lächeln zu erwidern.
Lucca trägt eine Lederjacke und eine Mütze, unter der seine Haarspitzen hervorlugen. Noch immer sind seine Wangen von einem dichten Bart überzogen, aber er wirkt nicht mehr so blass wie bei unserer letzten Begegnung. Auch die Schatten unter seinen Augen scheinen nicht mehr so dunkel und tief zu sein. „Hi", begrüßt er mich und kommt ein paar Schritte auf mich zu, woraufhin ich instiktiv zurück weiche.
Giacomo hat mir so sehr verinnerlicht, dass die Cinqueni meine Feinde sind. Nun fällt es mir schwer, diesen Gedanken abzuschütteln. „Komm mir nicht zu nahe!", zische ich ihm zu. Das Lächeln auf Luccas Gesicht erstirbt und er legt die Stirn in Falten.
„Du musst keine Angst vor mir haben", sagt er, zieht er sich die Mütze vom Kopf und streicht seine Haare hinter die Ohren. Zuerst begreife ich nicht, worauf er hinaus möchte. Irgendetwas an ihm ist anders, doch ich kann nicht erkennen was. Dann bemerke ich, dass er seinen Ohrring nicht trägt. Der Diamant, der ihm die Macht über das fünfte Element verleiht, fehlt. Dadurch wirkt er ein bisschen mehr wie er selbst.
„Du... du kannst ihn ausziehen?", wundere ich mich.
„Ja... ja das kann ich", gesteht Lucca.
„Warum?" Fragend lege ich die Stirn in Falten. Wenn Lucca den Ohrring ausziehen kann, bedeutet das dann auch, dass er sich gegen die Macht Falcinis wehren kann?
„Ich weiß es nicht", gesteht Lucca, „aber ich habe eine Vermutung."
„Die da wäre?" Vorsichtig trete ich einen Schritt auf ihn zu. Ich weiß nicht, ob das, was ich gerade tue so klug ist. Vielleicht sollte ich mich lieber umdrehen und davonlaufen so lange ich es noch kann. Aber um das zu tun, bin ich viel zu neugierig. Ich will unbedingt wissen, wie es Lucca in den letzten Monaten ergangen ist.
Er seufzt. „Das ist eine längere Geschichte." Trotz des kalten Windes, der uns in die Gesichter peitscht, errötet er leicht. Nervös fährt er sich mit den Fingern durch die langen Strähnen.
„Gut, ich habe Zeit." Diese Worte stolpern einfach so aus meinem Mund. Herausfordernd sehe ich Lucca an. Er erwidert meinen Blick ohne nur ein einziges Mal zu blinzeln. Der Wind reißt an unseren Kleidern.
„Okay", entgegnet er. Damit hätte wohl keiner von uns beiden gerechnet. Für einen kurzen Augenblick stehen wir nur schweigend nebeneinander. Dann deutet Lucca fragend auf eine verlassene Strandhütte mit bereits verblassendem Anstrich. Ich verstehe, was er von mir wissen möchte, ohne dass er auch nur ein Wort sagen muss und nicke.
Gemeinsam nehmen wir hinter der verlassenen Hütte im Sand Platz. Zum Glück kann ich endlich sitzen. Noch immer sind meine Beine schwach und wackelig. Im Sitzen beruhigt sich auch mein dröhnender Kopf ein bisschen. Außerdem sind wir hier einigermaßen windgeschützt. Trotzdem ist es noch immer ziemlich kalt, sodass ich meine Hände tief in den Jackentaschen vergrabe. Ich falte meine Beine in einem Schneidersitz übereinander und drücke mich eng gegen das Holz der Hütte, so als könnte es mir wenigstens etwas Wärme spenden. Lucca nimmt mir gegenüber Platz. Er zieht sich die Mütze wieder über den Kopf und steckt seine Hände ebenfalls in die Jackentaschen.
„Dann schieß mal los!", fordere ich ihn auf. Noch immer kommt es mir so unwirklich vor, dass wir tatsächlich voreinander sitzen. Meine Augen kleben in angespannter Erwartung an Luccas Lippen. Er atmet einmal tief ein.
„Wieso fange ich nicht ganz am Anfang an? Vielleicht sollte ich noch in Schottland beginnen." Als er Schottland erwähnt, rutscht mir das Herz in die Hose, denn ich muss daran denken, wie er mich damals zum Abschied geküsst hat. Doch Lucca geht nicht weiter darauf ein, sondern zuckt nur mit den Schultern, als wollte er diese Erinnerung abschütteln.
„Nachdem ihr weg gefahren seid, bin ich zurück ins Schloss gegangen. Falcini kam mit Verstärkung. Ich glaube, er hat geahnt, dass wir uns gegen ihn gewandt haben. Zuerst haben wir versucht, zu kämpfen, doch es war zwecklos. Er hat uns außer Gefecht gesetzt. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist dass ich in einem Raum wieder wach geworden bin. Es war absolut dunkel und still. Ich weiß nicht, ich dachte erst, ich wäre blind und taub. Wie lange ich dort gefangen war, kann ich nicht sagen, aber es kann nicht länger als ein paar Tage gewesen sein, wenn überhaupt. Als Falcini mich schließlich dort raus geholt hat, war ich schwach und vollkommen desorientiert. Dann hat er mich in eine Zelle gebracht."
Während Lucca redet, schaudert es mich. Ich mag und kann mir gar nicht vorstellen, wie es ihm ergangen sein muss. Lucca redet jedoch, als würde ihn das alles nichts angehen. Seine Stimme klingt beinahe schon sachlich und distanziert.
„Nach ein paar Tagen oder Wochen, keine Ahnung, besuchte mich Falcini zum ersten Mal. Das absurde daran war, er war nicht mal wütend, eigentlich fast schon väterlich. Er sagte, er würde mich nach Florenz schicken, weil ich dort eine wichtige Aufgabe für ihn erledigen sollte."
„Was für eine Aufgabe? Und er hat gar keine Magie gegen dich eingesetzt?", will ich wissen.
Lucca lacht bitter. Es klingt jedoch nicht wie ein Lachen, sondern wie ein Hilfeschrei und trieft nur so vor Verzweiflung. „Bis zu dem Zeitpunkt hat er tatsächlich keine Magie verwendet. Manchmal muss man keine Magie gegen Menschen einsetzen, um sie zu brechen. Ich meine, ich habe kaum etwas zu essen oder trinken bekommen und war eingesperrt. Das reicht für viele schon. In meinem Fall hat er es aber trotzdem mit Magie probiert. Bevor er mich nach Florenz schickte, brach er in meinen Kopf ein und konnte jeden meiner bisherigen Gedanken sehen und jedes Mal, wenn ich etwas getan oder gedacht habe, das ihm nicht gefiel, ließ er mich das spüren. Es war beinahe, als würde ich mentale Schmerzen erleiden. Es war wirklich nicht schön. Als er damit fertig war, schickte er mich nach Florenz."
„Und in Florenz, was war da deine Aufgabe?", will ich wissen.
„Ich sollte in ein Antiquariat einbrechen und ein Buch für ihn stehlen. Irgendetwas über einen Alchemisten aus dem achtzehnten Jahrhundert. So genau habe ich mir das nicht angeschaut. Es war keine große Sache, wirklich nicht. Und was Falcini mit dem Buch vorhat, weiß wohl nur er selbst." Lucca seufzt. Sein Blick wird glasig und er starrt leer in die Ferne.
„Warum hast du da mitgemacht?", frage ich und versuche die Enttäuschung herunterzuschlucken, die in meiner Kehle aufsteigt.
„Als hätte ich eine Wahl gehabt", schnaubt er und zum ersten Mal, seit wir uns hingesetzt haben, wirkt er ein bisschen verärgert, „wenn ich den Ohrring trage, kann Falcini mich vollkommen kontrollieren. Meine Gedanken und meine Taten." Wieder läuft ein eiskalter Schauer über meinen Rücken, der bestimmt nichts mit dem reißenden Wind zu tun hat. Am liebsten hätte ich meine Hand ausgestreckt, Lucca zu mir gezogen und ihn ganz fest in den Arm genommen. Doch stattdessen kralle ich meine Finger in den Stoff meiner Jackentasche.
„Nachdem ich das Buch geklaut habe, hat Falcini mich als Lehrling in einen Blumenladen gesteckt und die Arbeit dort machte mir tatsächlich Spaß. Sie hatte ein bisschen was mit meinem Beruf als Gärtner zu tun. Ich begann mich endlich wieder normal zu fühlen. Und dann, kurz vor Weihnachten, kamst du auf einmal in den Laden. Ich habe mich so gefreut, dich zu sehen, aber ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Deshalb bin ich abgehauen. Ich hatte einfach Angst, Falcini könnte wieder in meine Gedanken einbrechen und dich dort erkennen."
Ich atme scharf ein. Jetzt macht es auf einmal auch Sinn, dass Lucca damals so schnell verschwunden ist. Tränen treten mir in die Augen und in dem kalten Wind zittere ich noch mehr.
„Hat Falcini mich entdeckt?", frage ich. Lucca schüttelt nur den Kopf. „Während ich mein, wie es aussah, neues Leben in Florenz begann, versuchte er immer wieder auf meinen Geist zuzugreifen und mich zu kontrollieren. Beinahe jede Nacht weckte er mich mit der Magie des fünften Elements und hielt mich stundenlang wach. In dieser Zeit übernahm er die Kontrolle über meinen Körper. Ich konnte mich nicht bewegen und es war einfach nur grässlich. Nachdem ich dich wieder gesehen hatte, wollte ich mit aller Macht vermeiden, dass Falcini davon erfuhr. Und bevor er mich in der Nacht wecken konnte, habe ich aus lauter Verzweiflung versucht, meinen Ohrring abzunehmen. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass es funktioniert, aber es hat geklappt."
„Hat Falcini das nicht gemerkt?", hake ich erstaunt nach. Das kann ich mir eigentlich kaum vorstellen. Dass Lucca seinen Ohrring ausziehen kann, klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein. Daraufhin schüttelt Lucca nur erneut mit dem Kopf. „Ich weiß nicht warum. Fakt ist bloß, dass er keine Macht über mich hat, wenn ich den Ohrring nicht trage und ich umgekehrt auch keine Macht über das fünfte Element habe."
„Warum hast du nicht versucht zu fliehen?"
„Ich wusste doch nicht, Falcini mit meiner Familie gemacht hat. Und mit meinen Freunden." Luccas Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Seine Miene verdunkelt sich noch mehr und Schatten huschen über seine Züge.
„Und weißt du es jetzt?" Auch ich flüstere nur noch, während Lucca langsam nickt.
„Die anderen Cinquenti hat Falcini genauso behandelt wie mich. Bloß dass er bei ihnen erfolgreicher war. Ich habe sie erst an Silvester wieder gesehen und da war es für jeden von ihnen schon zu spät."
„Warum konntest du nun deinen Ohrring abnehmen und sie nicht?" Ich lasse nicht locker. Lucca hat schließlich gesagt, er habe eine Vermutung, woran das liege. Auf meine Frage zuckt er nur mit den Schultern. Wieder errötet er, während er mit den Händen im Sand herumspielt. Fast als wäre ihm etwas unangenehm.
„Ich hatte solche Angst um dich. Ich wollte dich einfach nicht verlieren, wenn Falcini sieht, dass ich mit dir gesprochen habe. Ich war richtig verzweifelt und ich glaube nicht, dass es in dem Leben der anderen Cinquenti eine Person gibt, für die sie so empfinden wie ich für dich. Vielleicht können sie deshalb nicht ihre Ohrringe abnehmen. Und ich kann es. Wegen dir." Die bohrenden Kopfschmerzen hinter meinen Schläfen spüre ich für einen Moment nur noch stärker. Meine Ohren rauschen und mir wird wieder übel. Ich weiß nicht, ob ich möchte, dass Lucca weiter redet oder lieber schweigt.
Langsam hebt er den Kopf und sieht mich eindringlich an, woraufhin ich mich abwende. Ich meine aus den Augenwinkeln zu bemerken, wie er traurig lächelt. „Darüber müssen wir auch nicht sprechen, wenn du nicht magst", gibt er zu, „ich dachte nur, du hast gefragt, da solltest du auch eine Antwort bekommen."
„Ja, ist schon klar", sage ich schnell. Nun bin ich diejenige, die mit den Fingern im kühlen Sand herumpuhlt. Die Körner sammeln sich unter meinen Fingernägeln und drücken auf meine Haut. Was bringt es ihm, mir diese Gefühle jetzt zu gestehen? Trotzdem rechne ich es ihm hoch an, dass er so ehrlich zu mir ist. Gleichzeitig will es aber nicht so ganz in meinen Kopf hinein, dass es Lucca nur meinetwegen gelungen sein soll, dem fünften Element und Falcini zu widerstehen.
„Was ist dann geschehen? An Silvester meine ich?", frage ich, um vom Thema abzulenken.
„Bereits eine Woche vorher, also an Weihnachten, hat Falcini mich aus Florenz abgezogen. Meiner Mutter ging es nicht gut. Sie hatte versucht, sich umzubringen und war in der Psychiatrie."
„Was?", frage ich entsetzt. Luccas Mutter habe ich bisher nicht oft gesehen und sie hat auf mich nie den Eindruck gemacht, als ob sie psychisch krank sei. Da muss ich auf einmal wieder an das denken, was Philippe zu mir gesagt hatte. Die erste Generation der Cinquenti sei anfälliger für körperliche, sowie für psychische Erkrankungen.
„Ja, seit dem benutzt Falcini sie als zusätzliches Druckmittel gegen uns. Wenn wir nicht das machen, was er sagt, bekommt sie nicht die Behandlung, die sie braucht. Er hat schon oft einfach mal ihre Tabletten gegen Placebos ausgetauscht und zugesehen, wie es ihr immer schlechter ging. Zusätzlich bedroht er ihre Therapeuten. Aber eigentlich müsste er das gar nicht. Meine Brüder zum Beispiel sind ihm und seiner Idee vollkommen verfallen. Manchmal sind sie wie willenlose Marionetten, aber das ist nicht das Schlimmste. Es gibt Momente, in denen sie wirklich und wahrhaftig an seine Ziele glauben. Nur in diesen Momenten dürfen sie dann sie selbst sein."
„Aber fällt das nicht auf, wenn du da nicht mitmachst?", frage ich.
„Ich mache mit. Zumindest dem Schein nach. Falcini ist wohl durch das fünfte Element so sehr geblendet, dass er nicht erkennt, ob ihm jemand etwas vorspielt oder nicht."
„Und jetzt?"
„Jetzt weiß ich nicht mehr weiter." Lucca stemmt sich auf seine Beine. Langsam läuft er vor mir auf und ab. Dabei lässt er seinen Blick in die Ferne schweifen.
„Er hat uns voneinander getrennt. Ich weiß nicht, wo die anderen sich gerade aufhalten. Ich durfte als Einziger nach Hause zu meiner Mutter zurückkehren. Einmal im Monat sehe ich die anderen, wenn wir Unterricht zur Kontrolle über das fünfte Element haben und Falcini uns zum Hauptquartier holt. Im März hat er Emma und mich zu den Ruinen geschickt. Ich wusste vorher nicht, dass sie auch kommt und habe sie an diesem Tag auch zuletzt gesehen." Ich schlucke. Falcini holt die Cinquenti einmal im Monat zu sich. Ein bisschen klingt das wie unser Unterricht bei Giacomo. Vater und Sohn kämpfen mit derselben Taktik gegeneinander. Beide schicken jemand anderen vor, der den Kampf für sie austrägt. Falcini Senior vermutlich weil es bequem ist und Falcini Junior weil er seine Fähigkeiten verloren und keine andere Wahl hat.
„Und von den anderen merkt auch niemand, wenn du den Ohrring ausziehst?", will ich wissen, woraufhin Lucca nur mit dem Kopf schüttelt.
„Ich mache das nur, wenn ich wirklich allein bin. Aber es hat eine Menge Vorteile. Seit ich entdeckt habe, dass ich das Ding ausziehen kann, geht es mir viel besser. Und ich rauche weniger." Er sieht mich schüchtern von der Seite an und legt die Stirn dabei in Falten. Fast als erwartete er ein Kompliment dafür.
Stattdessen kann ich ein Lachen nicht unterdrücken. „Dafür, dass du dich jetzt freier fühlst, lässt du dich aber ganz schön gehen", entgegne ich. Dabei hat meine Stimme fast schon einen neckenden Tonfall.
„Was soll das denn heißen?", fragt er empört.
„Naja, du hast einen ganz schönen Bart bekommen und diese Haare. Wann warst du das letzte Mal beim Frisör?" Nun lacht auch Lucca. Gespielt beleidigt sieht er mich an.
„Vielleicht gefällt mir das ja so", sagt er, „hast du dir das schon mal überlegt?"
„Als ob", entgegne ich nur.
„Na komm", meint er, steht auf, sreckt mir eine Hand entgegen und zieht mich ebenfalls auf die Beine. Gemeinsam laufen wir nebeneinander am Strand entlang. Für einen Moment verliert sich jeder von uns in den eigenen Gedanken. Noch immer fühlt es sich so unecht an, mit Lucca hier zu sein. Sorgenvoll sehe ich ihn von der Seite an. Was mache ich nur hier?
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