12. Das Versteck (2)
Als diese Worte auf dem Bildschirm aufleuchten, hätte ich mir am liebsten die Haare gerauft. Das unwohle Gefühl in meinem Magen klettert meine Speiseröhre hinauf. Das kann doch nicht sein! Genau das sind die ersten Worte von Marias Tagebuch. Was soll das?
Wütend wische ich mit den Fingern über mein Handy und schaue mir alle Fotos von Marias Tagebuch an. Welche ersten Worte sind denn sonst gemeint? Da fällt mein Blick auf die Notiz, die Maria an den Anfang des Tagebuchs geheftet hat.
An den Finder, behandle dieses Buch mit Vorsicht, denn wenn du es liest, wirst du meine sehnlichsten Herzenswünsche, meine tiefsten Gedanken und meine gut gehüteten Geheimnisse kennenlernen. Erfahre etwas über die Legenden, die Ruinen, die Elemente und jene, die sie missbrauchen. Dieses Buch birgt Gefahren und bringt Wissen. Wie du mit dem, was du lernst, umgehst, steht allein in deiner Entscheidung. Doch höre auf meinen Rat: halte dich an den Weg des Guten. Liebe hilft zu erkennen, aber sie macht auch blind.
Das sind sie, die ersten Worte, die ich jemals von Maria gelesen habe. Noch vor dem Tagebuch. Mit klopfendem Herzen tippe ich sie in den Safe ein. An den Finder, behandle...
Ich halte den Atem an und muss mich dazu zwingen, die Augen nicht zu schließen. Die nächsten Sekunden kommen mir vor wie eine Ewigkeit, während ich auf jenes fatale Piepen warte, das einen falschen Pin signalisiert. Doch stattdessen. Klack.
Die Tür des Safes springt auf. „Ich hab's!", rufe ich begeistert und drehe mich wieder zu Kate und Lucca um. Selbst von der Entfernung und in dem schwachen Licht kann ich deutlich erkennen, dass nicht nur Lucca, sondern auch meine Schwester kurz vor einem Kollaps steht. Hastig greife ich in den Safe, in dem sich eine kleine Schatulle liegt und lasse sie in meine Tasche gleiten. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass sich sonst nichts mehr in dem Safe befindet, drehe ich mich wieder zu den beiden um. „Das war's, Kate. Lass uns verschwinden", beschließe ich.
Doch Lucca schüttelt nur den Kopf. Mittlerweile zittert er so sehr, dass er Arme und Beine nicht mehr still halten kann. Nur mit Mühe und unter sichtlicher Anstrengung gelingt es ihm, die Lippen und Zunge zum Sprechen zu bewegen. „Dafür ist es jetzt zu spät", murmelt er.
Mit wenigen Schritten stehe ich vor ihm. „Was soll das heißen, zu spät?", blaffe ich ihn an, „hast du Verstärkung geholt?!"
„Emma ist auf dem Weg hierher", sagt er.
„Fick dich Lucca!" Die Worte kommen einfach so aus meinem Mund. Die Hand, mit der ich die Taschenlampe umklammere, schnellt vor. Bevor ich es merke, schmettere ich die Taschenlampe mit voller Wucht direkt in Luccas Gesicht. Er stöhnt vor Schmerz auf und geht zu Boden. Dann wird es dunkel. „Los Kate, raus hier!", rufe ich meiner Schwester zu.
Zuerst antwortet sie nicht. Blind und hektisch taste ich in der Dunkelheit, bis ich sie grob an der Schulter berühre. Ihre Haut fühlt sich kalt und schweißig an. Auch sie zittert deutlich. „Ich habe all meine Kraft aufgebraucht", stöhnt sie mit brüchiger, belegter Stimme, „ich bin mega fertig. Ich kann nicht rennen."
Genau in diesem Moment ernscheint der helle Umriss einer Tür im Steinbruch. Wenn es stimmt, was Lucca gesagt hat, dann muss das Emma sein. Kate ist so schwach, dass sie es nicht auch noch schaffen würde, es mit Emma aufzunehmen. Fluchend schicke ich mit dem Handy eine SOS-Nachricht an Pietro. Vorsichtshalber schalte ich noch das GPS an, doch ich bezweifle, dass wir hier überhaupt geortet werden können. Schließlich ist das hier ja ein magischer, geheimer Ort.
Dann schnappe ich meine Schwester und schleife sie tiefer in den Raum. „Hierhin", raune ich und deutet auf einen Bücherstapel direkt vor der Wand. Zwischen den Büchern und der Wand ist so wenig Platz, dass Kate und ich uns regelrecht dort reinzwängen müssen. Als Sichtschutz schiebe ich noch weitere Bücher vor uns. Schließlich kauere ich mich neben meine Schwester. Keine Sekunde zu spät, denn im nächsten Augenblick flutet Helligkeit den Raum.
Vorsichtig schiebe ich zwei Bücher beiseite, sodass ich durch eine schmale Lücke erkennen kann, was vor sich geht, doch sonderlich viel sehe ich nicht.
„Alter, was suchst du denn hier?", donnert eine laute, den ganzen Raum einnehmende Stimme. Sie ist so tief, dass man sie gut für die Stimme eines Mannes halten könnte, doch ich weiß es besser. Sie gehört zu Emma, einer Freundin von Lucca und ebenfalls Mitglied der Cinquenti. Letztes Jahr im Herbst hat sie Kate mit Hilfe des fünften Elements das Leben gerettet. Doch ich bezweifle, dass sie das nun immer noch tun würde.
„Ich bin hier im Auftrag von Falcini", erklärt Lucca, der augenscheinlich wieder zu sich gekommen ist, „ich soll etwas für ihn besorgen. Die Macht der Artefakte. Das ist ein Buch, das Simone Belluco geschrieben hat. Was willst du hier?"
„Dasselbe", raunt Emma.
„Warum stellt er uns beide für so einen zweitklassigen Botengang ab?", fragt Lucca und er klingt sichtlich verwirrt.
„Ach ja? Zweitklassiger Botengang?", schnaubt Emma, „was hättest du gemacht, wenn die Petersonschwestern aufgetaucht wären?" Ich halte die Luft an. In meiner Brust schlägt mein Herz so hilflos laut und schnell. Ich fühle mich zwischen dem Bücherregal und der Wand eingesperrt.
„Sind sie aber nicht", behauptet Lucca energisch. Seine Stimme ist fest und selbstsicher. „Und wenn, dann wäre ich schon mit ihnen klargekommen."
„Wärst du nicht", zischt Kate neben mir. Ich stoße sie unsanft von der Seite an. Jetzt bloß nicht zu laut sein! Vielmehr verwundert es mich jedoch, dass Lucca Emma anlügt. Warum tut er das?
„Locker. Deshalb blutet auch deine Nase", entgegnet Emma nur spöttisch.
„Sie... was?", fragt Lucca erschrocken. Plötzlich beginnt mein Herz wieder wie wild zu schlagen.
„Wie hast du das angestellt, Alter?", fragt Emma erstaunt, „sieht echt übel aus."
„Ich... äh... bin gestolpert", stammelt Lucca, „ich dachte nicht, dass es so schlimm ist."
„Okay...", antwortet Emma nur darauf. „Lass mich mal heilen." Scheinbar glaubt sie seine Geschichte sofort.
„Nein, das ist schon in Ordnung. Wirklich", wehrt Lucca ab, doch Emma lässt nicht locker.
„Mann, das blutet ziemlich. Ist doch kein Ding." Bevor Lucca noch etwas erwidern kann, spüre ich auch schon das schwache Knistern von Magie in der Luft. Das fünfte Element, nur viel schwächer als bei einem Angriff. Aus der Entfernung fühlt es sich beinahe schon angenehm an. Erneut wird mir bewusst, dass das fünfte Element eben nicht nur zerstörerisch ist, sondern dass es auch Gebrechen heilen kann.
„So, alles easy", meint Emma schließlich zufrieden. Dann ist es für einen Moment still. Schließlich meint sie. „Was ist mit dem Bild passiert?"
„Das war Marias Geheimversteck", erklärt Lucca.
„Und du hast das geknackt, du Brain?", fragt Emma sichtlich erstaunt.
„Schon", entgegnet Lucca, „und das hier war dort drin." Panisch stecke ich eine Hand in meine Tasche. Dabei fällt ein loser Stift hinaus und kullert über den Boden. Doch mir ist es egal, ob ich zu laut bin oder Emma und Lucca uns möglicherweise bemerken. Viel wichtiger ist, dass Lucca nicht die Schatulle aus dem Safe geklaut hat, bevor ich ihn k.o. geschlagen habe.
Doch da umschließen meine Finger das kleine Kästchen. Was auch immer es ist, das Lucca Emma gerade zeigt, es muss etwas anderes sein. Leider kann ich das durch den schmalen Spalt zwischen den Büchern nicht erkennen.
„Was das?", entfährt es Emma, „das Ding ist uralt, da sind ja noch Schriftzeichen drauf."
„Ich weiß nicht, was das ist", sagt Lucca, „aber Professor Falcini wird damit sicherlich etwas anfangen können."
„Ja Mann, bestimmt. Da hast du echt gute Arbeit geleistet." Wieder eine Pause. „Gibt's hier sonst noch was?"
„Nein, eigentlich nicht." Luccas Antwort kommt ein bisschen zu schnell, aber das scheint Emma gar nicht zu stören. „Na gut, du brauchst mich ja scheinbar wirklich nicht", sagt sie nur, „dann lass abziehen."
„Ja." Ich höre noch, wie die beiden im Archiv ein bisschen rumräumen. Durch die Spalten zwischen den Bücherstapeln erkenne ich, wie Lucca das Bild von den Elementträgern wieder an seinen richtigen Platz hängt. Dabei schaut er sich suchend um. Fast, als wüsste er, dass Kate und ich noch hier sind. Ich halte den Atem an, doch er macht keinerlei Anstalten, sich weiter umzusehen. Stattdessen nickt er entschlossen und atmet einmal tief ein. Dann wendet er sich ab und verlässt mit Emma das Archiv. Die beiden schließen die geheime Tür und Kate und ich bleiben alleine in der Dunkelheit zurück.
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