2. Eiszeit (1)
Glitzernd und still legen sie sich im fahlen, eintönigen Licht der Straßenlaterne auf das Kopfsteinpflaster. Die Schneeflocken. Über Nacht bedecken sie heimlich das ganze Land und verursachen dabei kaum Geräusche. Vielleicht haben sie deshalb etwas beinahe Magisches an sich. Jede von ihnen ist einzigartig. Doch die feinen Unterschiede der Schneeflocken kann man vom Fenster aus nicht erkennen. Vielmehr wirken die Eiskristalle wie flauschig weiche Wattebällchen, die in einem chaotischen Gestöber vom Himmel auf die Erde hinunter fallen. Sie verleihen der Kälte und der Dunkelheit, die draußen herrschen, etwas Friedliches und machen den sonst so grauen und eintönigen Winter zu etwas Besonderem.
Gefrorenes Wasser. Eines der vier Elemente in einem ganz anderen Zustand. Und nichts desto trotz bleibt es Wasser. Kontrollierbar für einige, ganz besondere Menschen.
Vorsichtig berühre ich die kalte Fensterscheibe. Die vier Elemente. Wie viel einfacher und sorgenfreier alles ohne sie wäre. Das Leben von meiner Schwester und mir wäre ganz normal und käme mir nicht wie irgendeine abgedrehte Geschichte vor, die sich jemand ausgedacht hat. Für einen kurzen Moment sehne ich mich nach meinem alten Leben zurück. Zurück nach damals, als alles noch anders war, als alles noch so normal erschien. Diese Zeit scheint so weit entfernt und gleichzeitig doch so nah zu sein, dass ich sie beinahe greifen kann. Ein scharfer Stich voll Melancholie durchzuckt mich.
„Brionny, was ist? Können wir jetzt weiter machen?" Seufzend wende ich mich von meinem Fenster und den Schneeflocken ab und kehre in die Realität zurück. Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Schreibtischstuhl, den ich ans Fenster geschoben habe. Ein grelles Licht von der Decke beleuchtet den Raum und erhellt Ordner, Schulbücher, Aufzeichnungen, so wie ein Durcheinander von Aufgabenblättern, die auf dem Boden verstreut liegen. Zwischen ihnen sitzt mein bester Freund Pietro Belluco. Er hat die Beine im Schneidersitz übereinander gelegt. Auf seinen Knien ruht ein Oxford Dictonary für Synonyme und mit dem Rücken lehnt er sich gegen mein Bett. Währenddessen versucht er, seinen Englischaufsatz zu bearbeiten.
„Hm ja, hab bloß nachgedacht", nuschele ich und lächele entschuldigend.
„Über die Elemente?", fragt Pietro und errät meine Gedanken sofort. Langsam nicke ich. In letzter Zeit muss ich oft an die Elemente denken. Zumindest dann, wenn ich gerade nicht mit Lernen beschäftigt bin. In knapp zwei Monaten stehen nämlich die Abschlussprüfungen an. Deshalb treffen Pietro und ich uns mindestens einmal in der Woche zum Lernen. Da Pietro grottenschlecht in Englisch ist, gebe ich ihm Nachhilfe. Englisch ist meine zweite Muttersprache und Pietro nimmt meine Verbesserungsvorschläge gerne an. Aber auch für die anderen Fächer lernen wir zusammen. Zwei Köpfe sind bekanntlich ja meist klüger als einer.
„Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst?", fügt Pietro langsam hinzu, als ich ihm nicht antworte.
„Ja, das weiß ich und dafür bin ich auch unglaublich dankbar." Mit dem Schreibtischstuhl rutsche ich vorsichtig über die lose Diele vor meinem Fenster. Sie knarrt leise und verräterisch. Fast schon ironisch, dass damals, vor ungefähr neun Monaten alles mit dieser losen Diele angefangen hat. Damals bin ich mit meiner Familie in eine Kleinstadt an der Küste der Toskana gezogen, in ein Haus, das meine Großeltern geerbt haben. Unter der losen Diele in meinem Zimmer habe ich das Tagebuch der Vorbesitzerin gefunden. Maria Vecca, Pietros Großmutter.
Anfangs fand ich es ziemlich spannend, etwas über Maria und ihr Leben zu erfahren, bis sie schließlich von den Legenden von Pergula berichtet hat, laut denen einige Menschen angeblich über die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft herrschen können. Marias Sohn, Pietros Onkel Giacomo beherrschte alle vier Elemente, weshalb dessen Vater Bernardo Falcini, der von dem geheimnisvollen fünften Element besessen ist, nach Giacomos Leben und dem aller Elementträger trachtete. Maria ist Bernardo Falcini mit ihrem Sohn damals nur knapp entkommen.
Ich habe das am Anfang als Nonsens und dumme Spinnereien abgetan, bis sich herausstellte, dass meine kleine Schwester Kate das Element Wasser beherrscht. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, ist, dass meine besten Freunde Lucca und Pietro ebenfalls in diese Geschichte verwickelt sind. Lucca ist einer der Spione Bernardo Falcinis, den Cinquenti, und Pietro kämpft mit seiner Familie und dem Geheimbund der Elemente gegen die Anhänger des fünften Elements. Allerdings haben Lucca und die Cinquenti sich gegen Falcini gestellt und wollten Kate und mich beschützen. Als Falcini herausfand, dass sich seine Spione gegen ihn gestellt hatten, versuchte er, die Kontrolle über sie zu ergreifen und Lucca konnte uns damals gerade noch so zur Flucht verhelfen.
Giacomo, der Leiter des Geheimbundes, hat uns erzählt, dass Falcini mit Hilfe des fünften Elements die Macht besitzt, den Willen seiner Untergebenen zu kontrollieren. Falls er die Cinquenti nicht für ihren Verrat tötete, so wird er sie zumindest brechen und sie werden nie wieder dieselben sein wie zuvor. Für zwei lange Monate hat es sich angefühlt, als sei Lucca an jenem Tag gestorben. Bis dann, eine Woche vor Weihnachten...
„Weißt du, manchmal frage ich mich, was aus Lucca und den anderen Cinquenti geworden ist", teile ich meinen Gedanken mit Pietro.
Daraufhin zuckt er nur mit den Schultern. Pietro konnte Lucca und dessen Freunde noch nie sonderlich gut leiden. „Mich interessiert das nicht besonders", gesteht er, „und wenn Falcini sie bestraft hat, haben sie das auch verdient."
„Wie bitte?!", platzt es aus mir heraus, „die Cinquenti haben sich doch gegen Falcini gestellt, um die Elementträger zu schützen. Sie waren auf unserer Seite. Ich finde nicht, dass sie dann eine Strafe verdient haben!" Wie immer, wenn wir über dieses Thema reden, werde ich wütend. Es ist, als würde kochendes Wasser in einem Topf brodeln, das durch darauf wartet, über den Rand zu schwappen. Ich kann nicht verstehen, warum Pietro immer noch schlecht von den Cinquenti denkt.
„Ja, du hattest schon immer was für Lucca und seine Freunde übrig", meint Pietro, „aber Brionny... denkst du nicht, dass all das jetzt schon ziemlich lange her ist? Irgendwann musst du auch mal lernen, los zu lassen."
„Das hat damit gar nichts zu tun. Sie sind keine schlechten Menschen. Sie haben nur das Pech, von Falcini benutzt worden zu sein." Kaum dass ich das gesagt habe, beiße ich mir auch schon auf die Zungenspitze. Eigentlich möchte ich nicht mit Pietro darüber diskutieren oder gar mit ihm streiten. Mir wäre es lieb, wenn wir das alles so stehen lassen könnten. Freunde müssen schließlich nicht immer einer Meinung sein.
Erneut seufze ich und wende meinen Blick wieder der dunklen Fensterscheibe zu, in der sich mein Zimmer unscharf spiegelt. Ich betrachte mein Gesicht im Fensterglas und muss feststellen, dass ich enttäuscht wirke, wenn nicht sogar erschöpft. Die dunklen Ringe unter den Augen kann ich sogar in dem verwaschenen Spiegelbild erkennen.
Wieder schweifen meine Gedanken ab und ich muss an Florenz denken, kurz vor Weihnachten. Damals dachte ich tatsächlich, ich hätte Lucca für immer verloren. Doch dann war ich mit meinem Großvater in Florenz. Dort habe ich Lucca zufällig in einem Blumenladen getroffen, in dem er arbeitete. Nachdem er mich freundlich begrüßt hat, ist er unter einem Vorwand aus dem Raum verschwunden, ohne dass ich eine Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Natürlich bin ich ihm sofort hinterher gelaufen, aber ich konnte ihn nirgends finden. Eine Woche später rief ich nochmal bei dem Blumenladen, in dem er damals gearbeitet hat, an und erkundigte mich nach ihm. Aber wo er ist, habe ich nicht erfahren. Es hieß nur, er habe gekündigt und niemand wisse, wo er jetzt sei.
Als ich dem Geheimbund erzählte, dass ich Lucca gesehen hatte, waren alle ziemlich entsetzt. „Nicht auszudenken, in welcher Gefahr du warst", hatte Giacomo damals erschrocken ausgerufen. „So etwas dürfen wir nie wieder zulassen!" Auch der Geheimbund hat daraufhin nach Lucca gesucht, aber niemand konnte ihn finden. Als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Ich weiß, es ist absolut idiotisch, aber seitdem habe ich mich manchmal gehofft, Lucca könnte auf unerwartete Weise erneut in mein Leben treten.
Ich seufze. Pietro hat Recht. Das alles ist nun schon ziemlich lange her. Manchmal ärgere ich über mich selbst, dass mein Herz so sehr an der Vergangenheit festhält und es mir unmöglich macht, weiterzuziehen. Als würde ich auf der Stelle festkleben. Ich muss Lucca endlich vergessen und ohne ihn weiterleben.
Mit einem Schwung klappt Pietro das Wörterbuch zu und reißt mich damit wieder aus meinen Gedanken. Beinahe grazil wirft er das Buch auf einen Stapel anderer Bücher, der für einen Moment wankt, schließlich umkippt und auf meine Notizen fällt. Was für ein Chaos... Zum Aufräumen werde ich bestimmt ewig brauchen. „Machen wir morgen weiter?", fragt Pietro an mich gewandt.
„Morgen habe ich keine Zeit", seufze ich, „und du auch nicht. Da ist die monatliche Versammlung des Geheimbundes und danach habe ich auch noch Unterricht bei Giacomo." Unterricht bei Giacomo. Allein wenn ich daran denke, graust es mir.
Giacomo ist davon überzeugt, dass die Cinquenti und Falcini eine große Gefahr darstellen. Auch wenn niemand mehr etwas von ihnen gehört hat – von meinem Zusammentreffen mit Lucca in Florenz mal abgesehen – geht Giacomo fest davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Cinquenti uns angreifen werden. Manchmal wünsche ich mir insgeheim sogar, dass etwas Derartiges geschehen würde. Seit einigen Wochen habe ich nun schon das Gefühl, absolut still zu stehen und keine Fortschritte mehr zu machen. Außerdem haben sich jede Menge Fragen aufgetan, die mir bisher noch niemand zufriedenstellend beantworten konnte. Was mich am meisten stört ist jedoch, dass es mir bisher noch nicht gelungen ist, meine Fähigkeit zu entdecken.
Da meine Schwester ein Element beherrscht, muss ich ebenfalls eine Elementträgerin sein. Denn Geschwister desselben Elternpaars beherrschen immer alle ausnahmslos ein Element. Um die Kontrolle über die Elemente zu erlernen und auf einen Angriff der Cinquenti bestens vorbereitet zu sein, nehmen wir bei Giacomos Kindern, Alessia und Philippe, die ebenfalls Elementträger sind, einmal die Woche Unterricht. Alle zwei Wochen kommt Giacomo dazu und gibt uns zusätzliche hilfreiche Tipps. Da morgen die Monatsversammlung des Geheimbundes stattfindet, hält Giacomo es für eine gute Idee, diese beiden Termine miteinander zu verknüpfen.
Kate macht große Fortschritte, aber ich langweile mich dabei meist nur. Bei mir hat sich die Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element bis jetzt noch nicht gezeigt. Laut Giacomo sollte es aber nicht mehr lange dauern, bis ich meine Fähigkeit entdecke.
„Gibt es immer noch nichts Neues?", fragt Pietro, „ich meine wegen deiner Fähigkeit..."
„Oder meiner nicht vorhandenen Fähigkeit", korrigiere ich und seufze. „Nein. Und wenn, dann wärst du der Erste, der davon erfährt."
„Hast du denn irgendeine Idee, woran es liegen könnte?"
„Naja, die meisten Menschen, denen etwas Traumatisierendes widerfahren ist, verlieren die Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element. So wie Giacomo nach dem Tod seines jüngsten Sohnes. Er vermutet, dass es bei mir ähnlich ist, doch das kann ich eigentlich ausschließen. Und die andere Erklärung wäre, dass meine Mutter nicht immer ganz treu war und Kate und ich unterschiedliche Väter haben, aber das kann ich auch ausschließen."
„Weißt du es denn wirklich mit Sicherheit?" Pietro legt die Stirn in Falten und es wirkt beinahe so, als sei es ihm unangenehm, diese Frage zu stellen. Ich nehme es ihm jedoch nicht übel und schüttele nur den Kopf. Unser Vater hat uns verlassen, als wir noch kleine Kinder waren. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen und folglich haben wir auch keinen Kontakt zu ihm. Doch bevor Pietro und ich uns noch mehr Gedanken darüber machen können, ertönt auch schon die verzweifelte Stimme meiner Mutter. „Brionny... Hilfe!"
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